Tichys Einblick
»Weltkrieg der Anschauungen«

Krieg, Schock und Schmerz – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Mag er von Putin als schneller »Kabinettskrieg« konzipiert gewesen sein, spätestens die Reaktion der Ukraine hat ihn im Wesen verändert, und zwar hin zu einem Volkskrieg, hinter dem jetzt eine ganze Welt von westlichen Nichtkombattanten unterstützend eingreift.

Ab dem 24. Februar 2022 stand ich im Bann des Kriegs, der tage- und wochenlang meine alleinige Aufmerksamkeit einforderte, bis sich mein Schock allmählich gelegt hatte und Gewöhnung einsetze. Meine Reaktion auf den Krieg war also ganz typisch und unterschied sich in nichts von der Reaktion der meisten Menschen, inklusive der Politik. (…) Russlands Angriffskrieg hatte den Westen über alle Maßen geschockt und in tiefe Verzweiflung gestürzt.

Woher rührt das? Immerhin herrschte dort schon länger Krieg (die Rede ist von zehntausend Menschen, die ihm zum Opfer fielen, und das noch vor dem 24. Februar 2022). Immerhin hatte Putin einen ähnlichen Überfall schon 2014 unternommen, als er die Krim annektierte. Dass mit einer weiteren Aktion Putins nicht zu rechnen gewesen wäre, kann man also nicht behaupten. Worin lag also der offenkundige Unterschied in der Reaktion zu damals?

Es ist zu vermuten, dass der neuerliche Ausbruch dieses Konflikts für den Westen eine völlig andere Dimension und Bedeutung angenommen hatte, die einerseits erklärbar ist, da der Angriff auf die Ukraine plötzlich die lokalen Donbass-Grenzen überwand, andererseits auf eine grundsätzliche Veränderung im westlichen Denken hindeutet. Der Angriff traf jetzt auf einen Westen, der sich in seinem Wesenskern verändert hatte. Man könnte auch sagen, er hatte sich seit 2014 in seinem Bestand geändert. Eine neue Generation von Politikern und neue gesellschaftliche Ideale, die inzwischen aufgekommen waren, ließen den Westen jetzt anders reagieren, massiver, emotional beteiligter und kriegerischer, als es Putin erwartet hatte und als es vorher denkbar gewesen wäre. Ganz offensichtlich empfand der Westen den Angriff als unmittelbaren Angriff auf sich selbst. (…)

Der Westen und seine Politiker verteidigen mit ihren Sanktionen und ihren Waffenlieferungen laut eigener Aussage »die westlichen Werte«, Putin, so heißt es, dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, denn das käme einer Niederlage der eigenen Werte gleich. Dass überhaupt die Rede von Werten ist, weist auf die höhere Ebene hin, von der aus der Krieg betrachtet wird. Ganz offenkundig hat er die Ebene der geostrategischen Betrachtung verlassen und wird hauptsächlich unter ethisch-moralischen Aspekten bewertet.

Natürlich steht für die NATO die Eindämmung der russischen Aggression und Aggressionsfähigkeit im Vordergrund, darunter aber, auf der politischen Ebene, scheinen solche realpolitischen Erwägungen eher untergeordnet. Die militärische Betrachtung verschwindet hinter der weltanschaulichen Perspektive, denn nur diese kann die Einheitsfront des Westens und seine hohe emotionale Beteiligung erklären.

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Man könnte also von einem »Weltkrieg der Anschauungen« sprechen, in den man sich hineinbegeben hat. Dieser verläuft als Tiefenströmung unter dem eigentlichen militärischen Sachverhalt. In gewisser Weise spiegelt der Krieg also im Großen die Polarisierung und den Kulturkampf um Werte im Kleinen wider, der die westlichen Gesellschaften schon länger umtreibt. Auf der anderen Seite, der russischen, sieht es nicht viel anders aus. Russland behauptet, neben allen geostrategischen Forderungen, ebenfalls die eigenen Werte zu verteidigen.

