Tichys Einblick
Vor der Wahl in der Hauptstadt

Marcel Luthe und Thilo Sarrazin beschreiben, wie in Berlin die Politik versagt

In seinem Buch „Sanierungsfall Berlin“ beschreibt Marcel Luthe (Freie Wähler) die „Hauptstadt zwischen Missmanagement und Organisierter Kriminalität.“ Auf einer Veranstaltung mit Luthe steuerte der langjährige Finanzsenator Thilo Sarrazin seine eigenen Erfahrungen in Berlin bei. Von Michael Leh

Am 26. September wird in Berlin das Abgeordnetenhaus gewählt. Der Abgeordnete Marcel Luthe, der im Streit mit der FDP-Fraktion aus der FDP austrat, tritt jetzt zur Wahl als Spitzenkandidat der „Freien Wähler“ an. Diese liegen in Umfragen aus dem August zwischen drei und vier Prozent. In neueren Umfragen werden sie meist nur unter „Sonstige“ eingruppiert, so dass man nicht weiß, wo sie aktuell stehen könnten. Vielleicht gelingt ihnen doch noch der Einzug ins Parlament.

Der Kaufmann und Unternehmer Luthe hat sich in Berlin als fleißiger Abgeordneter einen Namen gemacht. In den vergangenen fünf Jahren stellte er hartnäckig zahlreiche parlamentarische Anfragen. Das liberal-konservative überparteiliche „Mittelstandsforum“ (Leiter Stefan Friedrich, CDU) hatte ihn und Thilo Sarrazin zu einer gemeinsamen Veranstaltung am 14. September im Strandbad Weißensee in Pankow eingeladen.

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Sarrazin erklärte, zunächst habe er gezögert, ob er das Buch von Luthe vorstellen solle. Seit dem Ende seiner Amtszeit als Finanzsenator im Jahr 2009 habe er zur Politik in Berlin weitgehend geschwiegen: „Niemand schätzt wirklich Ratschläge von ausgeschiedenen Politikern und ich fand, dass es auch außerhalb der Berliner Landespolitik genügend Themen gab, über die ich reden und schreiben konnte.“ Schon für seinen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ wird ihm freilich gerade Berlin viel Anschauungsunterricht geliefert haben. Sarrazin sagte über Luthes Werk: „Die Lektüre des Buches hat mich dann umgestimmt. Hier schreibt jemand über Berlin, der eine Generation jünger ist als ich, und er schreibt mit Herzblut.“
Berliner Landespolitik bleibt unter ihren Möglichkeiten

Sarrazin hielt sogleich fest: „Die Berliner Landespolitik bleibt seit Jahrzehnten in verheerender Weise unter ihren Möglichkeiten.“ Berlin sei nicht der Nabel der Welt, auch wenn das viele Berliner dächten. Schon lange vor dem Mauerfall hätte man sich im Westteil der Stadt angewöhnt zu glauben, dass man „als Bollwerk des freien Westens quasi einen Unterhaltsanspruch an den Rest der Welt“ habe. Dazu komme eine „gewisse Blindheit“ für die eigenen Mängel und ihre Ursachen. „Manche Dinge will man auch gar nicht sehen“, sagte Sarrazin, „und wenn jemand dem zuständigen Politiker die Binde von den Augen reißt und quasi mit Gewalt seinen Kopf in die richtige Blickrichtung dreht, dann setzt bei den Betroffenen ein gewaltiges Sträuben ein und am Ende ist man darüber empört, sich für Zustände und Entwicklungen rechtfertigen zu sollen, deren Existenz man am liebsten verneint.“

Das habe er als Finanzsenator bei seinen Bemühungen, den Ursachen der Berliner Finanzmisere auf die Spur zu kommen und diese auch wirksam zu beseitigen, immer wieder zu spüren bekommen: „Wo ich Erfolg hatte, ging das häufig nicht ohne Geschrei und ein paar Scherben ab. Am Ende hatte ich zum Glück Erfolg: Nach sieben Jahren im Amt war ein jährliches Haushaltsdefizit von mehr als fünf Milliarden Euro verschwunden.“

