Tichys Einblick
Die Banalität des Bösen

Liebte Hitler Rohrnudeln oder Eiernockerln?

„Ich traf Hitler“ fasst Interviews mit Zeitzeugen aus der unmittelbaren Nähe Hitlers zusammen. Es ist ein faszinierendes Buch mit der Möglichkeit der Missdeutung.

Dem Ersatz-Gemeinderat Wolfgang Weiss aus Wimpassing im österreichischen Burgenland wurde ein Facebook-Eintrag vom 20. April mit einem Foto höchst appetitlich anzuschauender Eiernockerln, dazu eine Schale mit grünem Salat zum Verhängnis. Wimpassings Bürgermeister Ernst Edelmann (SPÖ) bekommt bei dem Posting die „Gänsehaut“. Er hat bereits erste Schritte eingeleitet und die Bezirkshauptmannschaft informiert. Eiernockerln mit grünem Salat gelten unter Eingeweihten als Leibspeise von Adolf Hitler, und ihr Verzehr am 20. April (Adolf Hitlers Geburtstag), als braune Botschaft, weswegen Weiss möglicherweise mit einem Verfahren wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung rechnen muss. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit tatsächlichen oder eingebildeten Sympathiebezeugungen für den Massenmörder.

In Hamburg wurde einem Kinderkarussellbetreiber das Kennzeichen eines Karussellautos zum Verhängnis: HH-88. Es könnte ja für „Heil Hitler“ stehen. Chiffriert wird das heimliche Bekenntnis mit der nur scheinbar harmlosen Zahl 88, die für den früher politisch unbedenklichen, heute gefährlichen achten Buchstaben im Alphabet steht: H. Sie werden zur Falle, denn sie gelten manchen als Codes: der falsche Buchstabe, die falsche Mehlspeise, eine geächtete Marke – schon tagt das Antifa-Gericht.

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Dabei irren Hitlers Fans wie die späten Verfolger. Er mochte am liebsten Rohrnudeln mit Zwetschgen und Vanillesoße. Das jedenfalls erzählt Gretel Roelofs, Hitlers Köchin in der Reichskanzlei und im Führerbunker. Ist das jetzt von irgendeiner Bedeutung; ändert das irgendwas an der historischen Beurteilung? Darf man Geschichte aus der Perspektive des Kammerdieners erzählen, der im Wesentlichen beizutragen weiß, dass Hitler ein einsamer Mensch gewesen sein soll, der zum Frühstück Leibniz-Kekse aß? Muss Bahlsen, nachdem die Firma schon für ihre Kekssorte „Afrika“ in einen Shitstorm geriet, nun auch „Leibniz Keks“ umbenennen?

„Ich traf Hitler“ ist eine Sammlung von Interviews, die der Sammler von Hitler-Filmen Karl Höffkes mit überlebenden Zeitzeugen meist in den 1990ern führte und die jetzt der Verleger Wieland Giebel als Buch herausgebracht hat. „Die Banalität des Bösen“, die Hannah Arend 1961 als Prozessbeobachterin für das Magazin „The New Yorker“ beim Eichmann-Prozess konstatierte, die kleine, biedere Menschlichkeit des Bösen zeigt sich in dieser Sammlung, wenn neben Köchin und Kammerdiener glückselige Frauen über ihre Begegnung mit Hitler erzählen, Wolfgang Wagner mit dem „Privatmann“ Hitler über Kunst und Musik plaudert oder die Filmschauspielerin Daisy Schlitter, die mit den langen Zöpfen, konstatiert: „Alles an ihm war ordinär“. Schlitter ist einer der wenigen Gegenpole; sie stammt aus dem linken Milieu der Weimarer Republik, gehörte zur Künstlerszene um Berthold (Bertolt) Brecht und Erich Maria Remarque. Das macht sie unabhängiger und kritischer im Urteil, und ihr knappes Urteil lautet: „Er strahlt eine überzeugende Kraft aus, ist revolutionär und fanatisch. Die Russen werden aus Sowjetrussland kommen, es wird Krieg geben. Der Mann wird Krieg machen gegen Russland. Die Russen werden in Berlin stehen.“ Das war im Januar 1932; sie war 18 Jahre alt.

In den meisten Beobachtungen in Giebels Buch kommt Hitler positiv weg; wie auch anders? Nicht einmal als eine Raupe unter des Führers Salatblatt hervorkroch, schimpfte der mit seiner Köchin. Nein, er war nicht die Comic-Figur, die vor Wut in den Teppich beißt oder mit dem Globus wie mit einer Seifenschaumblase spielt wie in Charly Chaplin monumentalen Werk „Der große Diktator“, in dem das Monster auf das verspielte oder wechselweise bösartige Kind reduziert wird.