Immer wieder schwingt mit, dass der Kampf Russlands auch ein Kampf gegen die drohende Verwestlichung des eigenen Landes, aber auch der Ukraine, ist. Da der Westen von Russland als dekadente Gesellschaft betrachtet wird, die es nicht zu imitieren gilt, führt es aus seiner Sicht ebenfalls einen Kampf um Werte. (…)

Hier kämpfen östliche und westliche Gesellschaftsvorstellungen gegeneinander, und beide werfen sich vor, die jeweils anderen Werte anzugreifen. Man sieht, von einem kühl kalkulierten Feldzug und einer kühl kalkulierten Reaktion darauf entfernt er sich jeden Kriegstag mehr, und deswegen nimmt auch seine Härte zu wie bei einem Religionskrieg. Mag er von Putin als schneller »Kabinettskrieg« konzipiert gewesen sein, spätestens die Reaktion der Ukraine hat ihn im Wesen verändert, und zwar hin zu einem Volkskrieg, hinter dem jetzt eine ganze Welt von westlichen Nichtkombattanten unterstützend eingreift.

Die Ukraine darf diesen Krieg aus Existenzgründen nicht verlieren, der Fortschritt aber darf ihn aus Gründen der Gesichtswahrung nicht verlieren. Denn das machte seinen Anspruch strittig, das überlegene gesellschaftliche Modell zu sein. Ganz ähnlich wie zu Sowjetzeiten wetteifern Ost und West also wieder miteinander, nur dass es dieses Mal nicht darum geht, wer das überlegene ökonomische System ist, sondern das überlegene gesellschaftliche.

In diesem Krieg geht es also auch um die Frage, wie Gesellschaft, Macht und Nation gesellschaftlich zu organisieren seien: patriarchalisch-autokratisch-orthodox oder fortschrittlich-feministisch, säkular und kollektiv-libertär. Diese Frage tritt jetzt deutlicher hervor, und das führt letztlich zurück zu den Thesen meines Buchs und zu der Malaise, die wir beim Anblick der postbürgerlichen Gesellschaft empfunden haben, deren Werte angeblich stellvertretend in der Ukraine verteidigt werden. Das macht es schwierig für uns, denn es erinnert uns unschön daran, wie zwiespältig unsere eigene Haltung dazu ist. Das riecht nach Beifall für eine falsche Sache – und zwar zu beiden Seiten hin. Wir sitzen also zwischen allen Stühlen.

Daran knüpft sich die Frage an, inwieweit der Krieg tatsächlich die »Zeitenwende« sein wird, als die er uns dargestellt wird.  Ist da etwa ein Wandel zu erwarten, beispielsweise in Hinblick auf die bürgerlich-konservativen Positionen, die der Fortschritt zuletzt allesamt abgeräumt hatte? Wird der Krieg daran etwas ändern? Der Krieg sei eine Zeitenwende für den Westen, heißt es allenthalben. Sogar vom »Ende des Westens, wie wir ihn kennen« war die Rede bei 3Sat-Kultur. Bisher ist davon nicht viel zu erkennen. Eigentlich agiert er mit dem Pathos und dem ihm eigenen Aktivismus, die seine gesamte Politik zuletzt geprägt hatten. Zurückhaltung, Besonnenheit und Neutralität sind als staatspolitische Tugenden noch nicht wirklich zurück.

Tichys Einblick Talk vom 23.02.2023
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Stattdessen signalisiert er, dass er sich so schnell nicht von seiner fortschrittlichen Agenda abbringen lässt, auch nicht durch den Krieg. Und tatsächlich sahen wir dieses Mal, im Gegensatz zur ersten Phase der Pandemie, kein Nachlassen des politischen Aktivismus und kein Abrücken vom ewigen Fortschritt, dem man sich verschrieben hat. Die Energieversorgung Deutschlands mag zwar durch den Krieg gefährdet sein, deswegen kommt eine Renaissance der Atomkraft (oder zumindest ein Weiterbetrieb) dennoch nicht infrage. So weit darf der Realismus nicht gehen.

Auch die Feiertage des Fortschritts werden streng eingehalten, Krieg hin oder her. Der Internationale Frauentag am 8. März wurde wie üblich mit dem größtmöglichen Pathos zelebriert. Der Tenor auch hier: Nichts darf je vom wichtigsten Kampf der Welt ablenken, nämlich dem der Frauen. Selbst die Deutsche Umwelthilfe meldet sich nach einem Schreckmoment in alter Form wieder und hat den viel wichtigeren Kampf gegen die Autofahrer wieder aufgenommen. Man sieht also, noch warten wir auf die versprochene Zeitenwende, jedenfalls die Wende, die wir bräuchten.

