Tichys Einblick
Bröckelnde Barrikaden

Unsere Gegenwart lässt sich ohne das Phänomen Sarrazin nicht begreifen

Die Gegner Sarrazins haben in der Vergangenheit den Kürzeren gezogen, weil sie ihn unredlich, moralisierend oder persönlich attackierten, statt ihn mit sachlichen Fragen zu konfrontieren. Das scheint sich zu ändern: auf einmal beschäftigt man sich inhaltlich mit Sarrazin, nicht mehr oberflächlich-diffamierend, sondern konstruktiv.

IMAGO/IPON

Bröckeln die Barrikaden? Man sollte nicht zu viel erwarten, wenn es um Spaltungen, Blasen und Echoräume in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft geht – nicht nur in Deutschland. Doch es gibt zaghafte Anzeichen, dass manche Fronten nicht mehr so verhärtet sind wie noch vor Kurzem. Häufig bemüht wurde in den letzten Jahren der Spruch des US-Gewerkschafters Nicholas Klein, dass dem Triumph zuerst Ignoranz, Verspottung und Bekämpfung vorausgehen. Setzt man diese Entwicklung als Normalität voraus, dann hat sich in der Causa Thilo Sarrazin tatsächlich etwas getan.

Wer die Buchvorstellung von „Die Vernunft und ihre Feinde“ miterlebt hat, bemerkte eine überraschende, dafür umso echtere Diversität in der Zusammensetzung der anwesenden Pressevertreter. Es hatten sich nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ eingefunden. Das war umso erstaunlicher, weil Sarrazin nach dem Tumult um „Deutschland schafft sich ab“ weitere Bücher geschrieben hatte, die aber mit jeder Neuerscheinung umso stärker von den etablierten Medien ignoriert worden waren.

Die Diskrepanz zwischen veröffentlichter Rezeption und der tatsächlichen Größe der Leserschaft zeigte sich bereits bei der Einführung: Christian Raap vom Langen Müller Verlag betonte, dass mit Sarrazin und dem Laudator Uwe Tellkamp zwei der erfolgreichsten, wenn nicht die erfolgreichsten Autoren Deutschlands – der eine in der Sparte Sachbuch, der andere in der Sparte Belletristik – zugegen seien. Ganz offenbar ist es also eine als „Minderheit“ marginalisierte, tatsächlich aber „leise Mehrheit“ in Deutschland, die am liebsten deren Bücher liest. Vielleicht stellt sich auch eines Tages heraus, dass es keine Minderheit in Deutschland gibt, die im Kampf gegen eine etwaige Mehrheit steht, sondern vielmehr eine ganze Reihe von Minderheiten, die nicht ohneeinander auskommen.

Video der Buchpräsentation
Thilo Sarrazin - Die Ampelkoalition opfert die Vernunft dem Wunschdenken
Dass sich der Deutschlandfunk, der Spiegel, die FAZ und die Welt einfanden, und sich neben die unliebsamen Kollegen der Jungen Freiheit, der Achse des Guten und auch von Tichys Einblick setzten, war dabei nur das zweite Zeichen. Das erste war ihre Anwesenheit. Die Buchvorstellung war proppenvoll – was wohl auch der Veranstalter nicht so vorhergesehen hatte, der sich später nicht nur darüber, sondern auch über die Berichterstattung erfreut zeigte.

Freilich, einige Kollegen zogen es vor, Tellkamp danach zu fragen, warum dieser so „zornig“ sei, oder warfen beiden Autoren vor, sie hätten auch keine Lösungen zu bieten. Die Frage einer „Welt“-Journalistin beeindruckte aber vor allem deswegen, weil sie Sarrazins Auffassung über die Aufgabe der Philosophie kritisierte; ein Feld, von dem man merkte, dass sie es möglicherweise tiefer durchdrungen hatte als der Buchautor, sind Geisteswissenschaften doch häufig ein Territorium, auf dem der zahlenaffine, ehemalige Finanzsenator nicht so zu überzeugen weiß wie bei Statistiken.

Die Gegner Sarrazins haben in der Vergangenheit auch deswegen den Kürzeren gezogen, weil sie ihn auf unredliche, moralisierende oder persönliche Art und Weise attackierten, statt ihn mit sachlichen Fragen zu konfrontieren. Zur letzteren Gruppe gehörte auch die Nachfrage, ob Sarrazin ausschließe, selbst einer Ideologie anzuhängen. Der bestritt dies: er vertrete nach Max Weber schließlich nur „Standpunkte“, die er überprüfe und ändere, wenn er eines Besseren überzeugt würde. Der FAZ-Vertreter versuchte sogar, Sarrazin gegen Tellkamp auszuspielen, hat doch Sarrazin in seinem Buch eine sehr deutliche Haltung gegen Impfgegner an den Tag gelegt und in einer Passage seinem ehemaligen SPD-Parteigenossen Lauterbach zugestimmt.