Wohingegen andere Literatur Hitler als das Monster seiner Zeit beschreibt. Wohlgemerkt häufig ganz ohne auf Zeitzeugen einzugehen. Die Wahrheit liegt natürlich in der Mitte. So konnten die meisten nicht ahnen, wozu Hitler in der Lage war und zu seinen Bediensteten und Leibwächtern hatte er auch ein gutes, freundschaftliches Verhältnis, warum auch nicht? Die beleidigte Köchin kann in die Suppe spucken; zudem redete er mit ihr auch nicht über Politik. Und so finden sich immer wieder Beschönigungen, das Narrativ, dass die Deutschen nichts gewusst hätten; der Himmler war’s und seine Spießgesellen und Hitler habe sich nach der Reichskristallnacht bedrückt und angewidert zurückgezogen. Für die Köchin „war er der Sache nicht gewachsen“. Für den Adjutanten des Außenministers Ribbentrop, SS-Hauptsturmführer Reinhard Spitzy ging es auf dem Berghof gemütlich zu, wenn Eva Braun mahnte wie Mutti: „Adolf, ihr müsst jetzt kommen, die Suppe wird kalt“. Die Ermordung der Juden war für ihn etwas, wovon er nichts wusste und in eine Reihe mit weiteren „Umsiedlungen“ stellt.

Da erwächst schnell der Vorwurf der Beschönigung. Der Interviewer Höffkes arbeitet nicht als Historiker, dafür ist der Medien-Alleskönner viel zu sehr findiger Unternehmer. Filme und Hörbücher, die er selbst unter „Polarfilm“ (Polar Film + Medien GmbH) verlegt, sind spannend gemacht und erstklassig produziert. Sie finden vor allem deshalb Anklang und Neugier, weil sie von Dingen erzählen, die im Mainstream ausgeklammert bleiben.

So wundern sich zum Beispiel viele, wenn Sie erfahren, dass Hitler privat von fast allen als sympathisch und charismatisch, freundlich und zuvorkommend beschrieben wird. Er war ein Frauenschwarm, liebte Kinder und Tiere und plauderte gerne. Das, was wir medial von ihm kennen, sind seine perfekt einstudierten öffentlichen Wut- und Rage-Reden. Es gibt nur eine einzige Tonbandaufnahme von Hitler privat. In Finnland wurde er im Sommer 1942 heimlich bei einem Plausch mit Oberst Carl Gustaf Emil Mannerheim belauscht: ein scheinbar ganz anderer Mensch.

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„Höffkes Stärke über Dinge zu berichten, die andere ausklammern, ist gleichzeitig aber auch seine Schwäche. Denn er selbst klammert allzu häufig das Schlimme und Schreckliche des ‚Dritten Reiches‘ aus, sodass bei Lesern, die dann nur Höffkes und Kollegen lesen, ein falscher Eindruck entstehen könnte. Nämlich der eines romantischen ‚Dritten Reiches‘ oder eines Hitlers, der gar nicht so schlimm war, sondern selbst nur Opfer zum Beispiel alliierter Kriegspläne. Das ist nicht ganz ungefährlich, da einfach nicht korrekt“, bilanziert der Historiker Christian Hardinghaus.

Kritik am Diktator in „Ich traf Hitler“ wird nur verhalten geübt; insbesondere von Männern, die als bereits ranghohe Militärs in seiner Nähe waren und danach hohe und höchste Posten in Bundeswehr und Nato ausübten. Das gilt auch für Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Oberst in der Operationsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht. Als Mitwisser des Attentats vom 20. Juli verhaftet, später freigelassen und zuletzt Nato-Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa Mitte. Für ihn war Hitler ein „Genie des Bösen“ mit „unglaublicher Ausstrahlung“. Der spätere Bundeswehroberst und Brigadekommandeur Hans Gotthard Pestke berichtet über die „erstaunlichen technischen Kenntnisse Hitlers“.

Das ist jenseits der Köchinnen-Perspektive der spannendste Teil des Buches: Ein anderer Blick auf die Schlachten des Zweiten Weltkriegs und die Strategien Hitlers, die sich indirekt erschließen. Sie werden ergänzt durch einen vorzüglichen Fußnotenteil, der gut recherchiert die jeweiligen Aussagen der Offiziere relativiert oder in Bezug zu größeren Zusammenhängen setzt und dem Buch einen anderen Wert verleiht als subjektive Erzählungen aus individueller Perspektive. Es bleibt ein ungutes Gefühl. Kommt Hitler zu gut weg, zu menschlich, ohne Perspektive der Abermillionen Opfer? Oder ist der intellektuelle Gewinn beschränkt, wenn nur das Monstrum und seine Verbrechen mit schaurigem Gegrusel ausgemalt wird, nicht aber die Vielfältigkeit des Geschehens?

