Tichys Einblick
Warum fällt der Groschen nicht?

Sozialismus – Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt

Es ist eine erstaunliche PR-Leistung der Sozialisten, ein Wirtschaftssystem, das Hunger und Armut so erfolgreich bekämpft hat, wie kein anderes zuvor, als »menschenverachtenden Raubtierkapitalismus« zu denunzieren, während der »Sozialismus« trotz zahlloser Opfer und vielfältigen Scheiterns verklärt wird.

Im Mai 2018 jährte sich der 200. Geburtstag von Karl Marx. In allen Medien fand ein großer Trubel um diesen Tag statt. Die FAZ brachte im Feuilleton unter der großlettrigen Überschrift »Der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt« über zwei ganze Seiten Marx-Zitate, die belegen sollten, wie inspirierend und aktuell er als Denker sei. Wichtig sei es, so hieß es in dem Artikel, dass man »Marx mit dem Kopf von heute liest und in seinem Werk weniger Begründung für ein System sucht und mehr für die Anregung für neue Gedanken«. Neue Gedanken? Ja, es ist natürlich schöner und aufbauender, sich mit über 170 Jahre alten Marx-Zitaten zu beschäftigen und sich »neue Gedanken« auszudenken als damit, was seitdem im Namen der marxistischen Ideologie im real existierenden Sozialismus angerichtet wurde, der mehr als 100 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Warum entfalten sozialistische Ideen wieder eine so große Attraktivität, obwohl alle sozialistischen Experimente in den vergangenen 100 Jahren gescheitert sind? Ein neues Buch gibt überzeugende Antworten. Kristian Niemietz nennt über zwei Dutzend sozialistische Experimente, die alle ausnahmslos zum Fehlschlag gerieten. Man könnte sogar noch mehr aufzählen, denn auch die Experimente des sogenannten »demokratischen Sozialismus« – etwa in Schweden und Großbritannien in den 1970er-Jahren – sind gescheitert.

Doch wenn man Sozialisten mit Beispielen aus der Geschichte konfrontiert, entgegen sie stets: Diese Beispiele bewiesen gar nichts, da es sich in Wahrheit nicht um sozialistische Modelle gehandelt habe. Intellektuelle sahen jedoch genau dies in der »Blütezeit«, die die meisten sozialistischen Experimente erlebten, ganz anders, wie Niemietz an vielen Beispielen belegt.

Folge der Pandemie, nicht des Kapitalismus:
Die weltweite Armut steigt wieder
Der jüngste Fall ist Venezuela. 1970 war es noch das reichste Land Lateinamerikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, Griechenland oder Israel und nur 13 Prozent niedriger als das von Großbritannien. Der Abschwung des südamerikanischen Landes begann in jener Dekade. Einer der Gründe für die Probleme war die starke Abhängigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, insbesondere ein außergewöhnlich überregulierter Arbeitsmarkt, der seit 1974 durch immer neue Vorschriften weiter eingeschränkt wurde. In kaum einem anderen Land Lateinamerikas (und weltweit) wurde der Arbeitsmarkt mit einem so engmaschigen Netz von Regulierungen überzogen. Viele Menschen in Venezuela hofften, der 1999 an die Regierung gelangte charismatische Sozialist Hugo Chávez würde die Probleme des Landes – Korruption, Armut, wirtschaftlicher Niedergang – lösen. Chávez war indes nicht nur Hoffnungsträger für viele arme Menschen in Venezuela, sondern er entfesselte die Utopie-Sehnsüchte der Linken in Europa und Nordamerika mit der Parole vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.

Nachdem Ende der 1980er-Jahre der Sozialismus in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten zusammengebrochen war und sich die Chinesen auf den Weg vom Sozialismus zum Kapitalismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnte. Nordkorea und Kuba als einzig verbliebene kommunistische Staaten eigneten sich dafür nicht so recht. Hugo Chávez füllte die Lücke. Der europapolitische Sprecher der Linkspartei im Deutschen Bundestag schwärmte: »Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die ökonomischen Probleme zu lösen«, und Sahra Wagenknecht pries ihn als »großen Präsidenten«, der mit seinem ganzen Leben für den »Kampf um Gerechtigkeit und Würde« stand. Chávez habe bewiesen, dass »ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei«. Heute, wo die Menschen in Venezuela hungern und die Inflation so hoch ist wie in keinem anderen Land, erklären uns die Sozialisten, Venezuela sei ja niemals ein sozialistisches Land gewesen.

