Tichys Einblick
Erste Frau im Vorstand einer AG

Margarete Steiff – Die Unternehmerin mit dem Teddy-Bären

Der späteren Unternehmensgründerin wurde von ihrem Arzt als Kind prognostiziert, unfähig zu sein für »den Vollgenuss des irdischen Lebens wie für die Erfüllung der Ansprüche, welche die Gesellschaft an ihre einzelnen Glieder zu machen berechtigt ist.« Das sollte sich als großer Irrtum herausstellen.

In Deutschland kennen 95 Prozent der Menschen das Unternehmen Steiff – viele Kinder sind mit den Produkten aufgewachsen, den Stofftieren mit dem »Knopf im Ohr«. Älter als 100 Jahre sind laut Creditreform nur knapp 1,5 Prozent der aktiven deutschen Unternehmen. Das Durchschnittsalter schätzt die Wirtschaftsauskunftei auf nur 18 Jahre. Das Unternehmen Steiff ist 140 Jahre alt und macht mit etwa 1.700 Mitarbeitern jährlich einen Umsatz von über 100 Millionen Euro. Die Steiff-Produkte aus der Frühzeit des Unternehmens bis hin zu den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind zu begehrten Antiquitäten und Sammlerobjekten geworden und erzielen auf internationalen Auktionen Rekordpreise.

Für die Unternehmensgründerin Margarete Steiff stellte ihr Arzt, als sie noch ein Kind war, folgende Prognose auf: »unfähig für den Vollgenuss des irdischen Lebens wie für die spätere Erfüllung der Ansprüche, welche die Gesellschaft an ihre einzelnen Glieder zu machen berechtigt ist.« Das sollte sich als großer Irrtum herausstellen.

Margarete Steiff wurde 1847 als drittes von vier Kindern im schwäbischen Giengen geboren. In ihrem Tagebuch schreibt sie: »Mit 1 ½ Jahren wurde ich von einer Krankheit befallen, nach welcher ich nicht mehr gehen konnte, der linke Fuß war vollständig, der rechte teilweise gelähmt, auch der rechte Arm war sehr geschwächt.« Drei Jahre später diagnostizierte ein Arzt Kinderlähmung. Die Krankheit, eine Virusinfektion, beginnt nach etwa zwei Wochen Inkubationszeit mit Kopf- und Gliederschmerzen, Schluckbeschwerden, Appetitlosigkeit und Durchfall. Danach dringt der Erreger in das zentrale Nervensystem ein und führt schließlich zur Lähmung von Armen und Beinen. Für Margaretes Mutter war dies ein erneuter Schicksalsschlag, denn Jahre zuvor war ihr erster Mann gestorben, ebenso wie die beiden Söhne aus dieser ersten Ehe.

Maria Steiff hatte nicht viel Zeit, sich um ihre gelähmte Tochter zu kümmern, denn sie hatte eine sechsköpfige Familie und den Haushalt zu versorgen und musste ihrem zweiten Mann Friedrich, den sie zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete, in dessen Baugeschäft zur Seite stehen. Margarete war trotz ihrer Behinderung ein lebensfrohes Mädchen. Sie wollte nicht allein zu Hause herumsitzen: »Alle Hausgenossen bettelte ich an: ›Tragt mich auf die Gasse‹, wenn ich auch manchmal fast erfror.« Einen Rollstuhl sollte sie erst viel später bekommen, in den ersten Jahren wurde sie auf einen Leiterwagen gepackt, der seinen Stammplatz vor dem Elternhaus hatte.