Es sind weite biographische Wege wie die des Panzerkommandanten Winrich Behr, die sich da entrollen – von einem, der sich aus dem Stalingrad-Kessel ausfliegen ließ und im Ruhrkessel die gewonnene Erfahrung umsetzte, um schon fünf Jahre später für die „Hohe Behörde in Luxemburg“ an der Gründung des geeinten Europas mitzuarbeiten. Das sollten sich die Grünen und Linken in Düsseldorf vor Augen führen, die die nach dem Künstler Josef Beuys benannte Straße umbenennen wollen. Er war Jagdflieger; hat seine Filz- und Fettkunst biographisch begründet mit den schweren Verletzungen nach dem Abschuss seiner Maschine. War er ein Nazi? Ein Täter? Er war Mitbegründer der Grünen.

Menschen leben in ihrer Zeit, sind aus ihr erklärbar. Wohl dem, der in guten Zeiten lebt, unangefochten von Verführungen oder Zwängen, von Blindheit geschlagen oder von Propaganda verführt. Trotzdem haben heute die Scharfrichter Hochkonjunktur, und ihre Urteile fallen umso härter aus, je länger die Zeit der Handlung zurück liegt. „Ich traf Hitler“ lädt zu solchen Angriffen ein. Der Herausgeber versucht Kritik vorwegzunehmen; spricht von Leugnern und Verharmlosen, von Naiven, Profiteuren und Besserwissern, von Gegnern und Verschwörern, und von den langanhaltenden Nachwirkungen der nationalsozialistischen Gesinnung. Das ist auch nicht anders möglich, wenn die Mehrzahl der Interviews von Menschen aus der unmittelbaren Nähe stammen, in die zu geraten Gegner wenig Möglichkeiten hatten.

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Und doch: Gibt es auch ein Recht auf Irrtum? Wie würden die Scharfrichter handeln, würde sie eine Zeitmaschine in des Führers Nähe oder in das mörderische Feuer einer Kesselschlacht katapultieren? Anmaßung ist das Privileg der Spätgeborenen; von der Gnade der späten Geburt sprach Helmut Kohl. Dass der Verführer nicht im Schwefelgestank daherkommt, sondern mit schönen Augen: wir beginnen elementares Wissen zu vergessen.

Es gibt aber eben auch genug andere Berichte von Menschen, die Hitler trafen – mit genug Menschenkenntnis – die eine andere Seite kennenlernten – zu denen er anders war. So beschreibt Hardinghaus den Eindruck des Groß-Chirurgen Ferdinand Sauerbruch: „Er hielt Hitler für wahnsinnig, 1937 wurde er vom amerikanischen Geheimdienst ausspioniert und er nannte Hitler damals schon einen der verrücktesten Kriminellen der Geschichte (das also vor Reichspogromnacht und Holocaust). Ausgemacht hatte er dies auch durch private Treffen. So war Hitler eifersüchtig, dass seine Hündin Blondi sich von Sauerbruch (ein großer Tierliebhaber) streicheln ließ. Er soll einen Tobsuchtsanfall bekommen haben.“

Höffkes Rolle und seine Färbung der Narrative ist weitgehend unangefochten. Anders als viele wird er von den Medien in Ruhe gelassen. Das passiert vielleicht, weil Zeitschriften und Fernsehsender auf seine gewaltige Materialsammlung für ihre eigenen Dokus angewiesen sind; es dürfte eines der weltweit größten Archive mit original Film- und Tonmaterial aus der Zeit des „Dritten Reiches“ sein. Und er tut auch immer wieder Neues auf. Das macht ihn unverzichtbar für die deutsche Medienbranche.

Es ist schwer, über Hitler angemessen zu berichten. Abscheu macht so blind wie Bewunderung. Entsetzen färbt das Gesehene und übersieht Phänomene hinter dem Grauen. So ist es fast unmöglich, über alles zu berichten, nichts auszuklammern. Historiker Hardinghaus rät in seinem eigenen aktuellen Buch „Die verdammte Generation“, in dem 13 der letzten Soldaten des Zweiten Weltkrieges porträtiert werden: „Geschichte darf nichts beschönigen, soll auch nicht den Zeigefinger erheben! Historiker sollten bei den Fakten bleiben und alle Seiten zu Wort kommen lassen. So wie das mal im klassischen Journalismus üblich war.“

Wieland Giebel (Hg.), „Ich traf Hitler.“ Die Interviews von Karl Höffkes mit Zeitzeugen. Berlin Story Verlag, 570 Seiten, 39,95 €.


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