Der Fortschritt macht also unverdrossen weiter auf gut Wetter, aber langsam machen sich die Realitäten des Krieges unangenehm bemerkbar. Inflation, Mangel und Risiken für die eigene Volkswirtschaft, aber auch für die Wohlfahrt der ganzen Welt nehmen zu. Die Einheitsfront an Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die der Westen aufgebaut hat und die jetzt, zweieinhalb Monate nach Kriegsbeginn, in die sechste Runde gehen (ohne dass es zu einer Verhaltensänderung bei Putin gekommen wäre), erhöht das Risiko von schweren Verwerfungen nicht nur beim Gegner, sondern auch bei uns und letztlich weltweit.

Dessen ist man sich zwar bewusst, hat es aber zugunsten einer moralischen Betrachtung des Konflikts als nachrangig angesehen. Man könnte es auch so ausdrücken: Erst die Moral, dann das Fressen, ist die offenkundige Devise der Kriegsteilnehmer ohne Kombattantenstatus des Westens. Das könnte am Ende nach hinten losgehen, nämlich dann, wenn die weltweiten Wohlstandsverluste untragbar werden, die aber diejenigen nicht treffen werden, die am lautesten nach Sanktionen riefen. Die Reaktion des Westens auf Putins Angriff hat also einen gewaltigen Hebel bekommen. Der Schock daraus könnte auch Länder treffen, die bisher kaum von der Ukraine gehört hatten und deren eigene Krisen und Kriege man üblicherweise ignoriert.

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Konservatismus in der Zeit der großen Transformation
Aber zurück zu der Frage, was wir als Bürgerliche von der Zeitenwende zu erwarten haben. Ob wir uns also Schützenhilfe vom Krieg in unserem Windmühlenkampf für mehr Bürgerlichkeit erhoffen dürfen. Das wird leider davon abhängen, wie stark wir selbst unter die Räder geraten. Denn dann wird vieles, was dem Fortschritt am Herzen liegt, ebenfalls unter die Räder kommen. (…)

Anders sieht es bei der Zuwanderung aus. Seit Kriegsbeginn sind die geflüchteten ukrainischen Frauen zum Sinnbild der Zuwanderung geworden, und ihre Akzeptanz ist erwartungsgemäß hoch. Deutschland und Europa mit ihrem seit Jahren ungelösten Flüchtlingsproblem sind also wieder mit Flüchtlingsströmen konfrontiert, diesmal allerdings aus der direkten Nachbarschaft. Die Verteilungsfrage scheint jetzt kein Zankapfel mehr zwischen den Europäern zu sein. Das weist darauf hin, dass die Akzeptanz von Flüchtlingen aus der unmittelbaren Nachbarschaft generell größer ist, und auch gefühlt näher an dem ursprünglichen Gedanken des Asyls als etwa die Boote aus Afrika. (…)

Die Flüchtlinge aus der Ukraine bringen aber noch etwas anderes mit, nämlich Bürgerlichkeit. Mit ihnen wandert allem Anschein nach Bürgerlichkeit zu, also Familienbewusstsein und traditionelle Werte, die einen Gegenentwurf zur postbürgerlichen Sicht bilden, die uns sonst nahegelegt wird. Zugewanderte Bürgerlichkeit ist ja (fast) die einzige, die wir noch besitzen. Mit den Frauen und Familien aus der Ukraine erhält diese einen neuen Schub, und ein neues, nachbarschaftliches Gesicht.

Ein erstaunliches Comeback scheinen Nationalgefühl und Nationalstolz zu feiern. Plötzlich sehen wir, wie sich das ukrainische Volk unter der eigenen Flagge schart und sich tapfer zur Wehr setzt, um die Existenz eines Nationalstaates zu verteidigen, der durch diese Handlung überhaupt erst zu diesem wurde, wie Jörg Baberowski in einem Podcast feststellte. Die Einheit des Landes (das ja aus vielen Volksgruppen besteht) und der Stolz der eigenen Bevölkerung darauf, Ukrainer zu sein, waren also vermutlich nie größer als gerade jetzt, da beide paradoxerweise und zu Putins Fehlkalkül überhaupt erst aus der Taufe gehoben wurden.