Eine Fundgrube menschlicher Diamanten
Sein Blind Date mit dem Leben
Sie konnte nicht rennen und laufen, aber entwickelte viel Fantasie, wie sie trotzdem am Leben teilnehmen konnte. Sie saß in ihrem Leiterwagen, passte auf die anderen Kinder auf und, so formuliert sie es in ihrem Tagebuch, »ordnete Spiele an, wo ich der Mittelpunkt war«. Ihre Biografin Gabriele Katz schreibt: »Eigentlich störte sie nur. Daher richtete Margarete ihre Energie auf eine Umkehrung der Situation. Die anderen mussten nach ihren ›Regeln‹ funktionieren, sie suchte Spiele aus und organisierte sie.« Überall wird sie als geselliges und heiteres Mädchen beschrieben, das sich aktiv einbrachte und einen großen Lebenshunger hatte.

Die Eltern ließen nichts unversucht, um ihre Tochter zu heilen. In ihrem Tagebuch schreibt Margarete Steiff, es »wurde natürlich kein Mittel unversucht gelassen und ich kann mich erinnern, dass meine Mutter öfters mit mir bei auswärtigen Ärzten war«. Ihr Vater stellte bei einer Stiftung einen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Aufnahme der Tochter in der Ludwigsburger Kinderheilanstalt des Mediziners Hermann August Werner. Er wurde bewilligt. Margarete wohnte im Privathaus des Arztes und fühlte sich dort sehr wohl, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb: »In Ludwigsburg hatte ich das Glück, bei Dr. Werner in der Familie aufgenommen zu werden und war dort ganz daheim, auch ließ man mir dort mehr Freiheit als zu Hause. Somit hatte ich keine Spur von Heimweh.«

In der Klinik wurden am linken Fuß zwei Sehnenschnitte gemacht – durch einen Gipsverband sollte der Fuß gerade werden. Danach wurde sie zur Kur nach Wildbad gebracht. Ihr gefielt es dort sehr gut, aber ihr Gesundheitszustand verbesserte sich dadurch nicht. 1856, sie war damals neun Jahre alt, verbrachte sie insgesamt sechs Monate in der Klinik und der Kur, im folgenden Jahr wurde ein weiterer Anlauf unternommen. Doch auch die erneuten Behandlungen blieben erfolglos. Trotzdem war, wie ihre Biografin Gabriele Katz schreibt, die Reise nach Ludwigsburg und in den Schwarzwald für ihr weiteres Leben von großer Bedeutung. »Sie verhalf ihr zu einer enormen Horizonterweiterung. Margarete hatte, wie sie es so sehr liebte, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, hatte Neues gesehen und gelernt und erlebte sich im Vergleich mit den anderen Kindern als gar nicht so benachteiligt. Sie baute weiteres Selbstvertrauen auf.«

Die anderen Kinder in der Klinik, so berichtete sie in ihrem Tagebuch, konnten teilweise gar nicht laufen, hatten viel beschwerlichere Leiden oder litten unter Schmerzen – im Vergleich dazu war sie die Gesündeste. Sie hatte Schulunterricht und lernte sogar etwas Englisch, was damals sehr ungewöhnlich war. Und der Arzt hatte den Kindern immer wieder gesagt, dass es entscheidend sei, welche innere Einstellung sie zu ihrer Krankheit hatten. Sie hatte mehr von der Welt außerhalb ihrer Kleinstadt gesehen als ihre Altersgefährten – die Summe der neuen Erfahrungen und Eindrücke dürfte sie stark geprägt haben. Von praktischer Bedeutung war für sie, dass sie den Rollstuhl, in dem sie während des Klinikaufenthaltes gesessen hatte, mit nach Hause nehmen durfte. Bisher hatte sie stets in einem Leiterwagen gesessen oder war von Erwachsenen getragen worden.

