Tichys Einblick
Achtung Glosse

„Zukunftstag“ – oder wie Schüler es nennen: Schwänzen

Den „Girls’ Day“ finden die meisten Schüler toll: Sie haben halt einen schulfreien Tag mehr. Nehmen Mädchen den Day indes ernst, bekommen sie Einblicke in Berufswelten, die ihnen bisher versperrt blieben: zum Beispiel Putzen.

Symbolbild

IMAGO / Political-Moments

Am Donnerstag ist Girls’ Day. Äh, Boys’ Day. Na gut: Girls’ and Boys’ Day. Oder vielleicht doch besser „Zukunftstag“? So wirklich wusste ich nie, wie ich diesen Tag nun nennen soll. Meine Schule nannte ihn „Zukunftstag“. Die hat wohl irgendwann eingesehen, dass Mädchen selten Interesse daran haben, einen Männerberuf zu erschnuppern, und Jungs noch weniger Interesse daran haben, Frauenberufe auszuprobieren – die eigentliche Idee dieses Tages. Der Begriff „Zukunftstag“ ließ uns dann etwas mehr Freiheiten: Wir konnten uns jegliches Unternehmen aussuchen, um „Erfahrungen“ für unsere berufliche Zukunft zu gewinnen.

Und der Name des Tages benachteiligte auch keinen. Also nicht die Jungen, die am Anfang der „Girls’ Day“-Historie ganz normal zur Schule gehen mussten, während die Mädchen einen Tag lang in einen Männerberuf schnuppern duften. Oder sollten. Da haben sich die Jungs beschwert: Auch sie wollten so einen Tag haben. Fraglich ist nur, ob sie dieses Pendant zum Girls’ Day – den Boys’ Day – wirklich haben wollten, um mal zu probieren, als Friseur oder Sekretär zu arbeiten. Wahrscheinlich ging es ihnen eher um den einen schulfreien Tag mehr im Jahr. Erlaubtes Schwänzen halt.

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Schulfrei zu haben, war jedenfalls meist meine und die Motivation meiner Klassenkameraden, am „Zukunftstag“ teilzunehmen. Ein, zwei Monate vor dem „Zukunftstag“ teilten unsere Lehrer Zettel aus, auf denen uns Unternehmen unterschreiben sollten, dass wir in einem davon unseren „Zukunftstag“ verbringen dürfen. Kurz vor dem „großen Tag“ dann nochmal die Erinnerung – oder eher Drohung: „Wer keinen Zettel abgibt, muss in die Schule kommen und Schulaufgaben lösen.“ Da kramten dann alle schnell ihren Zettel aus den untersten Ecken des Schulrucksacks oder kopierten sich notfalls fix den Zettel vom Sitznachbarn. Denn einen schulfreien Tag wollte sich natürlich keiner von uns entgehen lassen. Bald merkten die Lehrer allerdings: Irgendwie tragen die Chefs dieser Unternehmen, in denen wir unsere Zukunftstage verbringen wollten, häufig den gleichen Nachnamen wie wir Schüler. Oder es waren genau die Unternehmen, in denen die Eltern angestellt sind. Also machten die Lehrer eine Vorgabe: Zu den Eltern ins Unternehmen dürften wir nicht mehr gehen.

Diese Vorgabe änderte jedoch nicht wirklich etwas an der Sinnhaftigkeit des Tages: Um ehrlich zu sein, habe ich nie ein Mädchen erlebt, das an diesem Tag zu einem Tischler gegangen ist. Und schon gar nicht habe ich einen Jungen erlebt, der einen Tag lang ins Make-Up Artist Studio geschnuppert hat. Solche Jungs hätten sonst einige Sprüche reingedrückt bekommen von wegen: „Bist du jetzt schwul oder was?“ Das mag heute vielleicht anders sein, aber meine Klassenkameraden waren damals noch nicht so auf LGBTQ Plus unterwegs. Damals, vor einem Jahr.

