Tichys Einblick
Titania McGrath

„Woke“: Wenn Satire und Wirklichkeit eins werden

Der Komiker Andrew Doyle hat mit "Titania McGrath" die ultimative Social-Justice-Kämpferin erfunden. In ihrem Namen twittert er abwegige Weisheiten auf dem Weg ins „intersektionalistische sozialistische Utopia“. Das ist sehr lustig, weil es nicht weit weg ist von der Wirklichkeit der Wokeness.

via Spiked Online

Es gibt Zeiten, in denen sich Satiriker in einer eigenartigen Lage befinden. Einerseits liefert ihnen die Realität mit ihren Absurditäten eine Überfülle von Material, andererseits droht ihnen auch ständig die Gefahr, dass sie von der Wirklichkeit überboten werden, so dass ihre eigenen Satiren allzu zahm und harmlos erscheinen gegenüber dem, was man täglich selber erleben kann. Dazu kommt noch eine andere Gefahr: dass Witze der Zensur zum Opfer fallen, weil sich irgendeine Minderheit von ihnen beleidigt fühlt oder auch nur vorgibt, sich beleidigt zu fühlen. Solche Erfahrungen hat auch der Autor des kleinen Buches gemacht, um das es hier gehen soll, der britisch-irische Komiker und Journalist Andrew Doyle. Er ist der Schöpfer der fiktiven Figur Titania McGrath, einer jungen weißen Feministin großbürgerlicher Herkunft Mitte zwanzig, die sich, so die von Doyle konstruierte Biographie, einen Namen als „intersektionalistische“ Dichterin und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit gemacht hat. Titania hat natürlich auch einen eigenen Twitter Account, auf dem sie ihre Weisheiten zum Besten gibt, auch wenn dieser Account in der Vergangenheit schon einmal gesperrt wurde, weil hier der „falsche“ Humor vorherrschte.

Jetzt hat Doyle Titania ein Buch schreiben lassen mit dem Titel Woke: A Guide to Social Justice. Wokeness ist ein amerikanischer Insider-Begriff, der für das Wach- oder Erwecktsein steht, das nur diejenigen besitzen, die – wenn sie weiß sind – ständig über ihre unverdienten Privilegien nachdenken und jede noch so komplexe Regel der politischen Korrektheit im Umgang mit ihren Mitmenschen peinlichst genau beachten. Menschen, die „woke“ sind oder das sein wollen, wird man zum Beispiel an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten in den USA in Heerscharen finden, aber auch auf Großbritannien hat die „wokeness-culture“ mittlerweile übergegriffen. Erste Anzeichnen für eine ähnliche Epidemie machen sich auch in Deutschland bemerkbar, vor allem im Umfeld der Universitäten. 

Hysterie als Lebensmaxime. Ist das glaubwürdig? Leider ja.

Moralisierung der Geschichtswissenschaft
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Nimmt man das kleine Buch Woke in die Hand, hat man zunächst den Eindruck, dass der Autor es doch ein wenig übertrieben hat. Der absurde Hass auf weiße heterosexuelle Männer und die westliche Kultur in all ihren Ausprägungen kombiniert mit der Begeisterung für immer neue Steigerungsformen postkolonialer Kritik und transsexueller Revolutionen scheinen doch ein wenig allzu hysterisch zu sein. Aber dann bemerkt man, dass sich Doyle eines Tricks bedient hat. Er legt seiner Kunstfigur Zitate in den Mund, die von wirklichen Figuren des öffentlichen Lebens, etwa hoffungsvollen Aktivistinnen oder Journalistinnen stammen, die z. B. für den Guardian schreiben, das Flaggschiff der politischen Korrektheit und des postnationalen Selbsthasses in Großbritannien. Da ist etwa die auch vom Deutschlandfunk jüngst gefeierte farbige Autorin Reni Eddi-Lodge. Oder wir treffen auf den Guardian-Autor Owen Jones, der im Kampf für Rede- und Meinungsfreiheit vor allem eine List der bösen „Rechten“ sieht, die auf diese Weise weiter ihre „rassistischen, transphoben oder islamophoben“ Meinungen verbreiten wollen, was man ihnen aus der Sicht von Jones offenbar verbieten muss. (121) 

Jedenfalls, das haben auch andere Journalisten im Guardian zu Protokoll gegeben, sind Leute, die behaupten, die Meinungsfreiheit sei gefährdet, in aller Regeln rechte Trolle oder Fanatiker. Haben wir daran einen Zweifel? Nein, natürlich nicht, und wenn wir doch einen hätten, wären wir vermutlich auch hier in Deutschland wohl beraten, diesen Zweifel nicht öffentlich zu äußern, um uns nicht selbst als „Rechte“ zu entlarven, zumal uns ja auch unser Bundespräsident bestätigt hat, dass die Meinungsfreiheit überhaupt nicht in Gefahr ist. Und der wird es sicherlich wissen. Sonst wäre er ja nicht der Bundespräsident.

