Tichys Einblick
Irrwege

Die Infantilisierung der Politik 

„Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was Kind an mir war“, heißt es in den Korinther-Briefen (1 Kor 13,11). Heute ist das Gegenteil der Fall. Kindliches Verhalten drängt in den politischen Raum.

IMAGO/photothek

Der Zeitgeist liebt Übertreibung und Radikalität. Übertrieben vertreten, verkehren sich wichtige Anliegen schnell ins Gegenteil ursprünglicher Absichten. Der großartige Kampf für die Emanzipation der Frau mündet in Genderwahn, Quotenirrsinn oder die Leugnung eines biologischen Geschlechts. Die wichtige Bekämpfung des Rassismus endet im Hass auf weiße Menschen. Aus Furcht vor dem Vorwurf des Rassismus verharmlosen Journalisten, Politiker und Behörden Parallelgesellschaften mit kriminellen Clanstrukturen; islamischer Fanatismus, grausame Verstümmelung von Mädchen oder die brutale Unterdrückung von Frauen werden relativiert oder gar verleugnet. 

PostPolitiker und PostJournalisten
Ich aber beschloss, Influencerin im Bundestag zu werden
Die Faszination für die Jugend pervertiert zum Jugendwahn, christliche Nächstenliebe zu verantwortungsfreier Fremdenliebe, der Resozialisierungswunsch Krimineller zu grotesker Milde gegenüber Gewaltverbrechern. Aus engagierten, gutwilligen Zeitgenossen werden dümmliche Gutmenschen. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die Welt scheint irre geworden zu sein. 

Kaum etwas bleibt heute vom Zeitgeist der Auflösung und Zerstörung im Namen des Fortschritts verschont. Zu den großen Errungenschaften der modernen Demokratie gehört das über Jahrhunderte erkämpfte, allgemeine Wahlrecht. Jüngste Forderungen nach einem Wahlrecht „für wirklich alle“ – in der radikalsten Form unabhängig vom Alter, Nationalität und Gesundheitszustand – gehört zu den Entgleisungen der Moderne. Die aktuell angestrebte Reduzierung des Wahlalters in Deutschland auf 16 Jahre kann auch als Teil der fortschreitenden Infantilisierung der Politik gesehen werden, als Beitrag zum unerklärten Krieg gegen Vernunft und Augenmaß und letztendlich der fortgesetzten Zerstörung der Grundlagen eines von Freiheit, Recht und Wohlstand geprägten Landes. 

Auch alte, weiße Frauen im Visier

Stephans Spitzen: 
Kinder an die Macht? Bloß nicht
„Kinder an die Macht“ ist schon lange nicht mehr nur die Parole verträumter Rousseau-Anhänger und naiver Montessori-Pädagogen. Der propagandistische Siegeszug der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg, „Time“-Person des Jahres 2019, die weltweite Akzeptanz der von ihr gegründeten Kinder-Bewegung Fridays For Future“ (FFF) oder die in vielen westlichen Staaten angestrebte Senkung des Wahlalters sind politische Facetten des aktuellen Kulturkampfs; sie gehören zu einer Kampagne, die die Jugend bejubelt und verehrt, ältere Menschen dagegen zu diskreditieren und zu diffamieren sucht. Schließlich seien die Alten für die angebliche verrottete Welt verantwortlich, mit deren Elend und der vermeintlichen Perspektivlosigkeit nun die Jungen fertig werden müssten. 

Die Verhöhnung der „alten weißen Männer“ hat längst auch ältere Frauen erfasst. Die „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer gehört für Trans-Bewegte längst zu dieser angeblich abgetakelten Generation – weil Schwarzer in der nichtbiologischen Definition die Errungenschaft des Feminismus bedroht sieht. 

„Gesunder Menschenverstand… ist die knappste Ressource in der Peter-Pan-Gesellschaft.“ (Prof. Norbert Bolz)

Alle Parteien lassen sich bereitwillig an der Zahl ihrer jungen Mitglieder und jungen Abgeordneten in den Parlamenten messen; die Unionsparteien betonen verschämt, dass sie sich noch mehr um die junge Generation bemühen wollen, Grüne und Sozialdemokraten sind stolz, schon jetzt relativ viele junge Leute in die Volksvertretungen geschickt zu haben. 

Die Verkehrung der althergebrachten Einsicht fast aller Kulturen und Gesellschaften, dass die Geschicke eines Volkes oder eines Landes in den Händen von möglichst erfahrenen, bestens ausgebildeten und klügsten Vertretern liegen sollten, scheint in der modernen Politik zunehmend belanglos zu sein. In der Politik zählen heute weniger Weisheit und Wissen als vielmehr die zelebrierte Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, beispielsweise zur jungen Generation, sowie eine möglichst große Betroffenheit und viel Emotion – egal um was es geht. 