Das sind harte und kritische Fragen, wie man sie eigentlich vor über einem Jahrzehnt erwartet hätte, statt eines reflexhaft vorgebrachten Rassismusvorwurfes oder der unreflektiert wiederholten Äußerung Merkels, die das (ungelesene!) Buch als „nicht hilfreich“ abtat.

Tellkamp würdigt Sarrazin
Öfen setzen. Laudatio auf einen Unbequemen
Auffällig zahlreich sind auch die Berichte über die Buchvorstellung. Offenbar kann oder will man Sarrazin nicht mehr ignorieren. Der Cicero, die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, die FAZ, die Welt, der Deutschlandfunk, der Tagesspiegel – sie alle hätten auch nach der wuchtigen Laudatio Tellkamps die Vorgänge schlicht unkommentiert lassen können. Selbst wenn sie diese nur anrissen, womöglich sogar einordneten, so war doch zumindest die Möglichkeit offen, dass ein Leser sich näher informieren konnte – und die Suchfunktion bemühte, um etwa den ganzen Text zu lesen.

Es steht außer Frage, dass die Besprechung für viele ein bloßer Aufschlag war, um entweder Sarrazins Aufteilung in Ideologen und Vernünftige als „Groupthink“ oder Schwarz-Weiß-Denken zu deklassieren (wir wünschten, diese Differenzierung hätte in Fragen der Euro-, der Migrations- und Corona-Krise auch aufseiten des etablierten Medienbetriebs bestanden) oder neuerlich den Vorwurf von Biologismus und Darwinismus zu bemühen. Alte Affekte sterben nicht über Nacht aus.

Es gibt aber auch in dieser Kritik berechtigte Einwände, so die Entwertung eines jeden normativen Gedankens durch den Sarrazin’schen Rationalismus, ein Phänomen, das grundlegend verantwortlich für den Relativismus der Gegenwart und das Ende der alten Ordnung ist; und zugleich etwas, das auch Sarrazin bewusst ist, der eingesteht, dass die Aufklärung eben jene Fundamente frisst, auf denen sie gründet. Es könnte sich als Irrweg erweisen, Religion mit Ideologie gleichzusetzen, zu verkennen, dass Vernunft Transzendenzerfahrung einschließt und Vernunft mit Rationalismus zu verwechseln.

Doch spätestens bei diesem Gedankenfaden wird klar: auf einmal beschäftigt man sich inhaltlich mit Sarrazin, nicht mehr oberflächlich-diffamierend, sondern konstruktiv. Man nimmt auch seine Kritik an der sogenannten „Stürmung des Kapitols“ und an Rechten wahr, die zu sehr auf „Abstammung, Tradition und Herkunft“ fixiert sind. Seine Einstellung zum russischen Angriff auf die Ukraine wie auch sein vehementer Einsatz für die Impfung wird interessiert zur Kenntnis genommen.

Interview
Thilo Sarrazin: Portrait eines verwechselten Unverwechselbaren
Plötzlich erkennt man nach so vielen Jahren der Diffamierung und Distanzierung, dass Sarrazin eine vielschichtige Persönlichkeit mit verschiedenen Interessen und Ansichten ist, die eben nicht jenem Abziehbild entsprechen, das man jahrelang mitaufgebaut hat. Es bleibt der Eindruck eines Mannes, der in der Tat ein klassischer Sozialdemokrat materialistisch-aufgeklärten Ursprungs ist, dessen Berufung auf die Vernunft und Evolutionstheorie aber bereits so befremdlich anmutet, dass man ihn automatisch „rechts“ einordnen musste.

Das ist jedoch alles nur möglich, wenn man zuvor das Subjekt zum Objekt degradiert hat.  Der Erkenntnis, dass auch Sarrazin ein menschliches Individuum ist, ging die Entmenschlichung zur „zuckenden Menschenkarikatur“ (Mely Kiyak) voran. Langsam rückt das journalistische Milieu wieder in Gefilde vor, in denen es Sarrazin mehr zugesteht, als bloßes Feindbild zu sein.

Für seine Leser, die das neue Buch auf Platz 3 der Bestsellerlisten befördert haben, war das zwar schon vorher klar. Doch so langsam dämmert es auch in den Redaktionsstuben, dass man die deutsche Gegenwart nicht mehr begreift, wenn man sich nicht mit dem Phänomen Sarrazin und den Gründen für seinen Erfolg beschäftigt. Die Zeiten, in denen man glaubte, ihn bekämpfen zu können, indem man ihn ignorierte, sind offenkundig vorbei.


Thilo Sarrazin, Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Ideologien ideologischen Denkens. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 392 Seiten, 26,00 €.


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