Tichys Einblick
Wider die Gründungsidee Wilhelm von Humboldts

Ist die Wissenschaftsfreiheit nun bedroht – ja oder nein?

In dieser Frage stehen sich zwei hochschulpolitische Lager gegenüber, deren Positionen sich seit etwa einem halben Jahrhundert herausgebildet haben. Der darüber geführte Diskurs um Deutungshoheit und Einfluss wirkt längst in Politik und Gesellschaft hinein. Von Harald Schulze-Eisentraut

Grundsätzlich ist Wissenschaftsfreiheit immer bedroht. Sie ist Teil der Meinungsfreiheit – und Meinungsfreiheit ist allen undemokratischen Systemen ein Dorn im Auge. Unterdrückung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ist geradezu ein Kennzeichen diktatorischer Systeme. Im 20. Jahrhundert haben wir das in faschistischen, kommunistischen und sozialistischen Systemen gesehen, im 21. Jahrhundert wird es im kommunistischen China und im totalitären Russland, aber auch in den autokratischen Systemen des radikalen Islam wie Iran oder Türkei mit alten und neuen, weil digitalen, Unterdrückungsmaßnahmen perfektioniert.

Nun könnte man einwenden, dass doch überall auf der Welt ein Mathematiker über mathematische Formeln brüten könne, ein Biologe neue Insektenarten klassifizieren und Mediziner, Chemiker oder Physiker überall fachspezifische Experimente durchführen könnten. Tatsächlich gibt es auch in repressiven Systemen in gewissem Rahmen die Möglichkeit zur Grundlagenforschung. Diese beschränkt sich allerdings auf die Naturwissenschaften und endet in der Regel dann, wenn es um die Frage der Anwendungen geht, also den möglichen technischen Nutzen oder die gesellschaftlichen Folgen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.

In anderen Bereichen wie den sogenannten Geisteswissenschaften, die sich mit politischen, sozialen, historischen und kulturellen Themen befassen, oder der Jurisprudenz greifen diktatorische Systeme noch grundlegender in die Wissenschaftsfreiheit ein. In diesen Bereichen geht es darum, die Deutungshoheit der herrschenden Ideologie grundlegend durchzusetzen. Daher werden solche Wissenschaften in der Regel ideologisch gleichgeschaltet.

Wir sehen also, dass Wissenschaftsfreiheit mit Meinungsfreiheit und letztlich mit Demokratie gekoppelt ist. Und erinnern uns nebenbei daran, dass die Mehrheit der Staaten auf diesem Planeten keine Demokratien sind und nur eine Minderheit der Weltbevölkerung das Privileg hat, in demokratischen Systemen zu leben. Aber nun zur Frage, ob die Wissenschaftsfreiheit auch in unseren westlichen Demokratien, speziell auch in den deutschsprachigen Ländern gefährdet sein könnte. Diese Debatte wird seit einigen Jahren in den Feuilletons der großen deutschsprachigen Zeitungen geführt.

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Der zugrunde liegende Befund dieser medialen Debatten ist weitgehend unumstritten: In den letzten Jahren hat es eine Reihe von Vorfällen an deutschsprachigen Hochschulen gegeben, bei denen Dozenten an der Ausübung ihrer Lehrtätigkeit gehindert, diffamiert und denunziert oder ausgeladen wurden. Die Anzahl der publik gewordenen Fälle ist allerdings überschaubar – die Namen, die hier genannt werden, sind immer dieselben: Jörg Baberowski, Martin van Crefeldt, Bernd Lucke. Hinzu kommen Fälle, in denen Personen aus Gesellschaft und Politik daran gehindert wurden, an Hochschulen frei ihre Meinung kundzutun. Dies betrifft etwa Christian Lindner, Thilo Sarrazin und Wolfgang Thierse, vor allem aber Politiker aus dem Umfeld der AfD wie Beatrix von Storch oder Marc de Jong.

Interessanterweise kommen nun die Kommentatoren der angesprochenen Feuilletonbeiträge bei weitgehend gleicher Ausgangslage zu radikal unterschiedlichen Ergebnissen. Dies spiegelt auch die Situation in der wissenschaftlichen Community wider: So gründete sich 2020/21 das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ als ein Verbund von Wissenschaftlern aller Fachrichtungen mit dem Ziel, die Wissenschaftsfreiheit gegen alle ideologischen Einschränkungen zu verteidigen. Die Anzahl der Mitglieder stieg inzwischen auf über 700. Und um es gleich zu sagen, auch der Autor ist Mitglied im Netzwerk.