Die Gefahr von außen schuf also ein Nationalgefühl, das uns als westliche Außenstehende seltsam anrührt und ergreift. Die Nostalgie, mit der wir es betrachten, deutet auf die große Leerstelle hin, die diesbezüglich in unserer Gesellschaft herrscht. Sie macht etwas Abwesendes sichtbar, und allein deswegen rechnen wir dies zu den positiven Folgen der »Zeitenwende«. (…)

Not und Unruhen sind eher gute Zeiten für das Konservativ-Bürgerliche – auch wenn Not beileibe kein wünschenswerter Zustand ist. Dass sie schließlich nach Jahren etwas mehr Realismus und Verlässlichkeit in eine Gesellschaft zurückbringen könnte, ist ein schwacher Trost, wenn es erst mal länger turbulent bleibt oder bergab geht. Vielleicht steht am Ende gar die bittere Erkenntnis, die uns der Krieg und seine Folgen ganz beiläufig aufzeigen: Dass wir uns als Gesellschaft womöglich jahrzehntelang Ideen widmeten, die sich als kolossaler Irrtum herausgestellt haben – unser Leiden und unser Schmerz daran also umsonst waren.

Einen Zug zum Tragischen kann man diesem Krieg und seiner immer größer werdenden Zahl an Beteiligten nicht absprechen. Fast scheint es, als durchliefe er die klassische Dramaturgie einer griechischen Tragödie, in der sich die Protagonisten immer zwangsläufiger ins eigene Unheil verstricken, um schließlich unterzugehen.

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Putin zuallererst, der sich völlig verkalkuliert hat und nach seinem Scheitern vor Kiew das Heil in einer immer verlustreicheren Ausweitung des Krieges sucht. Das trotzige Beharren wird also tragisch, und der Einsatz, um den er mittlerweile spielt und der sein Volk in den Abgrund reißen könnte, erinnert an ein Vabanque. Aber noch ein anderes tragisches Moment spielt mit hinein: In dem Moment, als der Krieg die subversive Geheimdienst- und Bürgerkriegszone verließ, die er bis dahin betraf, und zum klassischen Krieg wurde, scheiterte er. Wenn man so will, hatte Putin sein vertrautes Terrain verlassen, nämlich das der Geheimdienstoperation, und die offene Schlacht gesucht. Vielleicht wurde ihm das zum (vorläufigen) Verhängnis. Er hatte sich schlicht auf fremdes Terrain begeben.

Nicht weniger schmerzvoll und tragisch stellt sich die Lage für die anderen Beteiligten dar. Die Ukraine, zwar moralisch gestärkt und frei von Schuld an diesem Angriff, hat mit ihrer Entscheidung zum unbedingten Widerstand ebenfalls eine Entwicklung in Gang gesetzt, deren Opfer und Kosten irgendwann den Nutzen übersteigen könnten. Vielleicht bleibt man so souverän, aber muss mitansehen, wie das eigene Land in Trümmer gebombt wird. Die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen auf Jahre hinaus ist für die Ukraine leider keine unrealistische Perspektive. Das ist der tragische Widerpart zum heroischen Kampf des Landes.

Ebenfalls mit von der Partie in der Dramaturgie dieser Tragödie ist der Westen. Recht schnell hat er klargemacht, dass ihm fast kein Preis zu hoch erscheint, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Seine eigene Verwicklung darin stieg in dem Maße, wie der Krieg moralisch und weltanschaulich von ihm aufgeladen wurde. Die möglichen Folgen in Form von schweren Wirtschaftskrisen und gesellschaftlichen Verwerfungen nimmt er billigend und recht großzügig in Kauf, da er sie einer höheren Moral unterordnet, aber auch, weil seine Entscheidungsträger kaum von den eigenen Sanktionen betroffen sein dürften. Hier haftet niemand mit dem Kopf, wenn die Dinge schlecht ausgehen.

Dennoch sind die unbedingte Haltung des Westens und seine Hinnahme möglicher Härten bemerkenswert. Fast scheint es, als sähen wir auch hier eine Rückkehr des Schmerzes, dessen Akzeptanz und Gültigkeit jetzt höheren staatlichen und moralischen Zielen zu dienen haben. Damit wären wir nah dran an Jüngers »Über den Schmerz« und seiner Beschreibung der »Schmerzbejahung« in einer kollektiven Gesellschaft. Vielleicht ist also der Schmerz das, was wir am ehesten von diesem Krieg erwarten dürfen und mit dem er seine Verbindlichkeiten und tragischen Verwicklungen nach allen Seiten hin bezahlen wird.

Gekürzter Auszug aus:
Tobias Becker, Die Rückkehr des Schmerzes. Ein Befund. Edition EXIL im Buchhaus Loschwitz, 272 Seiten, 19,00 €.


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