Deutschland hat ein Problem. In einer strukturell rassistischen Gesellschaft kann man sich schnell an Ungerechtigkeiten gewöhnen. Daher übersieht man immer wieder die wahren Abgründe, das tatsächliche Leid und die reale Not in diesem Land. Jüngst betroffen ist eine kaum wahrgenommene, unterprivilegierte Minderheit. Die Gesellschaft sieht auf sie herab oder ignoriert sie. Viele wollen mit Vertretern aus ihren Reihen aus moralischen Gründen nichts mit ihnen zu tun haben. Andere haben politische Vorurteile.
Ich spreche von Karotten.
Denn wer jetzt fürchtet, eine reaktionäre Karotten-Familie könnte den Lebensstil seiner eigenen queeren Sellerie-Lauch-Zwiebel-WG mit ihren polyamorösen Idealen diskriminieren, der irrt nicht nur, sondern fällt selbst auf die antrainierten Reflexe des patriarchalischen Systems herein. Seit wann ist es erlaubt, vom Äußeren auf das Geschlecht zu schließen? Wir haben schließlich das Jahr 2021. Männer dürfen Schleifen tragen, Mädchen gerne auch mal einen Namen wie Michel. Wo ist das Problem? Die vermeintlichen Tugendwächter sehen durch Schablonen. Wenn sie nicht anerkennen wollen, dass Karla möglicherweise mal Karl hieß und jetzt gerne Lippenstift, Mascara und falsche Augenwimpern trägt, dann ist das sein/ihr Recht. In Wirklichkeit werden Karotten mit alternativen Lebensmodellen diskriminiert, weil die Urheberin ihre ureigene traditionelle Weltanschauung auf Gemüse projiziert.
Vielleicht identifiziert sich Kai gar nicht als deutsche Karotte, sondern als peruanische Kartoffel oder holländische Tomate. Niemand weiß, ob die Karotten-Kinder über Patchwork, Adoption oder Leihmutterschaft in die Familie gekommen sind. Hat sich irgendeiner der verantwortlichen Redakteure die Mühe gemacht, die Opfer dieser Kampagne zu fragen? Biologische Äußerlichkeiten wie etwa eine Karottenform sagen nichts darüber aus, welches Geschlecht – oder gar welche Gemüsesorte man hat. Die Diskussion um die Religionszugehörigkeit der Familienmitglieder wurde dabei nicht einmal angeschnitten. Nicht jeder, der eine Weihnachtsmütze trägt, ist Christ, und unter einem Karottenkopftuch kann auch eine progressive feministische Buddhistin stecken.