Streitschrift gegen Familienpolitik
"Eine glückliche Mutter ist heute eine Provokation"
Zurück in Giengen ging sie in die Schule. Ihre beiden älteren Schwestern fuhren sie jeden Morgen mit dem Rollstuhl zur Schule, und eine kräftige Frau, die neben der Schule wohnte, trug das gelähmte Mädchen die Treppen im Schulhaus hinauf und nach dem Unterricht wieder herunter. Sie ging gerne in die Schule und ihr Ehrgeiz zeigte sich darin, dass sie zu den besten Schülerinnen gehörte. Da sie durch ihren Klinikaufenthalt viel Stoff versäumt hatte, strengte sie sich umso mehr an. »Lieber ließ sie sich von zu Hause eine Suppe in die Schule bringen, damit sie zwischen Vor- und Nachmittagsunterricht ja keine Zeit für unnötige Wegstrecken aufwenden musste und in der Zeit lernen konnte. Es soll sogar vorgekommen sein, dass Margarete ganz auf ihr Mittagsessen verzichtete, um möglichst schnell wieder das Klassenniveau zu erreichen.«

Ihr Herzenswunsch war es, Zither zu spielen, was wegen ihrer Behinderung besonders schwierig war. Nach den ersten kläglichen Versuchen prophezeite sie jedoch ihrer Familie entschlossen: »Ich werde es lernen.« Und so war es. Sie übte jeden Tag mehrere Stunden und schließlich war das behinderte Mädchen so weit, dass sie selbst Zitherstunden geben konnte, die sogar mehr Geld einbrachten als ihre mühevoll gefertigten Handarbeiten.

Schon früh musste Margarete arbeiten und der Mutter helfen – Kleider nähen, stricken, häkeln usw. »Das Nähen ist mir aber auch sehr schwergefallen«, berichtete sie. »Der rechte Arm tat mir bei der geringsten Anstrengung weh, und links hatte ich kein Geschick. Ich hielt mich vielmehr ans Häkeln und sonstige leichte Handarbeiten.« Ihre Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Tochter anders als mit den Händen arbeiten würde.

Margarete war schon früh eine sehr eigenständige Persönlichkeit. So wie viele später erfolgreiche Menschen focht sie Konflikte mit ihren Eltern aus. »Ich war nie so brav und folgsam gewesen, wie meine Schwestern, es hieß oft die böse Gret«, schrieb sie in ihrem Tagebuch. »Einmal noch zur Schulzeit war meine Mutter gar nicht mit meiner Arbeit zufrieden und ich hatte doch fleißig gehäkelt. Da rührte ich zwei Tage keine Arbeit mehr an, sagend, wenn das nicht genug ist, schaff ich gar nichts mehr.« Ihre Mutter setzte sich zwar durch, aber in solchen Episoden wird ein rebellischer Geist deutlich.

Für die strenggläubige Maria Steiff bestand das ganze Leben nur aus Arbeit, fröhliche Ablenkungen davon waren ihr völlig fremd. Auch dagegen rebellierte Margarete. »So musste ich mir eigentlich alles erkämpfen, denn die Mutter war entschiedene Feindin von jedem Vergnügen und jeder Erholung. Das Wort stand einfach nicht in ihrem Wörterbuch, nur arbeiten und wieder arbeiten«, schrieb sie in ihrem Tagebuch.

Hier wird deutlich: Margarete erwartete mehr vom Leben. Und in den Konflikten mit ihrer Mutter formte sich eine eigenständige Persönlichkeit, die sich selbst Ziele in ihrem Leben setzte, statt dem zu folgen, was als »normal« angesehen wurde. Die Behinderung war dabei in gewisser Hinsicht sogar hilfreich. Denn für Mädchen war damals als der normale Weg vorgesehen, dass sie Hausarbeit in fremden Haushalten erlernten, um damit auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitet zu werden. Das wichtigste Ziel war es zunächst, einen Mann zu finden, der sie versorgen konnte. Doch genau dieser Weg war Margarete durch ihre Behinderung verschlossen.