Ein ehemaliges Betriebsgeheimnis

Sarrazin ging jedes Kapitel in Luthes Buch durch, rühmte es durchweg und kommentierte nicht selten ein Thema auch mit hintergründigem Humor. Eine kritische Anmerkung machte er zum Bankenskandal: „Im Kapitel 2 blickt Luthe auf die Geschichte und Wirkungen des Berliner Bankenskandals zurück. Hier muss ich ihm ein wenig widersprechen: Die Berliner Bankgesellschaft ging niemals pleite, denn sie wurde ja vor der Insolvenz durch eine Landesbürgschaft von 21,3 Milliarden Euro gerettet. Als ich Finanzsenator wurde, gehörte es zu meinen ersten Amtshandlungen in Abstimmung mit dem Regierenden Bürgermeister, den damaligen Präsidenten des Sparkassenverbandes Hoppenstedt in Hannover aufzusuchen und ihm die Bank für 1 Euro anzubieten.“ Dieser habe abgelehnt und erklärt, das könne er seinen Sparkassen nicht zumuten. „Umso erfreulicher war es dann“, so Sarrazin weiter, „als sein Nachfolger sieben Jahre später die Bank für 5,3 Milliarden verkaufte, obwohl sie – jetzt sage ich Ihnen ein ehemaliges Betriebsgeheimnis – nach unseren Wertberechnungen allenfalls 1,8 Milliarden Euro wert war.“ (Heiterkeit im Publikum). „Also auch in Berlin macht man ab und zu gute Geschäfte. Das Land jedenfalls machte in diesem Fall ein glänzendes Geschäft“, fügte er hinzu.

„Es gibt ein Leben auch jenseits der SPD“

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Die Haushaltsnotlage Berlins sei dabei ganz unabhängig von der Bankgesellschaft gewesen: „Sie ergab sich schlicht daraus, dass 2002, in meinem ersten Amtsjahr als Finanzsenator, die Ausgaben des Landes um ein Drittel höher als seine Einnahmen waren.“ Dies wiederum sei die Folge jahrzehntelanger Misswirtschaft gewesen, die zu ungezügelten Mehrausgaben auf nahezu allen Gebieten der Verwaltung und der staatlichen Dienstleistungen geführt habe. „In den sieben Jahren meiner Amtszeit wackelte mein Stuhl mehrere Male sehr kräftig“, erklärte der jetzt 76-jährige Sarrazin. Und: „Die Feinde, die ich mir damals in der SPD machte, haben mich 2020, ein Jahrzehnt später, mit Wonne aus der Partei ausgeschlossen. Das sei ihnen gegönnt. Das ändert zum Glück weder etwas an dem, was ich damals für die Sanierung der Stadt erreichen konnte, noch hat es den Absatz meiner Bücher in Mitleidenschaft gezogen (große Heiterkeit im Publikum). Das heißt, es gibt ein Leben auch jenseits der SPD“, fügte er noch hinzu.

Sarrazin hatte nach dem vom obersten Schiedsgricht der SPD bestätigten Parteiausschluss darauf verzichtet, noch ein ordentliches Gericht anzurufen, was durchaus erfolgreich hätte sein können. Es war absurd, wie es die SPD unternahm, Sarrazin letztlich wegen seines Buches „Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ aus der Partei auszuschließen. Man hatte dies schon vor, bevor man das Buch überhaupt gelesen hatte. Der Doyen der deutschen Islamwissenschaft, Professor Tllman Nagel, hatte ein positives Gutachten über das Werk abgegeben. Der langjährige Akademiedirektor der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, Johannes Kandel, schrieb in einer Rezension: „Im Gegensatz zu der versammelten Macht der politischen Eliten und ihrer medialen Claqueure, die das Buch schon im Vorfeld verdammten und dann in einer Mischung aus Dummheit, Ignoranz und Schmähkritik (Süddeutsche Zeitung!) verurteilten, halte ich das Buch für hilfreich.“