Gleichzeitig erhoben sich zahlreiche kritische Stimmen gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Grundtenor: Es handele sich um einen Verbund alter weißer zumeist rechter Frauen und Männer, die um ihre akademischen Privilegien bangten und sich den progressiven Strömungen des akademischen Zeitgeistes (wie Gender und Dekolonisierung) verweigerten. Die angeprangerten ideologischen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit gäbe es an deutschen Hochschulen gar nicht, vielmehr solle man lieber mal die Einschränkungen von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Ländern wie Ungarn, Polen oder der Türkei in den Blick nehmen.

Hier zeigt sich nun, was der eigentliche Hintergrund der Debatte und ihrer Polarisierung in der Wissenschaftscommunity und in den Medien ist: Es ist in Wahrheit eine Frage, in der sich zwei hochschulpolitische Lager gegenüberstehen, deren Positionen sich seit etwa einem halben Jahrhundert herausgebildet haben. Und es ist ein Diskurs um Deutungshoheit und Einfluss, der inzwischen aus der Hochschul- und Wissenschaftspolitik in die Politik und die Gesellschaft hineinwirkt.

Grundsätzlich muss dabei zwischen zwei Themenfeldern differenziert werden, die im Zusammenhang mit den Fragen nach der Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit eine Rolle spielen:

Das erste Themenfeld, auf dem es zu Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit kommt, ist ein Resultat systemischer Veränderungen im deutschen Wissenschaftsbetrieb des letzten halben Jahrhunderts. Seit den frühen 1970er Jahren ist das akademische System von einer zunehmenden Bürokratisierung und Stärkung von Verwaltungsstrukturen geprägt. Als Eckpunkte dieser Entwicklung seien hier stichwortartig genannt: die politisch motivierte Beschneidung der Rechte der Professoren (Abschaffung der sogenannten Ordinarienuniversität), die Auflösung der alten Fakultäten und die Aufsplitterung in unzählige Fachrichtungen, die Etablierung von neuen Leitungsgremien und sogenanntem Qualitätsmanagement, die Verschulung der Lehre durch den Bologna-Prozess sowie die Ausrichtung auf Drittmittelprojekte und die damit verbundene „Antragsmaschinerie“. Die durch diese Prozesse etablierten Strukturen haben insofern Einfluss auf die Wissenschaftsfreiheit, als durch sie bestimmte Themenfelder und Positionen präferiert wurden und werden.

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Das zweite Themenfeld umfasst die Versuche bestimmter Gruppen, mit moralisierenden Wertungen wissenschaftliche Positionen und Personen zu diskreditieren – die zurzeit auch in den Medien vieldiskutierten Themen Cancel Culture und Political Correctness. Diese Phänomene müssen ebenfalls vor dem Hintergrund politischer und hochschulpolitischer Auseinandersetzungen seit den späten 1960er Jahren gesehen werden. In diesen Konflikten stehen sich Gruppierungen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Ansichten gegenüber. Bereits im Umfeld und in der Folge der sogenannten Studentenrevolte von 1968 war es an den Hochschulen zu Phänomenen wie Störungen, Einschüchterungsversuchen und Diskreditierungen von Wissenschaftlern gekommen, mit denen Gruppierungen aus dem kommunistischen Umfeld versuchten, in ihrem Sinne ideologischen Einfluss auf die Forschung zu nehmen.

Dieser Prozess konzentrierte sich naturgemäß auf bestimmte geisteswissenschaftliche Fächer, spielte dagegen eine untergeordnete Rolle in „harten Fächern“ wie Medizin, Jura oder den Naturwissenschaften. In den Geisteswissenschaften kam in der folgenden Generation eine ganze Reihe von Vertretern der sogenannten 68er in führende akademische Positionen, legten dort aber – zumindest nach den allerdings nicht repräsentativen, weil persönlichen Erfahrungen des Autors – ihre revolutionäre Einstellung häufig dann ab, wenn es um ihre eigenen Privilegien ging.