Vom Postmodernismus zur Sprachpolizei

Titania ist natürlich ebenfalls der Ansicht, dass es eine Gefährdung von Meinungsfreiheit durch die Regeln der politischen Korrektheit nicht gebe und auch gar nicht geben könne, denn niemand könne auf dem Recht bestehen, eine Meinung öffentlich zu äußern, die moralisch problematisch sei oder von Minderheiten als beleidigend empfunden werden könne. Es wundert einen dann auch nicht weiter, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass gerade Universitäten ein ganz ungeeigneter Ort seien, um sich mit Ansichten zu beschäftigen, die nicht dem Mainstream entsprechen. Das könnte die Studenten ja verwirren.

Eine Antwort
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Wie viele reale Verfechter eines umfassenden Systems der Sprachpolizei – die uns dann nicht nur heute die Verwendung von Gendersternen, sondern morgen auch von geschlechtsneutralen Pronomen vorschreiben will – kommt sie zu dem Schluss, dass man Bigotterie, Rassismus und Frauenfeindschaft ein für alle mal aus der Welt schaffen könne, wenn man solchen Überzeugungen nur das Vokabular entzieht, mit dessen Hilfe sie sich artikulieren können. Dann am Ende ist die Welt – hier ist Titania ganz eine Vertreterin des Postmodernismus, der in der akademischen Welt der Kulturwissenschaften heute in der Tat allenthalben dominiert – ja nichts als Text. Nichts ist wirklich wahr jenseits des „Diskurses“, der diese Wahrheit konstruiert. So wie es keine Homosexuellen vor der Erfindung des entsprechenden Begriffes im Jahr 1868 gegeben habe, so habe es auch keine Alkoholiker gegeben, bevor diese Erkrankung erstmals im Jahr 1849 diagnostiziert wurde. Titania ist konsequent genug zu schreiben, dass es nach dieser Logik auch keine Galapagos-Schildkröten gegeben habe, bevor diese 1535 „entdeckt“ wurden (124). Infolge dessen gibt es dann natürlich auch keinen Rassismus mehr, wenn es verboten wird, Vorurteile offen zu äußern.

Dieser bestechenden Logik kann man sich in der Tat kaum entziehen. Der radikale Konstruktivismus ist für die heutige regressive – also antiaufklärerische – Linke aber in der Tat ein ganz zentraler Bestandteil ihres Weltbildes, und von daher ist Titania eine typische Vertreterin ihres Milieus. Begeistert stimmt sie dem in Ann Arbor in den USA lehrenden Literaturwissenschaftler David M. Halperin (ja, es gibt ihn wirklich) zu, dass geschlechtliche Identität, also Männlichkeit und Weiblichkeit – eine reine Fiktion sei, eine „figure of male speech“, eine rhetorische Konstruktion des männlichen Diskurses. Jeder Mensch könne ganz unabhängig von seinen vermeintlichen biologischen Anlagen das sein, was er wolle. Wenn er sich als Frau identifiziere, sei er eben eine Frau, auch wenn er oder sie einen großen Bart und männliche Geschlechtsmerkmale habe, und wenn er oder sie sich als „schwarz“ identifizierten, dann seien sie eben farbig. Obwohl, nun ja, an dieser Stelle, könnte man dann vielleicht doch Ärger bekommen, denn „cultural appropriation“ – Anleihen bei einer fremden Kultur zu machen, indem man sich etwa Dreadlocks als Frisur zulegt, ohne Schwarz zu sein – ist natürlich verboten. 

Dennoch bleibt die durchaus plausible Erkenntnis, dass Gefühle – die richtigen, moralischen Gefühle natürlich nur – wichtiger sind als Fakten, zumal Wissen im Grunde genommen „ein patriarchalisches Konstrukt ist.“ (18) Haben wir das nicht immer schon gedacht? Von daher spricht auch wirklich nichts dagegen, Menschen als das zu akzeptieren, was sie zu sein behaupten, und wenn jemand sagt, er sei Napoleon, dann ist er (oder sie) natürlich Napoleon, wie Titania zurecht meint (101).

Das heißt auch, dass man Menschen mit den gender-neutralen Pronomen ihrer Wahl ansprechen muss, wie es ein Gesetz im fortschrittlichen, „bunten“ Kanada ja auch wirklich verlangt. Titania bezieht sich in diesem Kontext auf den International Pronoun Day, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die alte „transphobe“ Sprachwelt, in der wir uns immer noch bewegen, zu zerstören. Manche Leser werden vielleicht zweifeln, ob es diesen Tag wirklich gibt. Doch es gibt ihn, wie man sich im Internet überzeugen kann. Was kann man auf der Homepage des Pronoun Day lesen? „Together, we can transform society to celebrate people’s multiple, intersecting identities“ (Gemeinsam können wir die Gesellschaft verändern, um die multiplen, sich überschneidenden Identitäten, über die Menschen verfügen, zu feiern).

