Tichys Einblick
Orakel-Kanzler

Anne Will: Mutmaßen über Olaf Scholz

Drei Monate dauert der Krieg in der Ukraine nun. Und wir sind nicht mal über die Frage hinaus, was wir überhaupt wollen, wie die jüngste Folge von „Anne Will“ gezeigt hat.

Screenprint: ARD/Anne Will

Anne Will läuft bereits 26 Minuten. Die Sendung ist also fast schon zur Hälfte rum. Da stellt die Moderatorin die Frage: „Können Sie uns sagen, wie es militärisch steht?“ Die Frage richtet sich an Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr. Russland bereite sich auf eine ukrainische Gegenoffensive vor, lautet seine Antwort. Nach einer Woche, in der zuerst Bilder zu sehen waren, wie ukrainische Soldaten bis zur russischen Grenze vorgestoßen sein wollen. Und dann Bilder vom russischen Durchmarsch im Donbass. Also was denn nun? Selbst der Experte der Bundeswehr-Universität kann das nicht so richtig erklären: Es werde einen Abnutzungs- und Stellungskrieg geben, sagt er.

An Masala ist es, den charakteristischsten Satz des Abends zu sagen: „Ich verliere langsam den Überblick.“ Damit bezieht er sich auf die deutsche Kommunikation rund um den russischen Überfall auf die Ukraine. Die Publizistin Marina Weisband geht einen Schritt weiter: Die unklare Kommunikation habe dazu geführt, dass die deutsche Regierung an Vertrauen verloren habe – das gelte auch für Frankreich.

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Die Wurzel dieser Ratlosigkeit heißt Olaf Scholz. Gleich zu Beginn zeigt Will einen Einspieler mit dem Kanzler. Darin sagt er: „Die Ukraine muss bestehen“. Warum hat Scholz gesagt bestehen? Warum nicht siegen? Will er, dass die Ukraine einen Kapitulationsfrieden unterschreibt und Territorium an Russland abtritt? Auf dieser Wortklauberei beruht nahezu die ganze Folge. In der Ankündigung zur Sendung hieß es noch, es ginge um die Frage, ob die Nato Schweden und Finnland aufnehmen soll. Doch Will bleibt bei Scholz. Wochen, nachdem der Regierungschef die Richtung vorgegeben hat, ist immer noch offen, welche Richtung das überhaupt ist. Selbst den Experten bei Anne Will ist das nicht klar.

Ein beliebter Talkshowgast ist zurzeit Michael Roth. Vor zweieinhalb Jahren ist Roth gegen Scholz angetreten, als die SPD ihren Vorsitzenden wählte. Beide unterlagen gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Bei der Regierungsbildung ist der erfahrene Außenpolitiker ebenfalls leer ausgegangen. Als gehobenes Trostpflaster hat er den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss erhalten. Jetzt kommt ihm in den vielen Talkshows die Aufgabe zu, Scholz zu interpretieren, weil ihn ja mit dem Kanzler immerhin die Partei verbindet.

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Das geht so: Will trägt vor, wie viele Waffen Scholz der Ukraine versprochen hat – und wie wenig davon bisher angekommen ist. Dann will sie von Roth wissen, ob Scholz überhaupt keine Waffen liefern will. Darauf antwortet der verhinderte SPD-Vorsitzende: „Ich bin für Waffenlieferungen“, und es sei ja nicht so einfach, wie es klingt, Waffen zu liefern. Das heißt, Deutschland liefert unter Scholz nicht genug Waffen an die Ukraine, aber das will er so nicht sagen. Roth ist in der Sendung als Deuter des Orakels Scholz und orakelt dabei selber. Das mag für Rätselfans spannend sein. Oder für Fans von Akte-X-Drehbüchern. Anhänger von Klartext sind bei Weisband: Ja. Mit dieser Kommunikation verspielt die Politik allgemein und speziell die Regierung Vertrauen.

Zumal sich die Widersprüche zwischen den Aussagen Scholz’ und der Realität leicht darstellen lassen. Bei Anne Will übernimmt das Jan van Aken. Er saß für die Linken zwei Wahlperioden lang im Bundestag. Jan van Aken erinnert an die vollmundigen Ankündigungen des Kanzlers, Russland mit Sanktionen in die Knie zwingen zu wollen. 320 Millionen Euro zahlten wir an Russland. Allein für Öl. Täglich. „Das ist das Gegenteil von Sanktionen.“ Auch wenn die Zahl hochgegriffen scheint. Andererseits widerspricht ihm im Studio auch keiner, sodass die Zahl in der Welt stehen bleibt.

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Roth wiederum wird erst spät in der Sendung ehrlich und deutlich: Es sei ein schwerer Fehler gewesen, sich so von Russland abhängig gemacht zu haben. Aber vor allem: „Wir wollen uns in Fragen des Gases nicht schaden.“ Der orakelnde Orakel-Deuter sagt also: Die unbedingten Sanktionen sind bedingt und gehen nur so weit, wie es dem Land nicht schade. Dass dem so ist, hatte Weisband schon vorher in der Sendung festgestellt. Auch ohne den orakelnden Orakel-Deuter. Für die Frage, warum Deutschland so zaudere, sieht Weisband mehrere mögliche Gründe: etwa, dass Deutschland aus der Routine seiner bisherigen Russland-Politik nicht herauskomme. Und dann gäbe es vielleicht noch „Verpflichtungen“, über die sie nicht spekulieren wolle. Andererseits ist die Russland-Nähe von SPD-Spitzenpersonal wie Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier oder Manuela Schwesig auch ohne Spekulation gut dokumentiert.

Weisband fürchtet, dass der Krieg noch länger dauern und die Deutschen das Interesse daran allmählich verlieren würden. Der Vertrauensverlust, an dem das liegt, hat sie selbst dargestellt. Vertrauensverlust gegenüber einem Kanzler, der Fernsehansprachen hält, nach denen kaum einer weiß, was er eigentlich gesagt hat. Der sich so orakelhaft ausdrückt, dass eine Sendung sich eine Stunde lang um einen einzigen Satz drehen kann, ohne dabei nennenswert nach vorne zu kommen.

Runden wie die bei Anne Will werden dazu beitragen, dass die Menschen das Interesse am Krieg verlieren. Da ist der orakelnde Orakel-Deuter Roth. Er tritt gerne im Doppelpack mit Roderich Kiesewetter (CDU) auf. Der erzählt gerne, dass er mit Friedrich Merz in Kiew war – damit ist Kiesewetter dann aber auch schon zu Ende erzählt. Zusammen sind Roth und Kiesewetter bestenfalls gut für eine Demonstration, in welcher Kommunikationskrise die Politik in Deutschland steckt.

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