Niemietz zeigt, dass sogar Massenmörder wie Josef Stalin in gleicher Weise von führenden Intellektuellen ihrer Zeit begeistert gefeiert wurden. Es handelte sich nicht um Außenseiter, sondern um renommierte Schriftsteller und Wissenschaftler. Selbst die Konzentrationslager in der Sowjetunion, die Gulags, wurden verharmlost und manchmal sogar bewundert. Ja, es gab auch kritische Stimmen unter sozialistischen Intellektuellen zur Sowjetunion. Aber bei vielen von ihnen war der Grund für ihre Distanz, dass sie als Maßstab der Beurteilung weltfremde Utopien anlegten, vor denen kein System auf der Welt Bestand gehabt hätte.

Viele westliche Intellektuelle begeisterten sich in den 1970er-Jahren für Mao Zedong und die von ihm initiierte Kulturrevolution, obwohl allein während des größten sozialistischen Experimentes – dem »Großen Sprung nach vorn« Ende der 1950er-Jahre – 45 Millionen Menschen starben. Ich war damals Teenager und teilte die Begeisterung.

Kapitalistische Utopie?
Wie sieht der „ideale“ Kapitalismus aus?
Nach Maos Tod, als infolge der Reformpolitik von Deng Xiaoping Hunderte Millionen Chinesen aus bitterer Armut befreit wurden, begeisterten sich diese Intellektuellen nicht mehr für China, wie sie das zu Maos Zeiten getan hatten. Dabei zeigt gerade das Beispiel des »Reichs der Mitte«, wie segensreich der Kapitalismus ist. 1980 lebten 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut, heute ist ihr Anteil auf unter 1 Prozent gesunken.

Im Westen herrscht ein großes Missverständnis über die Ursachen von Chinas ökonomischem Erfolg. Viele Menschen glauben, das Land habe wirtschaftlich einen genialen »Dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus entdeckt, und der große Einfluss des Staates sei der Grund für den Erfolg. Ich traf 2018 den renommierten chinesischen Ökonomen Zhang Weiying in Peking, der maßgeblich an den Wirtschaftsreformen beteiligt war. Er widersprach dieser Interpretation: Die Tatsache, dass der Staat heute noch eine wichtige Rolle in China spiele, komme einfach daher, weil man ursprünglich von einem Zustand einer fast 100-prozentigen Staatswirtschaft komme. Der Erfolg Chinas basiere darauf, dass die Rolle des Staates sukzessive zurückgedrängt worden sei, das Privateigentum eingeführt und dem Markt mehr Raum gegeben wurde. »Chinas wirtschaftlicher Aufstieg erfolgte nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates«, betonte Zhang Weiying in dem Gespräch immer wieder. Heute ist die Privatwirtschaft Hauptmotor des chinesischen Wirtschaftswachstums. Sie trägt 60 Prozent zum chinesischen BIP bei, ist für 70 Prozent der Innovation, 80 Prozent der städtischen Beschäftigung und 90 Prozent der neuen Arbeitsplätze verantwortlich.

Darüber hinaus ist der private Sektor für 70 Prozent der Investitionen und 90 Prozent der Exporte verantwortlich. Das Beispiel Chinas belegt einmal mehr, dass Marktwirtschaft und Privateigentum der sozialistischen Wirtschaftsweise überlegen sind. In seiner historischen Analyse zeigt Niemietz, dass bislang jedes sozialistische Experiment drei Phasen durchlief: In einer ersten Phase sind Intellektuelle weltweit begeistert und preisen das System in den höchsten Tönen. Auf die Phase des Enthusiasmus folgt stets eine zweite Phase der Ernüchterung: Das System und seine »Errungenschaften« werden zwar noch verteidigt, aber nicht mehr unkritisch unterstützt. Mängel werden zugegeben, aber gerne als Wirken von kapitalistischen Saboteuren, ausländischen Kräften oder als Ergebnis des Boykotts durch den US-Imperialismus dargestellt. Schließlich folgt die dritte Phase, in der bestritten wird, dass es sich überhaupt um eine Form des Sozialismus gehandelt habe. Nun heißt es, das betreffende Land – beispielsweise die Sowjetunion, China oder Venezuela – sei in Wahrheit niemals sozialistisch gewesen. Diese Argumentation, so Niemietz, wird jedoch selten in der ersten Phase nach Beginn eines neuen sozialistischen Experimentes vorgetragen, sondern wird zur herrschenden Sicht erst nach dem Scheitern des sozialistischen Experimentes.

