Tichys Einblick
Interview

Douglas Murray über die Woke-Tyrannei und die Jakobiner unserer Zeit

Die Revolution des 21. Jahrhunderts – die wir in Ermangelung eines passenden deutschen Begriffes auch „Woke“-Revolution nennen – ruiniert unser Geschichtsbild und zerreißt unsere Kultur. „Woke“-Aktivisten gebärden sich als selbstgerechte „Krieger für soziale Gerechtigkeit“.

„Woke“ wurde ursprünglich als mild radikaler Ausdruck an Universitäten benutzt, von frisch graduierten Genderaktivisten oder auch von Fernsehmoderatoren, die sich der Fackelträgerin des „Woke“, der Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, besser bekannt unter dem Kürzel AOC, anbiedern wollten. Mittlerweile ist „Woke“ zu einem Fluch geworden, der alles auf seinem kompromisslosen und unaufhaltsamen Pfad zerstören soll. In einem exklusiven Interview mit der Weltwoche seziert Douglas Murray diese „Revolution“. Er beobachtet dabei, dass die unangenehmen, verdorbenen und spaltenden Elemente, die zunehmend Besorgnis erregen, von Anfang an vorhanden waren. Der britische Bestsellerautor des Buches „Wahnsinn der Massen“ behauptet, dass „diese Leute nicht nur ignorant, sondern auch anmaßend seien und sich selbst zu Richtern, Geschworenen und Vollstrecken über die Vergangenheit erheben, ohne irgendetwas von Geschichte zu verstehen.“

Die Weltwoche: Vor nicht allzu langer Zeit war „Woke“ noch ein positiv besetztes Wort, dass jemanden bezeichnete, der besonders sensibel auf „intersektionale“ Umstände wie Klasse, Rasse, Gender oder Sexualität reagierte. Jetzt erleben wir etwas völlig anderes, etwas das spaltet, zerstört und tyrannisch ist. Douglas Murray, wann verdarb die Kultur des „Woke“?

 Amerikanische Universitäten
Wokeness in Princeton: Extra-Urlaub für die einen, Reinheitstests für die anderen
Douglas Murray: Nun, das Ganze war von Anfang an verdorben. Aber es wurde tatsächlich vor etwa fünf Jahren noch als positiver Begriff genutzt. In den Jahren 2015 und 2016 konnte man tatsächlich noch Leute hören, die sagten, „sie ist so woke“, um jemanden zu loben. So als würde diese Person alle Überzeugungen hegen, auf die wir uns alle einigen können. Leute bezeichneten sich selbst gern als „woke“. Das tun sie nicht mehr. Da hat sich etwas verändert.

Der englische Guardian behauptete ja, ich und andere hätten diesen Begriff erfunden. Wir haben aber nur das Wort benutzt, mit dem sich die „Woken“ selbst bezeichnen. Der Guardian brachte bis vor einigen Jahren Artikel von Leuten, die sich selbst und diejenigen, die sie bewunderten, als „woke“ bezeichneten. Bis die negativen Aspekte zum Vorschein kamen. Aber das unangenehme, verdorbene und spaltende Zeug war von Anfang an da.

Die Weltwoche: Diese Bewegung ist enorm dynamisch, aber eine Kernaussage ist schwer auszumachen. Sie scheint heterogen zu sein. Was sehen Sie als maßgeblichen Kräfte hinter dieser „Wokeness-Kultur“?

Douglas Murray: Das gibt es Verschiedene. Einen Aspekt beschreibe ich in meinem Buch „Wahnsinn der Massen“ und zwar das Verschwinden von privater und öffentlicher Rede. Jetzt ist jede Rede immer und jederzeit potentiell für die ganze Welt. Unser ganzes Leben lang konnten wir, bis vor etwa zwei Jahren, noch zwischen privater und öffentlicher Kommunikation unterscheiden. Ein Zeitungsartikel zum Beispiel war öffentliche Kommunikation und eine Unterhaltung mit einem Freund eine private. Aber das Aufkommen der sozialen Medien hat das beschädigt, so dass jetzt eine vielleicht missglückte private Konversation eine Sache öffentlichen Interesses werden kann, sogar dann, wenn man eigentlich keine öffentliche Person ist.

