Tichys Einblick
Thesen für eine neue Streitkultur

Zurück zu den Wurzeln: Das christliche Kreuz gehört in der Politik dazu

In einer vermeintlichen Alltagsgeschichte aus dem Beziehungsleben politischer Bündnispartner findet sich das ganze Elend der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Volksparteien wie unter einem Brennglas.

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Im Grunde war es nicht viel mehr als ein üblicher Deal unter Koalitionären. Als Kanzlerin Angela Merkel Mitte März 2018 nach fast einem halben Jahr quälender Regierungsbildung vom Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD für ihre vierte Amtszeit gewählt war, konnte die große Koalition endlich ihre Arbeit aufnehmen. Einzig eine winzige Randgeschichte war bei den Koalitionsverhandlungen liegen geblieben, weil man das Thema zur Streitvermeidung ausgeklammert hatte: das Werbeverbot für Abtreibungen nach Paragraf 219a StGB, das durch ein Gerichtsurteil gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt war.

Hänel hatte auf ihrer Webseite die Modalitäten der von ihr durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche erklärt und war nach einer Anzeige zu 6.000 Euro Geldstrafe wegen Verstoßes gegen Paragraf 219a verurteilt worden. Das Verbot selbst ergibt sich logisch aus dem Kompromiss um den Paragrafen 218, der Abtreibungen zwar verbietet, aber bei Einhaltung von Fristen und Wahrnehmung einer Pflichtberatung straffrei stellt. Dass für eine verbotene Handlung keine Werbung gemacht werden darf, ist zwar folgerichtig, doch ob und welche Informationen bereits als Werbung gelten, ist nach wie vor umstritten. Die SPD hatte einen Gesetzentwurf zur kompletten Streichung des Paragrafen 219a bereits im Dezember 2017 eingebracht, als Union, FDP und Grüne noch über ein »Jamaika«-Bündnis verhandelten, weshalb der Vorstoß im parlamentarischen Betrieb steckengeblieben war und jetzt zum Start der Groko wieder auf den Tisch sollte. Gegen den Willen der Union, die jede Änderung ablehnte.

Als eine Art Zeichen des guten Willens hatte der damalige Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) mit SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles vereinbart, dass die SPD ihren Antrag zur Streichung des Paragrafen 219a ausnahmsweise entgegen dem im Koalitionsvertrag standardmäßig vereinbarten Verbot des Abstimmens mit wechselnden Mehrheiten unter Zuhilfenahme der Opposition dennoch einbringen könne. Eine Koalition, in der jeder abstimmt, wie und mit wem es ihm gerade gefällt, ist keine und wäre sowohl sinn- als auch nutzlos und obendrein noch regierungsunfähig. Aber in diesem einen Fall, naja, also gut, ausnahmsweise.

Ausnahmsweise?

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In dieser vermeintlichen Alltagsgeschichte aus dem Beziehungsleben politischer Bündnispartner findet sich das ganze Elend der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Volksparteien wie unter einem Brennglas. Dabei geht es noch nicht einmal in erster Linie um die Außenansicht einer sich gerade eben mehr schlecht als recht zusammengewürgten Koalition, bei der ein Partner gleich zum Start öffentlich und vor Publikum »fremdgeht«. Es geht vor allem um die Selbstverleugnung der Akteure.

Ausgerechnet Volker Kauder, der sich weltweit für verfolgte Christen einsetzt, der der evangelikalen Deutschen Evangelischen Allianz nahesteht und über den der frühere CDU-Abgeordnete Georg Brunnhuber einmal sagte: »Der Kauder ist der katholischste Protestant, den ich kenne. Wenn’s ums C geht, wird der zur Dampfwalze«, ausgerechnet der bekennende Christ Kauder verdealt einen Lebensschutz-Paragrafen im Dienste des Koalitionsfriedens.

Außenstehende mögen das mit einem gleichgültigen Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Es ist aber gerade diese paranoide Trennung innerster Überzeugungen und politischer Tagesroutine, die nach außen so unglaubwürdig wirkt. Wenn der Schutz ungeborenen Lebens für den Menschen Kauder (das darf man ihm getrost glauben) so ein zentrales Anliegen ist, wieso kann es dann für den Fraktionschef Handelsware sein?

Wenn die Union zumindest den Versuch unternehmen will, an alte Größe und Glaubwürdigkeit anzuknüpfen, wird sie um eine Diskussion über eine Rückbesinnung auf das C in ihrem Namen nicht herumkommen.