Historische Reden
"Auch der Mensch hat eine Natur"
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden« – dieses »Gelassenheitsgebet«, dessen Urheber möglicherweise der Theologe Reinhold Niebuhr ist, charakterisiert die Einstellung von Margarete Steiff und wäre vielleicht auch ihr Wahlspruch geworden. Sie und ihre Eltern hatten zunächst alles versucht, ihre Krankheit heilen zu lassen, aber nachdem sämtliche Anstrengungen gescheitert waren, lernte sie schließlich, die Erkrankung zu akzeptieren. In ihrem Tagebuch schrieb sie: »Von da an, etwa mit 17–18 Jahren, ließ ich mich durch keine angepriesenen Mittel oder Heilmethoden mehr aufregen, denn das unnütze Suchen nach Heilung lässt den Menschen nicht zur Ruhe kommen.« Und an anderer Stelle heißt es: »Es war ein langes Suchen nach Heilung, bis ich mir selbst sagte, Gott hat es so für mich bestimmt, dass ich nicht gehen kann. Es muss auch so recht sein.«

Trotz Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter war sie ihr dankbar, auch das schrieb sie in ihrem Tagebuch, »dass sie mich nicht verwöhnte, wie so häufig Mütter ihre leidenden Kinder verwöhnen und verzärteln«. Zusammen mit ihren Schwestern nähte und bestickte sie Hauswäsche, Nachthemden, Herrenoberhemden, Bettwäsche und Kissen und verdiente damit mühsam Geld. Margarete war jedoch sehr sparsam und konnte daher eine Nähmaschine kaufen, was damals außergewöhnlich war. Niemand sonst in ihrer Kleinstadt besaß eine Nähmaschine. Margarete Steiff war also sehr modern und aufgeschlossen gegenüber Neuem. Mit der Maschine konnte man nicht nur etwa zehnmal schneller nähen, als das mit Handarbeit möglich war,18 sondern die Kleider waren durch die maschinellen Nähte auch strapazierfähiger und langlebiger.

Zwar hatte sich beim ersten Test gezeigt, dass Margarete die neue Maschine aufgrund ihrer Behinderung nicht bedienen konnte, weil dem rechten Arm die Kraft fehlte, das Schwungrad zu drehen. Doch ihr fiel eine unkonventionelle Lösung ein, auf die bestimmt nicht jeder gekommen wäre: »Dann näh’ ich eben andersherum«, erklärte sie. Schon nach wenigen Tagen konnte sie mit dem linken Arm das Rad bewegen und mit der gelähmten rechten Hand den Stoff durch die Maschine führen. »Ihr Können und ihr Mut sind größer als ihre Behinderung«, lobte Vater Steiff seine Tochter.

Die beiden Schwestern heirateten früh, so wie es damals üblich war, und Margarete war allein. Sie fing jetzt jedoch an, fremde Hilfskräfte für die Näherei einzustellen. 1877 machte sie den nächsten wichtigen Schritt. Ein angeheirateter Vetter – Adolf Glatz – motivierte sie, aus einer einfachen Schneiderwerkstätte für Kleidungsstücke und Aussteuerwäsche, welche überwiegend im näheren Bekanntenkreis verkauft wurden, eine Filzkonfektionsfirma zu machen, die auch Geschäfte weit über den privaten Kundenkreis hinaus machen würde. Sie ließ einen kleinen Katalog drucken und inserierte in Zeitungen. »Margarete Steiff war in die Schicht der Unternehmer aufgestiegen, wenn auch zunächst nur der Kleinunternehmer. Sie war nun 30 Jahre alt«, schreibt Katz. 1880 erfolgte dann die offizielle Gründung der Margarete Steiff GmbH.

Kurz davor hatte Margarete Steiff in einem Modemagazin den Schnitt und eine Fertigungsanweisung für einen »Elefanten aus Stoff als Spielzeug« gesehen. Sie stellte einige der Spielzeugtiere her, zunächst als Geschenke für die Kinder der Familie, und verwendete anstelle des empfohlenen Baumwollstoffes Filz. Wie sehr der Elefant ihr Unternehmen verändern würde, ahnte sie noch nicht.