Dem real existierenden Kapitalismus wird heute von Sozialisten in westlichen Ländern kein irgendwann in der Geschichte real existierender Sozialismus entgegengesetzt, sondern eine vage Utopie einer »gerechten« Gesellschaft.

Die KPdSU löste sich auf, die SED niemand
40 Jahre Sozialismus - eine vergessene Lektion
Die Sozialisten, die sich heute kritisch zum »Stalinismus« und zu anderen Formen des historisch real existierenden Sozialismus äußern, versäumen es jedoch stets, die ökonomischen Gründe für das Scheitern dieser Systeme zu analysieren. In ihren Analysen werden fehlende demokratische Rechte und fehlende Freiheiten in diesen Systemen kritisiert, aber die Alternative, die dazu formuliert wird, ist eine vage Vision von allumfassender »Demokratisierung der Wirtschaft« oder »Arbeiterkontrolle«. Doch dies sind genau jene Postulate, unter denen auch die später gescheiterten sozialistischen Systeme in der Sowjetunion und anderen Ländern ursprünglich einmal angetreten sind.

Dieses Buch sollte eigentlich Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten sein, wo heute oft das Lied der Kapitalismuskritik angestimmt wird. Hegel meinte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.«

Vielleicht ist dieses Urteil zu streng. Aber in der Tat sind die meisten Menschen nicht in der Lage, bestimmte historische Erfahrungen zu verallgemeinern. Aus den mannigfachen Beispielen, wo mehr Kapitalismus zu mehr Wohlstand führte, wollen viele Menschen nicht die naheliegenden Lehren ziehen, ebenso wenig wie aus dem Scheitern aller jemals auf der Welt probierten Varianten des Sozialismus.

Sozialisten können kein einziges Beispiel eines real existierenden, funktionierenden Sozialismus nennen. Im Kopf kann man sich alles ausdenken. Und wenn man Konstrukte einer »perfekten« und »idealen« Gesellschaft mit der Realität vergleicht, muss die Realität immer schlecht abschneiden. Das ist genauso fair, wie wenn jemand Ihre Ehe mit der Schilderung der perfekten Liebesromanze in einem kitschigen Groschenroman vergleichen würde.

Als der Kapitalismus vor etwa 200 Jahren entstand, lebten mehr als 90 Prozent der Menschen auf der Welt in extremer Armut. Das Durchschnittseinkommen entsprach dem in den ärmsten afrikanischen Staaten von heute. Durch die Entwicklung des Kapitalismus wurde der Anteil der extrem armen Menschen auf der Welt auf unter 10 Prozent reduziert – und dies trotz der Versiebenfachung der Weltbevölkerung in dieser Zeit. Die Hälfte dieser Reduktion vollzog sich in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten, die aus Sicht von Kapitalismuskritikern wie dem französischen Ökonomen Thomas Piketty gerade besonders schlimme Jahre waren, weil die »Schere zwischen Arm und Reich« in einigen entwickelten Ländern immer weiter auseinandergegangen sei.

Es ist eine erstaunliche PR-Leistung der Sozialisten, dass sie das System, das so erfolgreich bei der Bekämpfung von Hunger und Armut war wie kein anderes Wirtschaftssystem in der Geschichte, als »menschenverachtenden Raubtierkapitalismus« denunziert haben, während der Begriff »Sozialismus« heute wieder einen schönen Klang für viele Menschen hat. Wie den Sozialisten diese Meisterleistung gelungen ist, erfahren Sie in Kristian Niemietz‘ neuem Buch. Meine Bitte: Wenn Sie es gelesen haben, kaufen Sie noch mehr Exemplare und verschenken sie. Dies ist eines der wichtigsten Bücher, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind – helfen Sie mit, es zu verbreiten!

Dieser Beitrag von Dr. Rainer Zitelmann erschien als Vorwort in: Kristian Niemietz, Sozialismus – Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt. FBV, 320 Seiten, 22,99 €


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