Tichys Einblick
„The games must go on“

München 1972: die heiteren Spiele, die über Nacht zum Albtraum wurden

München, einst Hauptstadt der Bewegung, bewegt nur noch die Herzen. Beamte in Uniform sind nicht erwünscht. Die 4000 Polizisten sind unbewaffnet und tragen modisches Himmelblau im Freizeitlook. Wer wird denn im Glückstaumel Böses denken? Am 26. August vor 50 Jahren werden die Olympischen Spiele eröffnet.

Es sind in jeder Hinsicht heitere Spiele, völkerverbindend, frisch, fröhlich, frei. Da hat ein Land seine Lektion perfekt gelernt. Die Welt staunt über die Deutschen und die Deutschen über sich selbst. Jedes Detail, vom transparenten Zeltdach bis zum bunt gestreiften Maskottchendackel Waldi ist eine Antithese zu Hitlers großer Propagandashow 1936 in Berlin. Leni Riefenstahl wäre verzweifelt. Kein Lichtdom über dem Stadion. Kein Körperkult.

Der Star der Spiele ist ein amerikanischer Jude namens Mark Spitz, der sieben Mal zu Goldmedaillen schwimmt. Die Deutschen haben auch einiges zu bieten: ein Fräuleinwunder. Die unbeschwerte sechzehnjährige Ulrike Meyfarth stellt mit 1,92 im Hochsprung den Weltrekord ein und gewinnt als bisher jüngste Leichtathletin Gold.

München, einst Hauptstadt der Bewegung, bewegt nur noch die Herzen. Da sind Beamte in Uniform nicht erwünscht. Die 4000 Polizisten sind unbewaffnet und tragen modisches Himmelblau im Freizeitlook. Wer wird denn im Glückstaumel Böses denken? Am 26. August vor 50 Jahren werden die Olympischen Spiele eröffnet.

Am 5. September, einem Dienstag, ist die Welt unversehens eine andere. Morgens um zehn Minuten nach vier Uhr übersteigen acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September den Zaun des Olympischen Dorfs. Monteure der Post beobachten sie, werden aber nicht befragt, sonst wüsste die Polizei, die kurz darauf alarmiert wird, wenigstens die Zahl der Terroristen. Mit Kalaschnikows bewaffnet, dringen diese in die nicht einmal abgesperrte Wohnung der israelischen Mannschaft im ersten Stock der Connollystraße 31 ein und nehmen elf Geiseln.

TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE
Vierundvierzig Tage: Deutschland in der Hand der Terroristen
Ringer-Trainer Moshe Weinberg versucht zu fliehen und wird erschossen. Gewichtheber Josef Romano erliegt binnen zwei Stunden seinen Schussverletzungen. Kein Arzt durfte zu ihm. Man muss sich das Geschehen minutiös in Erinnerung rufen, um zu begreifen, was unfähige Politiker und Beamte da (mit-)anrichten. Erst um 5.21 Uhr werden Polizei, Organisationskomitee und Rettungsdienst alarmiert. Um 6.40 Uhr versuchen der Bürgermeister des Olympischen Dorfes, Walther Tröger, und der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume, mit den Terroristen zu verhandeln.

Pannen, Leichtsinn, Fehler

Die Terroristen fordern die Freilassung von über 200 in Israel inhaftierten Palästinensern, des japanischen Terroristen Kōzō Okamoto sowie der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Israel lehnt die Erpressung ab. Um 8.50 Uhr stellen die Terroristen ein erstes Ultimatum, fordern freies Geleit für sich und die Geiseln in eine arabische Hauptstadt per Flugzeug. Sie drohen, die Geiseln zu erschießen.

Erst um 10.00 Uhr tritt der Krisenstab mit Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher zusammen; in Bonn und Tel Aviv tagen die Kabinette. Das Ultimatum läuft um 12.00 Uhr ab, wird bis 15.00 Uhr verlängert. Vergeblich bieten sich Genscher, der bayerische Innenminister Bruno Merk und andere Offizielle als Ersatzgeiseln an. Einige Terroristen zeigen sich auf dem Balkon. Um 17.00 Uhr wird das Ultimatum um weitere fünf Stunden verlängert. Die neun noch lebenden Geiseln sind damit einverstanden, zusammen mit den Terroristen nach Kairo geflogen zu werden.