Auch ich als Mädchen hatte nicht so wirklich Interesse daran, zu einem Tischler oder Mechatroniker zu gehen. Ich möchte halt keine Tischlerin oder Mechatronikerin werden. Egal, wie stark die „Frauenquote“ angepriesen wird: Es lebe der Feminismus. Stattdessen war ich einmal bei einem Fotografen, einmal in einem Einrichtungsladen und – ich muss gestehen – meistens zu Hause. Oder im Park am heimischen Fluss mit meinen Freunden. Die ebenfalls den Zukunftstag schwänzten. Freunde meiner Eltern unterschrieben mir dann, in ihren Unternehmen „wertvolle Eindrücke für meine Zukunft zu gewinnen“. Meine Eltern durften das ja nicht mehr. Vorgabe eben.

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Nach meinen ersten beiden „Zukunftstagen“ fehlte nämlich meine Motivation, noch einen mitzumachen, weil ich feststellte: Der Sinn des „Zukunftstags“ ist Bullshit. Was sollen mir die Unternehmen denn in maximal acht Stunden „Wertvolles“ beibringen? Welche Einblicke über die Realität eines Berufs kann ich in acht Stunden gewinnen? Das war mir ja nicht mal wirklich bei einem zweiwöchigen Pflicht-Schülerpraktikum in der zehnten Klasse möglich. In so kurzer Zeit kann niemand eingearbeitet werden und sodann wirklich etwas lernen.

Für viele Unternehmen bedeutet der „Zukunftstag“ hingegen nur unnötigen Arbeitsaufwand, denn mal ehrlich: Wie viele Kids arbeiten nach ihrem Schulabschluss in den Unternehmen, in denen sie in der fünften Klasse ihren „Zukunftstag“ verbracht haben? Dementsprechend ergibt es für die meisten Unternehmen schlichtweg keinen Sinn, einen „Girls’ Boys’ or whatever“-Day anzubieten. Darum kamen meine Mitschüler und ich auch meist nur über Vitamin B – also über gute Kontakte – zu ordentlichen Plätzen an unserem „Zukunftstag“. Zugegeben: Das lag natürlich auch daran, dass wir uns zu spät darum kümmerten. Aber trotzdem: Es gab kaum ernsthafte Möglichkeiten. Jedenfalls keine, die uns interessierten.

Die „Zukunftstage“ entsprachen dann – jedenfalls in meiner Erfahrung – immer eher einem Bespaßungsprogramm: Am „Zukunftstag“ beim Fotografen durften meine drei Freundinnen und ich zum Beispiel ein Fotoshooting machen. Der Fotograf hat also keine Kunden für Geld, sondern uns kostenfrei fotografiert. Mit verschiedenen Kostümen und Accessoires. Das hat ordentlich Spaß gemacht, aber am Ende des Tages wusste ich nicht mehr als vorher über den Beruf eines Fotografen.

Mein Zukunftstag im Einrichtungsladen ein Jahr später war nicht so spaßig, gelernt habe ich aber trotzdem nichts: Die Inhaberin des Ladens gab mir die Aufgaben, Staub zu wischen, Staub zu saugen und ihr Vasen und Geschirr anzureichen, das sie in ein hohes Regal stellen wollte. Sie berichtete mir stolz, sie hätte am Tag zuvor extra kein Staub gewischt, damit ich an meinem „Zukunftstag“ etwas zu tun hätte. Toll, danke. Nach vier Stunden wusste sie dann nichts mehr mit mir anzufangen und schickte mich nach Hause. Sie hat mir aber noch ein schickes Windlicht geschenkt. Gut, das hatte ’nen Ditsch, weswegen sie es eh nicht mehr hätte verkaufen können. Aber das steht tatsächlich immer noch in meinem Schlafzimmer. Der Zukunftstag hat mir für meine Zukunft also außer einem hübschen und besonderen Windlicht sowie schöner Zeit mit Freunden herzlich wenig für meine beruflichen Perspektiven genützt.

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