Die Kriminalität wird systematisch verdrängt und kleingeredet

In Weißensee erklärte Sarrazin, Luthes Beschreibungen des Ausbruchgeschehens in Berliner Gefängnissen seien „amüsant und bestürzend“: „Der grüne Justizsenator scheint hier als Chef der Verwaltung tatsächlich seinen anarchistischen Träumen nachzuhängen“. Absurditäten schildere Luthe auch zur rot-grünen Verkehrspolitik. Staus würden künstlich produziert und damit auch die Feinstaubbelastung gesteigert. Bestürzend seien die Berichte über Angriffe auf Polizei und Feuerwehr sowie „die schwächliche Reaktion der Politik darauf: „Mir scheint es so, dass die Sympathisanten von Gewalt gegen die Polizei hier und da durchaus auch in die Reihen der gegenwärtigen Regierungsparteien reichen.“ Viele Jahre sei das Problem organisierter Kriminalität – vor allem in Verbindung mit arabischen und türkischen Großfamilien – in der Berliner Innenpolitik systematisch verdrängt und kleingeredet worden. „Das hatte auch ideologische Gründe. Heute ist es in vieler Hinsicht fast zu spät.“ Dieses Verdrängen und Verschweigen sei schon zu seiner Zeit „Teil der grundsätzlichen Kultur in der Berliner Polizei“ gewesen.

Buschkowsky wurde von Wowereit und Müller nicht ernstgenommen

„In meinen sieben Jahren und vier Monaten als Berliner Finanzsenator“, sagte Sarrazin, „habe ich ja an endlos vielen Senatssitzungen, SPD-Senatsvorbesprechungen, Sitzungen des Landesvorstandes, Sitzungen der SPD-Fraktion, von Arbeitsgruppen usw. teilgenommen. Ich kann mich an keine einzige Gelegenheit erinnern, wo man in all diesen Gremien wirklich einmal über Fragen der Zuwanderug und von Integration, über die Zusammenhänge von schlechter Bildungsleistung vieler Schüler und über die überdurchschnittliche Kriminalität in bestimmten ethnischen und kulturellen Guppen gesprochen hätte.“

Vetternwirtschaft im Sozialbereich

Dies sei einfach kein Thema gewesen – weder im Senat noch in den Gesprächen innerhalb der SPD-Führung. Heinz Buschkowsky in Neukölln sei von führenden Politikern wie Klaus Wowereit und Michael Müller einfach nicht ernstgenommen worden. „Buschkowsky kam zu Ehren, als ich zum Bösewicht wurde und man einen ,guten´ Integrationskritiker brauchte. Da ist seine Stunde gekommen und dafür hat er mir auch seine persönliche Dankbarkeit ausgedrückt,“ sagte Sarrazin und sorgte damit erneut für Heiterkeit im Publikum. Er, Sarrazin, habe sich selbst dadurch informiert, dass er einfach Buschkowsky besuchte oder sich mit ihm zusammensetzte. „Dann hat er mir die Dinge erzählt, bei denen ihm anderswo keiner zuhören wollte, jedenfalls nicht in der Berliner Landespolitik.“

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Lesenswert seien auch Luthes Ausführungen zur Vetternwirtschaft im Sozialbereich. Es gebe eine schier unüberschaubare Zahl freier Träger in Berlin, die in unterschiedlichsten Gebieten Aufgaben wahrnehmen. „Bis zu welchem Grade diese freien Träger tatsächlich sozialen Zielen dienen und bis zu welchem Grade die einfach ein Weg sind, Staatsgeld abzugreifen, das konnte ich nie wirklich eruieren“, so Sarrazin. Der Skandal um die sogenannte Treber-Hilfe sei „ja auch nur deshalb aufgeflogen, weil deren damaliger Chef, der ,große Gönner der Obdachlosen´, nicht bescheiden einen unauffälligen Audi A 6 als Dienstwagen fuhr, sondern es musste ein Maserati sein“. Mit einem einfachen Dienstwagen hätte seine Organisation auch noch lange unerkannt so weiter wirtschaften können. Luthe weise zu Recht auch daraufhin, dass die „Schlechtleistung“ der Berliner Schulpolitik seit Jahren belegt sei: „Und es tut mir leid, es geschah immer unter sozialdemokratischen Bildungsministern. Berlin trägt in allen Bildungsvergleichen bundesweit seit Jahrzehnten zuverlässig die rote Laterne“, erklärte Sarrazin. Das läge aber grundsätzlich nicht an der finanziellen Ausstattung der Schulen, sondern an „sogenannten Reformen“. Inzwischen flüchteten „tüchtige Junglehrer“ aus Berlin, ausgebildete Lehrer seien Mangelware, immer mehr Kinder würden „Fachfremden“ anvertraut.
Luthe machte das Fragerecht zu einer scharfen Waffe