Damals gab es – anders als heute – keine Kuscheltiere für die Kinder, sondern lediglich Spielzeug aus Holz, Stein, Metall oder Porzellan. Zunächst lief die Produktion der Elefanten nur nebenbei, die Fertigung von Kleidern hatte Vorrang. Margarete Steiff war auch ein wenig skeptisch, ob das Geschäft mit den Spielzeugtieren wirklich langfristig von Bedeutung sein werde. Aber ihr Bruder Fritz und vor allem die Nachfrage der Kundschaft überzeugten sie.

1880 stellte sie erst acht Tiere her, im folgenden Jahr 18, 1883 waren es bereits über 100, 1884 fast 300 und 1885 fast 600. Dann explodierten die Zahlen. 1886 wurden über 5.000 Exemplare des Elefanten hergestellt und erstmals auch über 100 Affen. Jetzt kamen immer neue Tiere dazu, ein Pferd, ein Kamel, ein Schwein, eine Maus, ein Hund, eine Katze, ein Hase, eine Giraffe usw. Im Jahr 1892 wurden bereits 256  Spielzeugarten auf den 32 Katalogseiten angeboten. Erstmals waren auch Bären dabei, die jedoch noch auf vier Beinen standen – der Bär sollte bald eine große Rolle spielen. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Ausland wurden die Tiere nachgefragt – so meldete sich eine renommierte Spielzeughandlung aus St. Gallen in der Schweiz, die Margarete Steiff einlud.

Wissenschaftliche Studie:
Macht Gleichheit glücklich?
1893 wurde der Betrieb der Spielwarenfabrik offiziell ins Handelsregister eingetragen. Margarete Steiff war jetzt 46 Jahre alt, die Firma war zwar gewachsen, aber mit vier Mitarbeiterinnen und zehn Heimarbeiterinnen noch klein. Ein erster angestellter Handelsvertreter besuchte die Geschäfte in Deutschland, um neue Kunden zu gewinnen, damit die Produktion ausgeweitet werden konnte. Vier Jahre später waren zehn Arbeiterinnen und 30 Heimarbeiterinnen bei Margarete Steiff beschäftigt und der Umsatz hatte sich binnen fünf Jahren mehr als verdreifacht. Der Bruder Fritz Steiff und dessen Söhne wurden zu weiteren wichtigen Stützen.

Aus dem kleinen Familienbetrieb wurde rasch eine international agierende Firma. So kamen Einkäufer aus London und New York, um die neuartigen Spielzeugtiere für ihre Kunden in Großbritannien und den USA einzukaufen. »Die erfolgreiche Unternehmerin«, so schreibt ihre Biografin Gabriele Katz, »existierte in zwei Welten, sie agierte auf dem Weltmarkt und lebte mit ihrer Familie in Giengen.«

Das alles wäre nicht möglich geworden ohne den erwähnten Teddy-Bären. Er hatte der Firma Steiff den Durchbruch gebracht. Die Idee stammte von Richard Steiff, einem Neffen der Unternehmensgründerin. Richard hatte an der Kunstakademie in Stuttgart studiert und verbrachte seine gesamte freie Zeit mit einem Skizzenblock unter dem Arm im Tierpark. Er beobachtete die Tiere genau, um ihre verschiedenen Posen möglichst exakt nachzuzeichnen. Besonders ein Tier hatte es ihm angetan, das bisher noch in der Kollektion gefehlt hatte, der Bär.

