Tichys Einblick
Merkels Nachgeben nur Tarnen und Täuschen?

Bei Anne Will Situationsberichte von den Decks der „Titanic“ in der Nacht ihres Untergangs

Frau Will fragte, warum denn die Kanzlerin jetzt Beschlüssen zugestimmt habe, hinter denen sie selbst nicht stehe, ob denn die Kanzlerin den Lockerungsabsichten nur zugestimmt habe, um dann umso kräftiger zurückschlagen zu können. Lauterbach grinste.

Screenprint: ARD/Anne Will

„Anne Will“ gestern Abend gehört zu den Sendungen, bei denen es sich lohnt, sie unter der Rubrik „Aufbewahren für alle Zeit“ zu archivieren. Denn es war ein wenig  so, als sehe man nacheinander geschaltete Situationsberichte von den einzelnen Decks der „Titanic“ in der Nacht ihres Untergangs. Während unten bereits das Wasser in Massen in das Schiff hineinströmt, diskutieren im Zwischendeck mehr oder weniger erfahrene Bootsmänner und Nautiker noch mögliche Auswege und wird gleichzeitig im Oberdeck bei flotten Rhythmen noch mit Champagner angestoßen, und der Kapitän beruhigt zum wiederholten Male mit der Nachricht: „Kein Grund zur Panik, es handelt sich nur um kleine Haar-Risse, verursacht durch einige zu heftige Schiffsbewegungen“.

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Es war die Gastgeberin selbst, sozusagen als Sprecherin des Unterdecks, die die Frage nach den Motiven, ja der Sinnhaftigkeit des plötzlichen Meinungsumschwungs in Sachen „Lockdown“ im „Rat der Götter“, wie man die geheimnisvolle Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten wohl auch nennen könnte, stellte. Kein Mensch in Deutschland versteht nämlich, warum das, was gestern noch als zwingend galt, nämlich das starre Festhalten am Inzidenzwert 35, plötzlich nicht mehr gilt, sogar Öffnungen in Etappen möglich sein sollen. Wieder einmal sollen die Untertanen im Lande treu nickend dem Zuruf „Wir schaffen das“ folgen. Aber die machen einfach nicht mehr mit!

Bootsmann Lauterbach täuscht sich, wenn er meint, die Mehrheit trotte wie gewohnt mit. Die Wahrheit im Unterdeck ist die Erkenntnis: „Die da oben versprechen, aber liefern nicht.“ Das Vertrauen ist einfach durch Dilettantismus und Arroganz im Oberdeck zerstört worden. Richtig Mitleid konnte man in der Sendung mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) empfinden. Als einer der wenigen redlichen Politiker sah man ihm buchstäblich an, unter welchen Qualen er wortreich versuchte, dem Trauerspiel aus Berlin noch etwas Gutes abzugewinnen.

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Ein Vorteil bei „Anne Will“ war diesmal das wirklich vom Staat einigermaßen unabhängige Gäste mit dabei waren.  Pluspunkt war Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen, sonst als treuer Diener der Kanzlerin bekannt, der aber neuerdings  mit nüchterner Kühle und unaufgeregt die Wahrheit beim Namen nannte: „Totalversagen des Staates“. Wie zur Bestätigung erklärte der Corona-Guru Lauterbach, dass ihm niemand sagen könne, wie viele der Wunderwaffen „Selbsttest“ am Beginn dieser Woche zur Verfügung stehen. Wieder einmal hatte der Felix Krull der Bundesregierung, Gesundheitsminister Spahn, einfach mal eben die Zahl 500 Millionen in die Luft geblasen, sozusagen als Nachfolge-Akt des Impfdesasters.

Die Präsidentin des Hotel- und Gaststättengewerbes, Angelika Inselkammer, eine Vollblut-Unternehmerin, und die beherzte Pandemie-Beauftragte der Stadt Tübingen, Lisa Federle, zeigten beide, an was es bei der Bewältigung der Pandemie wirklich fehlt: Empathie und Leidenschaft. In dieser Bundesrepublik gibt es Millionen, die schon vielfach – jeden Tag – bewiesen haben, dass sie eigenverantwortlich für die Gemeinschaft handeln können. Im kommunikationsscheuen und unterkühlten Machtzentrum der Kanzlerin ist so etwas schlicht nicht erwünscht. Man traut niemandem und glaubt nur an sich selbst und einer handverlesenen Zahl williger Experten. Hinzu kommt beim ausführenden politischen Management die gelebte Leichtigkeit des Seins, die, und man muss es so klar sagen, immer wieder in Unfähigkeit mündet.

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Wie ratlos das Land ist, zeigte sich in Anne Wills anscheindend wirklich von innen kommender Frage, warum denn die Kanzlerin jetzt Beschlüssen zugestimmt habe, hinter denen sie selbst nicht stehe. Die schmunzelnde Antwort Lauterbachs, das müsse man sie schon selber fragen, sprach Bände. Und tatsächlich geschehen manchmal noch Wunder. Normalerweise ist es ja so, dass Frau Will eher als Mitarbeiter von Regierungssprecher Seibert auftritt. Doch nicht so gestern Abend, wenn sie mutmaßte, ob denn die Kanzlerin den Lockerungsabsichten nur zugestimmt habe, um dann umso kräftiger zurückschlagen zu können. Treuherzig schloss Lauterbach das aus.

Eine weitere Offenbarung gestern abends war die im Eifer des Gefechts vorgetragene Erkenntnis, dass die sehnsüchtig erwarteten Selbstests nur von sehr bedingter Aussagekraft wären, sozusagen die Wassermassen jetzt schon das Zwischendeck geflutet haben. Aber was soll’s? Mit dem Schlimmsten wird ja eh schon gerechnet. Lauterbachs Augen verrieten es: Der Mega-Superlockdown drohe schon im April, wenn der Inzidenzwert explodiert.

Noch eines ließ zu später Stunde aufhorchen. Die größte Infektionsgefahr, so Haseloff, lauere in den Betrieben der Großindustrie. Die Wirtschaft aber verweigere sich. Lauterbach assistierte mit der Feststellung, dass ein geplantes Spitzentreffen mit der Top-Garde der deutschen Unternehmer in der vergangenen Woche abgesagt wurde, weil die Herren nicht gleich nach Merkels Taktstock tanzen wollten. Ein Schuldiger für das unausweichliche Desaster ist also schon gefunden. Die wirklichen Rechnungen werden dem deutschen Steuerzahler und den Sozialkassen erst nach der Bundestagswahl präsentiert. Und Übeltäter Nummer 2 seien bestimmte Journalisten und Zeitungen, die unverantwortlichen Druck erzeugten. Noch Fragen? „Anne Will“ gestern Abend hat sich jedenfalls gelohnt. Ahoi.

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