Tichys Einblick
Die Horrorvision „1984“ wird immer realer

Neue Lügen aus dem Ministerium für Wahrheit – Orwell gestern und heute

George Orwells „1984“ – ein Klassiker der Weltliteratur – ist längst keine Schullektüre mehr. Dabei ist sein Portrait eines totalitären Überwachungsstaates ein Werk, an dem sich unsere politisch korrekte, dabei zutiefst verlogene und immer oppressivere polit-mediale Welt der Gegenwart wiedererkennen und unsere eigene Wahrnehmung schärfen ließe.

Als der vormalige, zu diesem Zeitpunkt bereits vom Sozialismus geheilte Ex-Sozialist George Orwell im Jahr 1948 seine düstere Dystopie „1984“ (84 ist ein bewusster Zahlendreher der Zahl 48) veröffentlichte, verfolgte er eine aufklärerische Absicht: Er wollte den Westen, die „freie Welt“, erschüttern mit der auf den ersten Blick nur fiktiven Beschreibung eines inhumanen, zerstörerischen totalen Überwachungs- und Indoktrinationsstaates. Auf den ersten Blick „fiktiv“: Denn tatsächlich hatte Orwell das stalinistische Terrorsystem im Auge. Die „freie Welt“ gruselte sich mehr oder weniger amüsiert-saturiert ob der von Orwell beschriebenen Auswüchse des „Big-Brother“-Systems“. Das war’s denn auch schon.

Auf die Idee, daß ein Orwell‘sches System auch im Westen der Welt Realität werden könnte, kam man über Jahrzehnte hinweg nicht. Nicht einmal die Tatsache, daß die Lektüre von „1984“ in der DDR verboten war, interessierte. Allenfalls in den 1980er Jahren, als die kulturmarxistischen Sprachregelungen und Denkverbote der „political correctness“ aus den USA nach Europa herüberschwappten, erinnerten sich Literaturkundige des „Ministeriums für Wahrheit“ (Mini-Wahr) des „Big Brother“.

Machen wir einen großen zeitlichen Sprung. Heute kann ich, der Rezensent dieses hier vorgestellten Buches, als Redner ein zunächst lautes, dann ersticktes Lachen unter meinen Zuhörern ernten, wenn ich mit ernster Mimik sage: „Sollten Sie Orwells ‚1984‘ nicht gelesen haben, so können sie es sich heute sparen. Führen sie einfach vier Wochen lang ein politisch-mediales Tagebuch. Dann haben Sie Orwell 2.0“.

»Ein unverbrüchlich menschliches Buch«
George Orwell: Auf der Suche nach Wahrheit in einer Welt voller Lügen
Wer sich der Mühe des Tagebuchschreibens nicht unterziehen will, dem hat ein Autor namens „Georg Odergut“ mit seinem in diesem Jahr geschienenen Buch „1984 – Wir wurden gewarnt. Wieviel von Orwells Roman ist bereits Realität?“ diese Arbeit abgenommen. “Georg Odergut“ – das ist ein fiktiver Name, die wörtliche Eindeutschung des Namens „George Orwell“. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich, wie die Einleitung verrät, ein Autorenteam, das sich „für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit“ einsetzt. „Zu Freiheit gehört“ – so die Verfasser weiter – „aber auch Verantwortung. Ein Staat, der seinen Bürgern jede Verantwortung abnimmt und sie gegen alle Risiken absichert, ist per se gefährlich, weil er mehr oder weniger total sein muß. Und er verhindert – verdrehterweise – bereits in der Schule, daß Kinder sich zu wirklich erwachsenen Menschen entwickeln.“

So ist denn auch die Biographie, die „Georg Odergut“ dem Buch anfügt, fiktiv. Aber man kann erahnen, daß die Autoren leidvolle DDR-Erfahrungen, vielleicht als Kinder nicht sonderlich stromlinienförmiger Eltern sowie als Schüler und junge Erwachsene gemacht haben.

Was hat „Georg Odergut“ gesammelt und analysiert? Er hat bis hinein ins Jahr 2022 markante Strukturmerkmale und Unterdrückungsmechanismen des „Big-Brother“-Systems herausgegriffen und inkl. „Corona“ und „Klima“ den Realitäten im „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ (Steinmeier 2020) gegenübergestellt. (Der Russland-Ukraine-Krieg kommt noch nicht vor, das Buch ist eine Woche vor dem Überfall Putins auf die Ukraine erschienen).

Wir wurden gewarnt
Wie viel von Orwells Roman »1984« ist bereits Realität?
Gegenübergestellt werden das Damals („1984“) und das Heute: Zensur, Manipulation der Geschichtsschreibung, Politisierung der Sexualität, Zerstörung der Familie, Manipulation der Familie, Verherrlichung des Krieges, Planwirtschaft, mediale Hofberichterstattung, Hass-Tage, Überwachungsstaat, Denunziationseinrichtungen, Vergewaltigung der Sprache, Erfinden von Unpersonen, Verbot von Büchern, Einheitspartei und so weiter.

Georg Odergut tut dies des schnellen Überblicks wegen zunächst im ersten Viertel des Buches im „staccato“, um dann alles auf den Seiten 73 bis 290 zu vertiefen und unwiderlegbar zu untermauern. Der Dystopie „1984“ womöglich weniger Kundige werden erschrecken, wie sich hier von Monat zu Monat mehr Parallelen ergeben. Die politisch-mediale „Elite“ wird wegen des Buches von Georg Odergut zwar nicht erschrecken, denn sie wird das Buch aktiv ignorieren oder als „Verschwörungstheorie“ klassifizieren.

Daß Orwells „1984“ allmählich gar auf einem „No-Go“-Index landet, ist abzusehen. Anfang 2022 hat die englische Universität Northampton schon mal eine „Triggerwarnung“ für „1984“ herausgegeben. Denn das Buch enthalte Inhalte, die manche Studenten vielleicht „beleidigend und verstörend“ finden könnten, heißt es.

Gewarnt wird, daß hier „herausfordernde Themen im Zusammenhang mit Gewalt, Geschlecht, Sexualität, Klasse, Rasse, Missbrauch, sexuellem Missbrauch, politischen Ideen und beleidigender Sprache behandelt“ werden. Klar, mit einer „Generation Schneeflocke“ kann man jedes totalitäre System betreiben.

Weckruf gegen den Mainstream
Anleitung zum Selberdenken - Wider den Gehorsam als erste Bürgerplicht
Angela Merkel, wenn sie denn außer ihren Ordensurkunden und den damit verbundenen medialen Hagiographien überhaupt noch Texte in die Hand nimmt, würde dieses Buch wie damals Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ als „nicht hilfreich“ abtun. „Hilfreich“ – gerade das aber ist die 1984/2023-Kollage des Georg Odergut. Auf daß der deutsche Michel, der ewig brave Untertan, aufwache!

So behält die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley Recht mit ihrer Prognose von 1991: „… die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“

Vor diesem Hintergrund ist dieses Buch ein pädagogisch überfällig und politisch höchst wertvolles, das indes – als Hausaufgabe für die Leser – de facto wöchentlich fortgeschrieben werden könnte. Es ist ein Weckruf, didaktisch übrigens bestens aufbereitet (vermutlich sind die Autoren Lehrer) und mit sehr guten weiterführenden Lektüre- und Filmempfehlungen versehen.


 Georg Odergut, 1984 – Wir wurden gewarnt. Wieviel von Orwells Roman ist bereits Realität? Manuscriptum, Klappenbroschur, 312 Seiten, 26,00 €


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