Eine wichtige Rolle spielte und spielt bis heute für die Situation an den deutschen Hochschulen der AStA, die sogenannte Studentenvertretung (oder Studierendenvertretung, wie deren Vertreter inzwischen im Gendersprech selbst sagen würden). Aufgrund des Desinteresses des überwiegenden Teils der Studenten an hochschulpolitischen Fragen ist es kommunistischen und linksradikalen Gruppen seit den 1970er-Jahren bis heute gelungen, den AStA als eine ultralinke Organisation mit Überschneidungen zur radikalen Antifa innerhalb der Hochschulen zu etablieren.

Canceln und denunzieren gehören dabei zum Repertoire der Studentenvertreter. Der AStA ist einer der Haupttreiber für Aktionen gegen missliebige Wissenschaftler, denen dann Rassismus, Sexismus oder gleich Faschismus vorgeworfen wird. Häufig haben Vertreter des AStA ebenso wie Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Beauftragte über Gremienarbeit an den Hochschulen einen direkten Draht zur Hochschulleitung oder setzen diese mit den ihr eigenen Mitteln unter Druck.

Seit den 1990er Jahren steigt die Einflussnahme bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs moralisierende Positionen vertreten. Es handelt sich um Interessenvertretungen von Gruppen, die sich selbst als marginalisiert einstufen und daraus weitreichende Ansprüche ableiten wie etwa das exklusive Recht, über bestimmte Dinge sprechen und bestimmte Themenfelder untersuchen zu dürfen. In einigen Bereichen des Wissenschaftsbetriebes haben die Vertreter solcher ideologischer Konstrukte inzwischen die Deutungshoheit erlangt, so etwa in den sogenannten Gender Studies oder den Postcolonial Studies. Es gelingt ihnen zunehmend auch, bestimmte von ihnen vertretene moralisierende Ansprüche im akademischen und medialen Umfeld zu verankern und abweichende Meinungen zu diskreditieren.

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Dabei reicht das Spektrum der solchermaßen mit moralisierenden Denkvorgaben belegten Felder inzwischen über Fragen von Kolonialismus und seinen Folgen über den gesamten Bereich des Feminismus einschließlich Gender-Mainstreaming und das Theoriemodell der Gender Studies, Familienmodelle und sexuelle Diversität bis hin zu Fragen der Tierhaltung, Tierversuche und Gentechnik, Ursachen und Folgen von Klimaentwicklung, Formen der Energienutzung, die Einschätzung von Migration als historisches und aktuelles Phänomen und in diesem Kontext auch die Debatten um den Einfluss des politischen Islam und die europäischen Werte sowie zuletzt die Fragen nach der Einschätzung der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Wissenschaftler, die in diesen Bereichen von solchen moralisierenden Vorgaben abweichende Thesen vertreten, werden von Hochschulangehörigen (Studenten und Dozenten), aber auch von hochschulexternen Aktivisten angeprangert. Zweck dieser Diffamierung ist es, kritische Wissenschaftler aus akademischen Projekten und Debatten auszuschließen. Bereits laufende Projekte, die bestimmten ideologischen und politischen Vorstellungen nicht entsprechen, sollen verhindert werden. Auch Publikationen entsprechender Forschungsergebnisse sollen unterbunden werden. Hinzu kommen die angesprochenen öffentlichkeitswirksamen Versuche, Gastvorträge von politisch missliebigen Wissenschaftlern oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu verhindern.

Die Folge davon ist eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens an manchen Bereichen deutscher Hochschulen. Viele Wissenschaftler trauen sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Sie passen sich den herrschenden ideologischen und politischen Vorgaben an. Um nicht in Schwierigkeiten zu geraten, schränken sie sich dabei selbst in Forschung und Lehre ein. Dadurch entsteht eine Haltung des vorauseilenden Gehorsams. Wissenschaftler folgen den herrschenden ideologischen und politischen Vorgaben, auch wenn sie ihren eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen. Ganz konkret bedeutet dies, dass auf bestimmten Gebieten und mit bestimmter Zielsetzung Forschung nicht mehr oder nur noch eingeschränkt betrieben wird.