Auf dem Weg ins intersektionalistische Utopia

Auf diese Feier freut man sich dann in der Tat von Herzen, gemeinsam mit Titania McGrath. Welche Hoffnungen hat diese junge Frau für die Zukunft? Sie hofft auf ein „intersektionalistisches sozialistisches Utopia“. Intersektionalistisch? Ja, dieses Schlagwort ist wichtig, es bezeichnet das Phänomen der Überlagerung und gegenseitigen Verstärkung unterschiedlicher Formen von sozialer und kultureller Diskriminierung beziehungsweise dann auch den Kampf gegen diese Art von Ausgrenzung. Wenn man etwa eine Frau ist, schwarz, lesbisch und muslimisch, dann hat man den höchsten Opferstatus weil sich hier unterschiedliche Ausgrenzungsmechanismen gegenseitig verstärken und man sich im intersektionalen Fokus dieser Mechanismen befindet. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass das Unterkapitel über das Intersectionalist Socialist Utopia durch ein langes Zitat der international anerkannten amerikanischen „Philosophin“ Judith Butler eingeleitet wird, das erfreulich unverständlich ist. Auch an dieser Stelle wird man also als Leser nicht enttäuscht.

"Der Wahnsinn der Massen"
Douglas Murray über die Diktatur der Minderheiten
Auch der Kampf gegen Islamophobie liegt Titania natürlich am Herzen. Mit Entrüstung verweist sie auf den Fall einer gewissen Sara Iftekhar, die selber durch und durch „woke“ ist, angefangen vom Kampf für die Umwelt bis hin zum Protest gegen alle möglichen Vorurteile. Ms Iftekhar ist eine junge muslimische Frau und Jurastudentin, die 2018 Finalistin im Miss England-Schönheitswettbewerb war, und beim Wettbewerb ein allerdings recht diskretes Kopftuch trug. Wie stark Muslime in Großbritannien immer noch ausgegrenzt würden, merke man daran, so Titania, dass Ms. Iftekhar am Wettbewerb wohl kaum hätte teilnehmen können, wenn sie in einer Burka aufgetreten wäre. Wer wollte ihr da widersprechen?  Das Meiste, was man an Kritik an islamischen Ländern höre, sei ganz ungerechtfertigt, fügt Titania hinzu. Saudi-Arabien etwa werde vorgeworfen, es sei frauenfeindlich. Aber wenn das so wäre, wie könne man dann erklären, dass noch nie ein saudisches Scharia-Gericht einen Mann wegen eines frauenfeindlichen Hass-Verbrechens verurteilt habe. Gar so groß könne das Problem also nicht sein. In der Tat. 

Titania hält sich lieber an die Erkenntnis, die das „Muslim Girl Magazine“ (ein Blog in den USA) verbreitet: Der Prophet Mohammed sei nicht nur ein Feminist gewesen (das wussten wir ja eigentlich schon), sondern ein „intersektionaler Feminist“, dem es immer und überall um ein Maximum an Inklusion gegangen sei. Auch hier könnte man meinen, dass Titania sich diese Äußerung ausgedacht habe. Aber nein, man kann sie im Internet auf der Seite https://www.facebook.com/muslimgirlarmy/ wirklich finden, und in ähnlicher Form auch auf verwandten Seiten. „You can’t make it up“, ist man versucht auszurufen, man kann es sich nicht ausdenken.

In der „Wokeness“ liegt die Rettung

Nimmt man das Buch Woke zum ersten Mal in die Hand, erscheinen einem viele Aussagen grotesk und unglaubwürdig. Im Zuge der Lektüre gewinnen Titanias Gedanken jedoch eine zunehmende Plausibilität, zumal sie dem entsprechen, was man in etwas milderer Form häufig genug nicht nur im Guardian oder in der New York Times, sondern auch in deutschen Zeitungen wie der Zeit lesen oder an Universitäten hören kann, wo namentlich manche Rektorate und ihre Stabsstellen für „gender and diversity“ eine entsprechende Philosophie der „Diversität“ und der „Buntheit“ auch bei uns mit Nachdruck vertreten. Und wer weiß, vielleicht hat Titania ja am Ende Recht. Wären wir nicht alle bessere Menschen, wenn wir so „woke“ wären wie sie? Manche von uns werden da vielleicht noch Zweifel haben, aber sie sind sicher gut beraten, diese Zweifel nicht öffentlich zu äußern, namentlich, wenn sie Leser, oder noch viel schlimmer, Autoren von Tichys Einblick sind, was sie ohnehin schon verdächtig macht. Sonst könnte jemand auf die Idee kommen, sie seien ein kulturelles und soziales „Krebsgeschwür“, wenn es gestattet ist, in diesem Kontext einen der größten oder doch zumindest langlebigsten Europapolitiker der vergangenen 100 Jahre zu zitieren. Oder es findet sich ein Millionenerbe, der mit jeder Faser seines Wesens das verkörpert, was man in Frankreich „boboitude“ nennt, und der im Namen einer höheren politischen Moral zur Hexenjagd auf Andersdenkende aufruft. Also folgen wir doch lieber Titania, solange es noch Zeit ist, denn „woke“ zu werden, kann in diesen düsteren Zeiten auch eine Überlebensstrategie sein.

Titania McGrath, Woke: A Guide to Social Justice, London 2019, 150 S.

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