Denn ohne das C, ohne das christliche Kreuz, ist in Deutschland kein Staat zu machen. Was viele nicht wahrhaben wollen oder längst vergessen haben: Der deutsche Rechts- und Sozialstaat ist tief und bis in die letzten Ecken durchwurzelt vom Christentum. Und das im besten Sinne des Wortes. Sich dies bewusst zu machen und zu pflegen, ist zuvörderst Aufgabe der Christen, aber eben auch der christlichen Parteien, die sich auf dieses christliche Fundament explizit beziehen. Konservativ zu sein (nach der lateinischen Wortbedeutung  conservare – erhalten) heißt, sich und dem politisch interessierten Publikum klarzumachen, dass die christlichen Prägungen unseres Gemeinwesens nicht allein davon abhängen, wie viele organisierte Christen es in den beiden großen und vielen kleinen Freikirchen noch gibt. Es geht auch und vor allem darum, Atheisten und Nichtchristen die Bedeutung dieses Fundaments mit großer Eindringlichkeit zu erklären.

Die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes

Die unantastbare Würde des Menschen in Artikel 1 des Grundgesetzes ist ohne die Ebenbildlichkeit des Menschen mit dem Gott der Bibel schwer denkbar. Und diese Ebenbildlichkeit hat gewaltige Folgen: Wenn jeder Mitmensch Ebenbild Gottes ist, dann ist er es auch, wenn er diesen Gott ablehnt, bekämpft oder gar nicht kennt. Er ist es, wenn er sündigt, Verbrechen begeht, ein Stinkstiefel ist oder alles falsch macht, was ich für richtig halte. Mit anderen Worten: Die Ebenbildlichkeit nimmt jeder Aggression gegen Andersdenkende, Andersglaubende und Andere überhaupt den Wind aus den Segeln. Wenn ich Gott in jedem meiner Mitmenschen begegne, kann und darf ich nicht herabwürdigen, verachten, hinrichten, versklaven oder Religionskriege gegen ihn führen. Zumindest geht all dies nicht mit Verweis auf die christliche Religion, sondern nur in massivem Bruch mit ihr.

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Es ist eine Saat des Verständnis vom Menschen, die lange keimen musste, bevor sie (auch den Christen) in dieser Deutlichkeit vor Augen trat und Eingang in der abendländische Verfassungsgeschichte fand. Humanisten, europäische Aufklärer und französische Revolutionäre haben daran ihren Anteil, sind aber nicht die ideengeschichtliche Wurzel der umfassenden und unantastbaren Menschenwürde. Zum einen gab es in zurückliegenden Zeiten noch viel weniger als heute die Chance, überhaupt »gottlos« oder an der Kirche vorbei zu denken, ganz gleich, ob mit ihr oder gegen sie. Sämtliche Protagonisten der Aufklärung lernten und studierten an konfessionellen Kollegien oder mussten sich zwangsläufig mit christlicher Theologie auseinandersetzen. Bei der Kritik an den Kirchen wendeten sie deren eigene Ideale gegen die verkrusteten und im Eigennutz erstickenden Strukturen. Wie schwer es ist, die unantastbare Menschenwürde tatsächlich im Getümmel der irdischen Händel zu leben, bewiesen übrigens die französischen Revolutionäre selbst im Blutrausch ihrer gegenseitigen Abrechnungen. Und es ist leider in Vergessenheit geraten, dass die Abschaffung der Sklaverei in Amerika auch auf Druck christlicher Gemeinschaften schließlich durchgesetzt wurde.

Nun könnte man sagen: Schön und gut, geschenkt. Wer hat’s erfunden? Die Christen. Aber das Patent auf die Menschenwürde ist nach gut 2000 Jahren abgelaufen und wird weltweit frei gehandelt. Stimmt. Wenn man von einer nicht ganz kleinen islamistischen Strömung absieht, die Ungläubigkeit und weltliche Gegnerschaft noch immer als Grund zur Aberkennung jeglicher Würde ansieht. Ausweislich der aktuellen Verfassungsschutzberichte von Bund und Ländern ist Islamismus nach wie vor die größte Bedrohung der Gesellschaft und ihres inneren Friedens. Auch die Auseinandersetzungen zwischen militanten Sikhs, Hindus und Moslems führen zu regionalen Konflikten, erlangen aber bei Weitem nicht das weltweite Gewicht islamistischer Bewegungen. Doch das ist nicht der Kern: Worum es geht, ist die Anerkennung der tiefen christlichen Wurzeln Europas, die zu einer Ordnung geführt haben, die den Kontinent für alle Menschen jeglicher Religionszugehörigkeit oder parteipolitischer Vorliebe zu einem lebenswerten Raum und attraktiv für Migranten aus aller Welt gemacht haben.