Um 22.06 Uhr besteigen alle zusammen einen Bus, der sie zu zwei Hubschraubern des Grenzschutzes bringt, die, von der Polizei immer noch unbehelligt, zum Fliegerhorst Fürstenfeldbruck fliegen. Mit laufenden Triebwerken, aber fast leeren Tanks steht dort eine Boeing 727 bereit. Als Besatzung getarnt, wartet ein Freiwilligenkommando lediglich mit Standard-Dienstpistolen bewaffneter Streifenbeamter an Bord. Sie tun das einzig Richtige und nehmen kurz vor dem Aufsetzen der Helikopter Reißaus.

Weil die Polizei immer noch mit fünf Terroristen rechnet, warten nur fünf Schützen auf acht Terroristen. Es sind für solche Einsätze nicht trainierte Polizisten mit untauglichen Waffen, ohne Funkkontakt zueinander, ohne Nachtsichtgeräte.

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Zwei der Terroristen inspizieren das Flugzeug und stellen um 22.35 Uhr fest, dass kein Pilot bereitsteht. Als die beiden zu den Hubschraubern zurücklaufen, wird auf sie geschossen, aber nur einer getroffen. Der andere erreicht die Hubschrauber. Die hätten mit den Türen zum Kontrollturm landen sollen, sind jedoch mit der Schnauze voraus so gelandet, dass einer der fünf Polizeischützen ins Schussfeld der anderen gerät. Er liegt ohne Helm und Schutzweste hinter einer nur knöchelhohen Mauer auf dem Rollfeld und gibt keinen Schuss ab, um nicht irrtümlich beschossen zu werden. Erst als ein flüchtender Terrorist direkt auf ihn zuläuft, greift er zur Waffe. Er tötet den Mann, wird aber nun von frisch eingetroffener Polizeiverstärkung selbst für einen Terroristen gehalten. Er hat Glück. Er und ein neben ihm Schutz suchender Hubschrauberpilot werden vom friendly fire „nur“ schwer verletzt.

Die Falschmeldung des Jahres

Kurz nach Mitternacht tritt Conrad Ahlers, der Sprecher der Bundesregierung, vor die Presse und spricht von einer „glücklichen und gut verlaufenen Aktion“. Es ist die Falschmeldung des Jahres.

Auf dem Flugplatz geht die Tragödie erst richtig los. Gepanzerte Fahrzeuge der Polizei sind zu spät bestellt worden und treffen des starken Verkehrs und der vielen Schaulustigen wegen mit einer Stunde Verspätung ein. Den Terroristen wird die Aussichtslosigkeit ihres Anschlags bewusst. Während Ahlers spricht, es ist 00.10 Uhr, schießt einer auf die wehrlosen Geiseln im ersten Hubschrauber und wirft anschließend eine Handgranate in den zweiten. Erst um 01.32 Uhr schweigen die Waffen.

Es ist 02.40 Uhr, als Johnny Klein, der Pressesprecher der Spiele, die furchtbare Bilanz der „Befreiungsaktion“ verkündet. Im ersten Helikopter starben fünf Geiseln, im zweiten vier. Ein Schuss erwischte den Polizeiobermeister Anton Fliegerbauer tödlich. Wer genau wen getroffen hat, lässt sich nicht mehr klären.

Drei Terroristen überleben, fünf Terroristen sind tot. Sie werden später in Libyen mit militärischen Ehren begraben. Kurz vor Prozessbeginn gegen die überlebenden Attentäter, am 29. Oktober, entführen Palästinenser die Lufthansa-Maschine Kiel und pressen sie frei. Bonn gibt nach. Israel übt Rache. Der Geheimdienst Mossad jagt die Terroristen und ihre Hintermänner. „Zorn Gottes“ heißt die Operation, der auch Unschuldige zum Opfer fallen.