Die arme Abgeordnete, die nicht mehr knutschen durfte

Nur so erklärt sich, dass eine Abgeordnete wie Emilia Fester, 22, vor dem Bundestag in einer Corona-Debatte lauthals beklagen kann, sie habe in den vergangenen zwei Jahren „nicht mal eine Person, die ich nicht kannte, geküsst“, ohne dass die Grünen-Politikerin schallend ausgelacht wurde. An diesen kindlichen, mit fast überschnappender Stimme vorgetragenen Vorwürfen, die Impfverweigerer seien daran schuld, dass Fester nicht genug knutschen und reisen durfte, schien sich kaum einer der anwesenden Parlamentarier zu stören. 

In Berlin nimmt auch fast niemand daran Anstoß, dass Gesetze völlig unsachliche Namen erhalten, so wie das „Gute-Kita-Gesetz“. Politiker lassen sich immer häufiger von Kindern interviewen, die oft mit sichtlich auswendig gelernten, zuweilen unsinnigen Fragen Minister herausfordern, ohne dass die sich wehren. Gegen die sich ausbreitende Infantilisierung gibt es offenbar nur wenig Widerstand.

Wenn Politiker sich als Influencer gerieren
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bedauert peinliches TikTok-Video
Das bleibt nicht ohne Folgen. Kinder sind vor allem emotional, spontan, nicht sehr diszipliniert. Kaum jemand würde behaupten, ausgerechnet diese Eigenschaften seien in der Politik besonders nützlich. Aber kindliches Verhalten drängt zunehmend in den politischen Raum, schließlich fügt es sich bestens in die Ideologie der Identitätspolitik ein, mit der sich Menschen und Gruppen gern als Opfer definieren, um dann der Subjektivität und den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Traditionelle Werte der Demokratie wie Rationalität und Nüchternheit, das Bemühen um Ausgleich und Augenmaß sind dabei eher belanglos. 
Deutsche lehnen Senkung des Wahlalters ab

Um die Tendenzen der Irrationalität noch zu verstärken, wird allerorten, in Ländern und im Bund, eine Senkung des Wahlalters angestrebt. Vor Kurzem beschloss der Landtag von Baden-Württemberg die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. In Bremen, Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein ist das schon Gesetz, auch in Hessen und Niedersachsen gibt es entsprechende Initiativen. Und bei Kommunalwahlen dürfen in den meisten Bundesländern 16-Jährige zur Urne gehen (desgleichen Staatsangehörige anderer EU-Staaten). 

Für die bundesweite Senkung des Wahlalters wäre eine Änderung des Grundgesetzes nötig, die eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erfordert. Da Union und AfD bisher dagegen waren, ist die Umsetzung noch ungewiss. Eine Bundestagskommission soll sich nun mit dem Thema beschäftigen. 

Dabei lehnt eine große Mehrheit der Deutschen eine Senkung des Wahlalters ab. 69 Prozent der Deutschen stimmten laut einer Civey-Umfrage vom April dagegen, dass das Wahlalter bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre herabgesetzt wird.

„Gesunder Menschenverstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber kein Grad von Bildung den gesunden Menschenverstand.“  (Arthur Schopenhauer)

Während ein Jugendlicher bis zum Alter von 14 Jahren nicht strafmündig ist, weil offensichtlich noch nicht reif genug, soll er aber zwei Jahre später schon über die Geschicke einer hochkomplexen Industriegesellschaft mitentscheiden – auch wenn er nach dem Gesetz erst eingeschränkt strafmündig ist, noch keine Geschäfte abschließen, noch keinen Führerschein machen darf. 

Wahlrecht für Babys! 

Inzwischen aber fordern manche sogar ein „Wahlrecht ab Geburt“ – so die gleichnamige Initiative des Deutschen Familienverbands, ein parteiunabhängiger Interessenverband mit etwa 16.000 Mitgliedern. Es sei ein Grundrecht, dass alle Staatsbürger, also auch die „13 Millionen Kinderstimmen“ wählen dürften, meinte die Initiative, die unter der Schirmherrschaft der ehemaligen Familienministerin Renate Schmidt (SPD) steht. Nicht unerwartet unterstützt die grüne Jugend diese Forderung. Identitätspolitik zu Ende gedacht: Babys mit Stimmrecht. 

Ich bin Opfer, also bin ich
Die Leidensgeschichte der Bundestagsabgeordneten Emilia Fester (24)
Dabei wird alles ignoriert, was einem der gesunde Menschenverstand seit jeher sagt: Junge Menschen sind besonders impulsiv, handeln oft mit heißem Herzen und zuweilen wenig überlegt. Deshalb ist ja der Gesetzgeber besonders nachsichtig, wenn es zu Gesetzesübertretungen kommt. 