Und was hat das nun alles mit dem Phänomen des Populismus zu tun? Sehr viel. Denn die als nationalistisch oder islamkritisch wahrgenommenen Bewegungen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, entstammen immer auch einem Verlustgefühl gegenüber einer gewohnten Ordnung, zu der das alles durchdringende christliche Wertegeflecht gehört. Es griffe zu kurz, dies an klassischer Frömmigkeit, Kirchgang oder theologischen Kenntnissen festmachen zu wollen. Dass eine im Grunde säkulare Demonstranten-Gruppe wie »Pegida« (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) den Begriff »Abendland« in den Titel nimmt, ist weniger tiefer Religiosität geschuldet als vielmehr dem Wunsch, dass eine eher gefühlte als rational durchdrungene Werte- und Traditionswelt nicht in eine beliebige Reihe gestellt werden, sondern hier prägend bleiben soll.

Denn diese christliche Prägung unserer europäischen Gemeinwesen kann kaum überschätzt werden. Unser Verständnis des Rechts und des Richtens folgt der Logik des »verlorenen Sohnes« (Lk 15,11). Wir strafen mit dem Ziel der Resozialisierung und stellen Täter gegen jedwedes Lynchen unter Schutz, wie Gott selbst es mit dem Brudermörder Kain getan hat, als er ihm sein Zeichen auf die Stirn drückte: »Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.« (Gen 4,8-15). Auch das säkulare Staatsverständnis ist in der christlichen Tradition bereits angelegt: »So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« (Mt 22,21) und unterscheidet sich aktuell doch erheblich von Regimen mit Wächterrat oder Imamen mit weltlicher Macht. Von der 7-Tage-Woche, der christlichen Soziallehre oder den Rechtsnormen der Zehn alttestamentarischen Gebote ganz zu schweigen. Aus all dem folgt keine Pflicht zur Gefolgschaft Christi, aber es sollten sich alle bewusst sein, dass die Grund- und Selbstverständnisse unserer gesellschaftlichen Verfasstheit eben nicht selbstverständlich sind, sondern Herkunft und hoffentlich auch Zukunft haben. Mit einem Staatsverständnis, dessen Grundwerte sich nach den wogenden Mehrheiten zu- und abreisender Vereinsteilnehmer oder zeitgeistlichen Moden richten, ist dies freilich nicht zu machen.

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Das Christentum diente in seiner Geschichte auch der Begründung absolutistischer Ordnungen. Doch heute halten wir der Welt mit dem Kreuz nicht ein fanatisches Abwehrzeichen entgegen, das jeden in den Staub unseres  Bekenntnisses drücken soll, sondern ein zutiefst patriotisches Symbol, hinter dem sich eigentlich von Pegida bis Antifa, von National-Konservativen bis Radikal-Marxisten oder muslimischem Migranten bis römisch-katholischem Kardinal alle versammeln können. Es ist das eher schlichte Signet einer staatlichen Grundordnung, die aus der christlichen Ideengeschichte ein weltliches Haus gezimmert hat, in dem das Ideal einer Toleranz bis fast zur Selbstverleugnung (die andere Wange hinhalten – Mt 5,39) gelebt, gepflegt und geschützt wird. So sehr wir uns mitunter darüber ärgern mögen, dass selbst dschihadistische Gefährder bei uns Schutz vor den staatlichen Henkern ihrer Heimat erhalten, so sehr sollten wir die Verfassungsordnung hochhalten, die uns das zivilisierte, friedliche, unblutige Austragen unserer Meinungsverschiedenheiten in einem Maße erlaubt, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Selbst jene, die diese tolerante Ordnung beseitigen wollen, dürfen gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren nur dann mit allen Mitteln bekämpft werden, wenn sie wirklich gefährlich sind und kein zu vernachlässigender Haufen armer Irrer. Eine fast schon übermenschliche Großzügigkeit, die ihre bildhafte Entsprechung im christlichen Aufopfern des eigenen Sohnes für die Sünden der Menschen hat. Die weltliche Vernunft geböte es, Verfassungsfeinden von Anfang an zu wehren und mit aller Macht entgegenzutreten.

Es ist die Geschichte des Christentums, die uns in Stadtbild, Gebräuchen, Redewendungen (auf Sand gebaut, über den Jordan gehen, das A und O, aus der Taufe heben, aus dem Herzen keine Mördergrube machen, bei Adam und Eva anfangen …), Feiertagen und den Grundbegriffen von Recht und Gesetz begegnet, die uns prägt, die in uns denkt, und die in der Gesamtheit des historischen Prozesses Deutschland und Europa bis heute zu einem erfolgreichen und vor allem menschlichen Ort gemacht hat. Gott und das christliche Kreuz haben unserem Kontinent dazu verholfen, Fluchtziel zu sein und Flüchtenden auch helfen zu können. Selbst Atheisten leben im christlich geformten Europa besser und freier als in jedem atheistischen Regime mit »wissenschaftlicher« oder anders verbrämter Weltanschauung. Wem das zu pathetisch klingt, der möge im Geiste die Regionen der Welt durchgehen und für sich entscheiden, wo er lieber leben würde.

Auszug aus: Ralf Schuler, Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur. Verlag Herder, 240 Seiten, 22,00 €.


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