Margarete Steiff war zunächst ein wenig skeptisch, ob ein Bär den Kindern gefallen werde, zudem schienen die Produktionskosten für das Bärenfell zu hoch. Der Bär mit den beweglichen Gliedmaßen, der die Bezeichnung PB 55 trug, wurde zusammen mit den anderen Tieren nach New York geschickt, wo Paul Steiff versuchte, die Produkte an den Mann zu bringen. Doch, so bemerkte er in seinen Aufzeichnungen, den Amerikanern war der Bär zu groß, zu schwer, zu hart und auch zu teuer, weshalb er »getadelt und nicht gekauft wurde«. Im März 1903 wurde der Bär auf der Leipziger Messe vorgestellt, aber die Einkäufer blieben auch hier reserviert. Die Einkäufer der größten und wichtigsten Spielwarenhandlungen verschmähten den Bären mit den beweglichen Gliedmaßen nicht nur, sondern fürchteten sogar, die Bären würden die Wirkung der gesamten Steiff-Kollektion verderben. Sollte Margarete mit ihrer Skepsis recht behalten? War ihr Neffe zu optimistisch gewesen?

Doch genauso wie es im Leben eines jeden Unternehmers unglückliche Zufälle gibt, so gibt es auch immer wieder glückliche Konstellationen. In jedem Bericht über die Geschichte von Margarete Steiff wird folgende Geschichte erzählt: Die Messe in Leipzig war fast zu Ende und der enttäuschte Richard Steiff wollte schon die Kollektion zusammenpacken, da tauchte ein amerikanischer Spielwaren-Einkäufer auf, der bereits zu den Stammkunden der Firma gehörte: »Hat denn Steiff zum diesjährigen Weihnachtsfest gar nichts Neues zu bieten?« Richard Steiff traute sich erst gar nicht, die Kiste mit den Bären, die bislang ja keinerlei Anklang auf der Messe gefunden hatten, noch einmal zu öffnen. Doch der Einkäufer blieb hartnäckig und als er die Bären sah, rief er aus: »Warum zeigen Sie diese weichen, goldigen Bären nicht? So etwas Liebes können die Kinder ja sogar beim Einschlafen im Arm behalten.« Der Amerikaner bestellte gleich 3.000 Bären und die nächsten Wochen war ganz Gingen, vom Pfarrer bis zum Lehrer, damit beschäftigt, Bären zu stopfen.

Vielleicht wäre der ganz große Durchbruch mit dem Bären trotzdem ausgeblieben, wenn nicht damals Theodore Roosevelt amerikanischer Präsident gewesen wäre. Roosevelt war ein leidenschaftlicher Bärenjäger. In der 1930 veröffentlichten Firmengeschichte von Steiff heißt es: »Als nun die ersten Muster des neuen Bären nach Amerika kamen, nahmen die Amerikaner den drolligen Gesellen als nationales Symbol für die glücklichen Jagden ihres Präsidenten und nannten ihn ›Teddy‹-Bär. Jeder musste so einen ›Teddy‹ haben, und im ersten Jahr gingen schon 12.000 Stück dieses heute noch beliebten Spieltieres über den großen Teich. So wurde ›Teddy‹ über Nacht weltberühmt und er wurde dadurch zu einem Marktstein für die Weiterentwicklung des Hauses Steiff.«

Die Produktion schoss daraufhin in die Höhe. Zwei Jahre später, 1906, wurden bereits 385.393 Teddy-Bären produziert und im Rekordjahr 1907 sogar fast eine Million.31 Die Gesamtzahl sämtlicher pro Jahr hergestellten Steiff-Tiere war von 1903 bis 1907 von 240.000 auf 1,7 Millionen Tiere gestiegen. Die Wirtschaftskrise in den USA führte danach zwar zu einem Einbruch im Absatz der Bären. Aber in Europa konnte sich der Teddybär ebenfalls zunehmend am Markt durchsetzen.