Es gelte die „Bedürfnisse und Potenziale von Minderjährigen“ in die öffentliche Debatte einzubeziehen und das „erhebliche Repräsentationsdefizit … unserer Demokratie“ zu beseitigen, formuliert die Initiative. Der Ausschluss von Kindern und Jugendlichen habe zur Folge, dass sich die Politik „zunehmend an den Interessen einer immer älter werdenden Generation orientiert“. 

Früher war es eine allseits akzeptierte Erkenntnis, dass eine funktionierende Demokratie mündige Bürger braucht. An den Schaltstellen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sollten die kompetentesten, kreativsten und erfahrensten Menschen stehen. Leistung, Engagement und Verlässlichkeit waren die Voraussetzungen für den Zugang zu den Eliten. Diese Einsichten, drei wesentliche Säulen für das Ideal eines freien, prosperierenden Landes, scheinen nicht mehr gültig. 

Linker Wahn gegen „fake news“ und Hass-Botschaften

Das Ideal des mündigen Bürgers wird verdrängt von der Vorstellung, der Bürger müsse geschützt und angeleitet werden – fast so, wie man das bei kleinen Kindern tun würde. Alle die unzähligen Initiativen, Gesetze und Maßnahmen gegen „Fake News“, gegen „Verschwörungstheorien“ und gegen „Hass-Nachrichten“, gegen „rassistische“ oder „frauenfeindliche“ Äußerungen sind Versuche, den offenbar sehr hilflosen und beeinflussbaren Bürger vor übler Manipulation und Verunsicherung zu bewahren. 

Das Ideal des mündigen Bürgers wird verdrängt von der Vorstellung, der Bürger müsse geschützt und angeleitet werden – fast so, wie man das bei kleinen Kindern tun würde. All die unzähligen Initiativen, Gesetze und Maßnahmen gegen „Fake News“, gegen „Verschwörungstheorien“ und gegen „Hassnachrichten“, gegen „rassistische“ oder gegen „frauenfeindliche“ Äußerungen sind Versuche, den offenbar sehr hilflosen und beeinflussbaren Bürger vor übler Manipulation zu bewahren. 

Inzwischen ist es fast wahnhaft, wie linke und grüne Kräfte in allen westlichen Demokratien einen „Krieg“ gegen „Fake News“ ausgerufen haben, als ob die Bürger sonst hilflos finsteren Mächten ausgeliefert wären. Dass damit die Freiheit des Wortes, der Kunst und der Wissenschaft in dramatischer Art und Weise gefährdet ist, liegt auf der Hand. Diese Seite der Infantilisierung der Gesellschaft und der Politik enthüllt besonders deutlich die Macht-interessen, die dahinterstehen. 

Ideologische Frühprägung

Grünen-Abgeordnete Emilia Fester
Überemotionale Rede zur Impfpflicht: Generation „Ich, ich, ich“ im Bundestag
Parallel zu dieser Entwicklung wird die Kindheit in den westlichen Ländern massiv politisiert: Schon früh sollen die modernen, „woken“ Werte einer „emanzipierten“, „antirassistischen“, „diversen“ und demokratischen Gesellschaft eingeübt werden, auch die Gefahren des Klimawandels sollen Kindern möglichst früh und drastisch vermittelt werden. In der Praxis bedeutet das, dass Kinder immer früher und immer stärker ideologisch geprägt werden: im Kindergarten, in der Schule, überall. 

In manchen Ländern wird der Kulturkampf um die Kinder zum zentralen Thema – nicht nur in den USA. Ein ungarisches Gesetz, das den Sexualkundeunterricht in den Schulen einschränkt und Informationen über Geschlechtsumwandlungen und über nichtheterosexuelle Praktiken verbietet, löste 2021 in Westeuropa einen Sturm der Entrüstung aus. 

Wenig beachtet treibt die Bundesregierung eine Änderung des Transsexuellen-Gesetzes (TSG) voran, die unter anderem Jugendlichen ab 14 Jahren den Weg zu einer Geschlechtsumwandlung auch ohne Zustimmung der Eltern ermöglichen soll. In Deutschland gibt es auch nur wenig Diskussionen über den aktuellen Sexualunterricht, der in manchen Bundeländern früh beginnt und die ganze Palette diverser Lebensformen darzustellen versucht. 

Die Politisierung der Kindheit und die Infantilisierung der Politik sind zwei Seiten einer Medaille. Identitätspolitik und Kulturkampf sind davon geprägt, dass Pflicht- und Verantwortungsgefühl, Leistungen, Engagement und Arbeitsethos an Bedeutung verlieren. Bedroht sind Leistungs- wie Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft.

Das Ergebnis sehen wir in den zahlreichen Fällen unfähiger, selbstgefälliger, wehleidiger und infantiler Politiker. In Ministerien und Behörden dominieren zunehmend mittelmäßige, dilettantische, desinteressierte und selbstbezogene Funktionäre und Beamte.

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