Nur einen halben Tag lang bleiben die Spiele unterbrochen. Dann heißt es: „The games must go on“. Man hat die sonore Stimme von IOC-Präsident Avery Brundage auf der Trauerfeier noch im Ohr. Der Chef der Spiele, Willi Daume, sagt: „Es ist schon so viel gemordet worden – wir wollten den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“

Eine Tragödie ist eine unaufhaltsame schicksalhafte Verstrickung. In diesem Sinne sind die Ereignisse keine Tragödie, sondern ein unfassbarer Skandal. Versäumnisse, Leichtsinn, Fehler, Pannen, Unvermögen. Gibt es politische Konsequenzen? Keiner der verantwortlichen Politiker wird zur Rechenschaft gezogen, auch die Polizeiführung nicht und nicht die für die Sicherheit der Spiele zuständigen Organisatoren. Immerhin: Bereits am 26. September wird die Grenzschutzgruppe 9 aufgestellt, Spezialisten für den Antiterroreinsatz, die 1977 bei der Befreiung der Geiseln der entführten „Landshut“ in Mogadischu ihre Sternstunde erleben.

Ein deutscher Sommer
Das erste Weltereignis in der Bundesrepublik: München 72
Olympia 72 aber steht nun auch dafür, dass die Deutschen für Illusionen und schönen Schein immer gern zu haben sind. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden reale Bedrohungen ausgeblendet oder auf die leichte Schulter genommen. Man will in München nicht nur heitere und friedliche Spiele ermöglichen, was auch bedeuten müsste, sie zu schützen, sondern die Besucher aus aller Welt sollen heiter und friedlich sein; falsch verstandene Willkommenskultur, damals schon. Nicht die Weltoffenheit ist das Problem, sondern diese Traumtänzerei.

Das Land feiert sich selbst

Sie passt indes in die Zeit. Willy Brandt ist Kanzler, ist erst im Jahr zuvor mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Die Bundesrepublik feiert sich selbst. Ende der Nachkriegszeit. 1972 hat aber selbst das Wirtschaftswunder bereits seinen Zenit überschritten, es will nur niemand zur Kenntnis nehmen, dass die demografische Kurve knickt. Das „Modell Deutschland“ ist Selbstbetrug.

Politiker und Bürger stehen aber mit der Realität auf Kriegsfuß. Die Deutschen genießen 1972 ein Sommermärchen. Doch sind die Ereignisse nur ein dramatischer Beleg für Heinrich Heines berühmte Zeilen aus dem „Wintermärchen“, wonach die Deutschen „im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten“ ausüben.

Der 5. September 1972 ist ein Schock, aber er ändert nichts an der herrschenden Mentalität. Das ist auch am 9. November 1989 zu sehen. Wieder regiert das „Glück der Geschichte“. Den „Wahnsinn“ des Mauerfalls halten die Deutschen für den Eintritt in ein Zeitalter des ewigen Friedens. Brüder und Schwestern, glaubt man in Bonn, ließen sich mittels D-Mark und Sozialstaat per Knopfdruck in Bundesbürger verwandeln. Als wäre alles nur eine Frage des guten Willens und der Portokasse.

Was aber, wenn Deutschland selbst zerbricht? An seinem Größenwahn, der immer alles zugleich haben will. Ausstieg aus allem, was nicht mehr zu den Idealen passt, und zugleich Einstieg in eine nachhaltige, diverse, supergerechte Weltgesellschaft. Die Macht des Willens ist eine deutsche Erfindung.

Umso enttäuschender, wenn die wahren Mächte dem deutschen Willen nicht gehorchen wollen. Dann übertreiben es die Deutschen mit ihrem Sicherheitsverlangen. Beispiel: Covid. Dann greift ein Regelungswahn, der auch wieder nur Illusion ist.

Die Deutschen stellen sich die Geschicke ihres Landes am liebsten vor wie dauerhaft heitere Spiele. Probleme werden ignoriert oder verdrängt oder beschönigt. Gerade erleben sie wieder eine Zeitenwende. Wir verstehen zwar die Welt nicht mehr, aber: The games must go on.

Markus Brauckmann / Gregor Schöllgen, München 72. Ein deutscher Sommer. DVA, Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten, 25,00 €.


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