Als Befund zeigt sich, dass an deutschen Hochschulen und im „Wissenschaftsbetrieb“ politisch ideologische Vorgaben einer extremen Linken in vielen Bereichen eine Art Deutungshoheit erreicht haben, die mit der Vorstellung einer moralisierenden Wissenschaft einhergeht. Über Aktivistengruppen und einen ebenfalls stark von diesem akademischen Diskurs geprägten Journalismus insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Medien und einigen großen deutschsprachigen Zeitungen haben diese identitätspolitischen Ideologien und ihre moralisierenden Ansprüche inzwischen auch Teile der Gesellschaft erreicht.

Zuletzt sahen sich Anfang 2022 der Akademische Senat und das Präsidium der Universität Hamburg gezwungen, angesichts massiver politisch-ideologisch motivierter Angriffe auf Wissenschaftler der Universität einen „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ zu verabschieden. Dieser Kodex benennt konkret die „fehlende Bereitschaft, sich mit Vorstellungen und Inhalten, die als unbequem oder bedrohlich empfunden werden, auseinanderzusetzen“ und liest sich als eine deutliche Reaktion auf die im akademischen Umfeld vorherrschende Cancel Culture.

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Und damit kommen wir auf unsere Ausgangsbeobachtung zurück, dass nämlich die Antworten auf die Frage nach der Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit so diametral unterschiedlich ausfallen. Die Erklärung ist einfach: Wissenschaftler, die linke identitäre Ideologie vertreten – und das sind nicht wenige insbesondere in den Geschichts-, Sozial und Kulturwissenschaften – sowie zahlreiche ihrer akademischen Schüler, die heute als Journalisten in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und den großen linken Tageszeitungen arbeiten, sehen in der Regel keinerlei Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch Cancel Culture und Political Correctness – wen wundert das, denn sie selbst sind in der Regel davon nicht betroffen, sondern befürworten solche Vorgehensweisen zumeist. Anders sieht das bei Wissenschaftlern und Medienvertreter aus, die sich einem liberalen oder konservativen Weltbild verpflichtet fühlen: Sie erkennen und benennen zunehmend die Gefahren der Entwicklung auch in der deutschsprachigen Wissenschaft. Man muss es deutlich sagen: Es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung um einen Kulturkampf.

Der Autor als erklärter und offener Gegner identitärer Ideologie meint: Wilhelm von Humboldt würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie seine liberale Vorstellung einer Universität auf der Basis selbstständigen Denkens und kritischer Diskussion, frei von staatlicher Einflussnahme heute unter die Räder politischer Ideologien gerät, die persönliche Befindlichkeiten und moralische Vorgaben einzelner selbsternannter identitärer Gruppen über die wissenschaftliche Freiheit stellen, dabei unterstützt von politischen und staatlichen Institutionen!

Wie ein Menetekel wirkt es, dass sich auch die auf Wilhelm von Humboldts Gründungsinitiative zurückgehende Berliner Universität, die sich heute mit dem Namen der beiden Humboldt-Brüder schmückt, zu einem Hort von Wokeness und Cancel Culture entwickelt hat. Und der Autor meint: Jeder, der mit dieser Entwicklung nicht einverstanden ist, sollte beherzt den Fehdehandschuh aufnehmen, den die Identitätspolitik der Wissenschaftsfreiheit hingeworfen hat, und Stellung beziehen.

Dr. Harald Schulze-Eisentraut, Autor dieses Beitrags, hat gemeinsam mit dem Philosophen Dr. Alexander Ulfig Beiträge von Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen zum Thema zusammengestellt. Sie behandeln die unterschiedlichen Facetten von Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit. Die Autoren untersuchen historische, ideologische und politische Beispiele, in denen die Wissenschaftsfreiheit verletzt wird. Sie analysieren ferner die strukturellen Merkmale der Verletzung der Wissenschaftsfreiheit, insbesondere Diffamierungs- und Ausschlussmechanismen.
Viele der Autoren im Sammelband beklagen das an den Hochschulen herrschende Klima der Denunziation, der Einschüchterung und des vorauseilenden Gehorsams. Einige Autoren haben selbst Erfahrungen mit der Verletzung der Wissenschaftsfreiheit gemacht, von denen sie in dem Sammelband berichten.
Als tabuisierte Themenfelder werden im Speziellen angesprochen: Kritik an der Pandemie-Politik, Kritik an der herrschenden Vorstellung vom Klimawandel, Kritik an der Migrationspolitik und Kritik am Feminismus.

Schulze-Eisentraut/Ulfig (Hg.), Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können, FBV, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 25,00 €


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