Philipp Mickenbecker
Eine außergewöhnliche Mutmachgeschichte
Wie immer im Wirtschaftsleben zieht der Erfolg Nachahmer an, die zum Teil billigere und minderwertige Imitate produzierten. Im November 1904 erfand ihr Neffe Franz Steiff darum den »Knopf im Ohr«, der auch heute, fast 120 Jahre später, noch das Marken- und Erkennungszeichen jedes Steiff-Tieres ist. Damals wurde der »Knopf im Ohr« gesetzlich als Marke geschützt und zum Gütesiegel für wertvolles Spielzeug. Margarete Steiff brachte gleich ein Informationsblatt heraus, auf dem stand: »Schutzmarke; (Elefant mit S-förmigem Rüssel), befestige ich ab Nov. 1904 nunmehr ausnahmslos an jedes Stück und zwar im linken Ohr auf einem Nickelknöpfchen. Auf diese Art der Anbringung ist gesetzlicher Schutz angemeldet.« Im Jahr 1908 veröffentlichte die Firma eine offenkundig notwendige Klarstellung: »Die ›Glieder-Bären‹, die unter dem Namen ›Teddy-Bären‹ weltberühmt wurden, sind unsere alleinige Erfindung. Das Modell stammt also nicht aus Amerika, auch nicht die Idee.« Margarete Steiff wehrte sich gegen Kopien: »Wer meine Ware kennt, wird sie unmöglich mit minderwertiger Ware verwechseln. Sollten oben empfohlene Bären Nachahmung gefunden haben, so bitte ich meine verehrlichen Kunden um Beweismaterial, wie schon oft erhalten. Nur die Marke Knopf im Ohr ist wirklich ein dauerhaftes und künstlerisch schönes Spielzeug.«

Margarete Steiff hatte es weit gebracht. Wie wäre ihr Leben ohne die Behinderung verlaufen? Auf den Fotos sieht man eine junge Frau mit einem schönen Gesicht – vermutlich hätte sie geheiratet und ihr Leben hätte sich vielleicht nicht von dem der anderen Frauen in ihrer kleinen Stadt unterschieden. Die Behinderung versperrte ihr jedoch diesen für Frauen damals üblichen Weg. Nachdem alle Therapien zu ihrer Heilung gescheitert waren, hatte sie an der Schwelle zum Erwachsensein akzeptiert, dass sie dauerhaft an den Rollstuhl gebunden sein würde. Aber sie akzeptierte nicht, dass sie deshalb zu einem Leben ohne Freude, ohne Reisen, ohne Abenteuer, ohne Erfolg und ohne Geld verdammt sein würde. Was ihr half, waren ihre lebensbejahende Einstellung und ihre Kreativität. Ihr Lebensweg ist umso bemerkenswerter, als es vor 1914 außer Margarete Steiff keine Frau im Vorstand einer großen Aktiengesellschaft oder als Chefin eines bedeutenden Privatbetriebes gab – sieht man einmal von der Erbin Bertha Krupp von Bohlen und Halbach ab.

Margarete Steiff starb am 9. Mai 1909 an einer schweren Lungenentzündung. Der Pfarrer sagte in seiner Trauerrede: »Oder ist’s nicht ein Wunder, wenn so ein armes, schwaches, gebrechliches und hilfloses Menschenkind, von dem man in der Kindheit wohl voll Sorge gefragt hat: wie wird’s ihr gehen? Wie wird sie sich durchbringen? im späteren Leben tausend andere versorgt, tausend anderen durchhilft und nicht allein das anerkannte Haupt ihrer Familie, sondern die Gründerin und Leiterin einer Weltfirma wird? Ist’s nicht ein Wunder, wenn eins, dem man in der Kindheit wohl höchstens Blicke des Mitleids gönnte, dem man sicher eine wenig beachtete, stille, fast vergessene Existenz im Winkel voraussagte, so heraustritt an das Licht der Öffentlichkeit und sich und mit ihr der Heimatstadt einen geliebten und geachteten Namen gewinnt im weitesten Umkreis und selbst über dem Weltmeer? Das ist in Jahrhunderten nicht geschehen.«

Rainer Zitelmann, Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können. FBV, Hardcover, 384 Seiten, 25,00 €.


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