Über Luthe sagte Sarrazin: „Als Abgeordneter nahm Marcel Luthe seine Aufgabe, die Exekutive zu beaufsichtigen, fünf Jahre lang sehr ernst. Das parlamentarische Fragerecht gestaltete er durch die gründliche und methodische Art, mit der er dieses Recht wahrnahm, zu einer scharfen Waffe. Er deckte teils abstruse, teils bestürzende Mängel auf. Häufig standen die Senatoren und Staatsekretäre, die er befragte, argumentativ gesehen geradezu nackt vor den Abgeordneten. Das waren Sternstunden des Parlaments.“ Die Berliner Politik brauche mehr Selbstkritik, sie müsse aber auch viel schärfer von außen mit den eigenen Mängeln konfrontiert werden. Deshalb wünsche er Luthe Glück und Erfolg, nach der Wahl den Senat erneut fünf Jahre mit kritischen Fragen unter Druck setzen zu können.

Marcel Luthe betonte, die graviereden Probleme in Berlin müssten „offen benannt, analysiert und angegangen“ werden. „Wir erleben derzeit jedoch genau das Gegenteil“, so Luthe. Nötig seien „objektive Informationen“ auf allen Gebieten. „In dieser Stadt beschäftigen wir uns mit Petitessen und die großen Themen werden vergessen“, sagte er mit Blick auf die Sicherheit. Auch bei der Polizei würden die schweren Probleme mit der Kriminalität heruntergespielt. Dem Innensenator Andreas Geisel (SPD) attestierte er „völliges Versagen“.

Die Berliner werden für dumm verkauft und die Opfer verhöhnt

Im letzten Jahr seien mehr als 80 000 Berliner Opfer von Gewalt und Sexualdelikten geworden. In den letzten fünf Jahren hätten sich viele Opfer an ihn gewandt, weil sie niemand anderen mehr gefunden hätten, der sich ihrer angenommen hätte. Und jetzt klebe die SPD Plakate mit dem Schriftzug „Ganz sicher Berlin“ und es werde „ein Herzchen geformt und freundlich gelächelt“, sagte er in Anspielung auf Wahlplakate von Franziska Giffey. „Das“, erklärte Luthe unter großem Beifall, „ist eine Verhöhnung der Opfer und verkauft den Souverän für dumm.“

Gefragt, welchen Senat er nach der Wahl erwarte, antwortete Luthe: „Zumindest ist klar, dass wir mit einer starken sozialdemokratischen Partei – stark im Sinne von Mandaten, die inhaltlich schwach sein wird – im Parlament arbeiten müssen.“ Einer SPD, die sich „nicht einig ist, welchen Kurs sie zwischen Frau Giffey und Herrn Saleh fahren möchte. Die sich nicht einig ist, ob sie lieber weiter einen linken bis linksextremistischen Kurs fährt gemeinsam mit insbesondere den Friedrichshainer Grünen oder eine bürgerliche Politik will.“ Auf „dieser Grundlage“ werde es in „irgendeiner Richtung“ einen Senat geben.

Für ihn, Luthe, sei die „Kernfrage, wieviel von dem, was da automatisch rollt, können wir vielleicht mit kleinen Seitenhieben in die richtige Richtung beeinflussen“. Wer glaube, das ignorieren zu können, werde „feststellen, dass allein ich schon in den letzten Jahren unangenehm sein konnte. Insgesamt werden wir noch lauter sein.“


Michael Leh studierte Geschichte und Politik in München und arbeitet heute als freier Journalist in Berlin.