Das ist eine sehr wichtige Veränderung für unsere Spezies in Sachen Kommunikation. Es bedeutet, dass Leute, die sich dessen sehr bewusst sind, besonders junge Leute, mittlerweile immer versuchen, so zu sprechen wie es ihrer Vorstellung nach von allen akzeptiert werden kann.

In diesem Kommunikationsprozess versuchen sie, ihrer Rede einen universellen Aspekt zu geben, der in Antirassismus, Antisexismus, Antihomophobie und vielem mehr besteht. Das basiert aber nicht auf Vereinbarungen. Das Ganze bleibt hochgradig widersprüchlich, sogar in sich selbst. Und es beruht auf einer unfassbar dürftigen Denkweise, die sich seit den späten siebziger Jahren in einem Teil der amerikanischen Universitäten herausgebildet hat und unter dem hässlichen Begriff Intersektionalismus firmiert. Dieser Intersektionalismus hat einiges zur Verfügung gestellt, auf das sich die modernen „Woke“-Aktivisten berufen.

Wahnsinn der Massen
Identitätspolitik oder die Zersplitterung der Gesellschaft
Ich sollte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass eine ganze Reihe von Denkrichtungen eingeflossen sind. Eine davon ist eine Form des Vulgärmarxismus, besonders die Vorstellung, dass ein sinnvolles Leben aus zahllosen, endlosen Kämpfen gegen Unholde bestehen sollte, Unholde, die tatsächlich existieren, die aber in ihrer Bedeutung übertrieben werden müssen, um sich selbst als tapferer Krieger gegen sie präsentieren zu können.

Die Weltwoche: Wenn man alle Symbole loswerden will, nicht nur die Symbole der Sklaverei, sondern die der Ungerechtigkeit generell, wird man nicht aufhören können, bis auch die Akropolis, dieses Symbol einer wohl jetzt als „Fake“ verstandenen Demokratie, zerstört sein wird. Oder die Pyramiden Ägyptens, die ja von Sklaven erbaut worden sind, in die Luft gesprengt werden wird, so wie die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan gesprengt haben. Wo soll das enden?

Douglas Murray: Es wird nicht enden, bis alles zerstört ist oder bis diesen Leute Einhalt geboten wird. Oder aber, bis ein Zustand erreicht sein wird, der diesen Leuten als sinnvoll erscheint. Als die Zerstörung der Denkmäler anfing, haben manche gesagt: „Aha, Douglas ist dagegen! Da begibt er sich argumentativ aber auf glitschiges Terrain.“ Aber das Terrain ist eben glitschig, weil es keine übereinstimmende ethische Norm dafür gibt, wer oder was aus der Vergangenheit erhalten bleiben darf, gerade auch in Anbetracht der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der unsere gesellschaftlichen und moralischen Normen sich verschieben.

Und es handelt sich ja nicht nur um das Verschieben von Normen, wir erleben auch, was die Ignoranz dieser Leute anrichtet. Sie sind nicht nur ignorant, sie sind obendrein anmaßend. Sie erheben sich zu Richtern, Geschworenen und Vollstreckern über die Vergangenheit, ohne irgendetwas von Geschichte zu verstehen. Sie scheinen zu denken, dass die Beschäftigung mit der Geschichte bedeutet, jede historische Person verdammen zu können, die nicht wusste, was wir heute wissen oder nicht mit dem übereinstimmt, was wir vor ein paar Wochen beschlossen haben, richtig und wichtig zu finden. Jeder der auch nur das Geringste von Geschichte versteht, weiß, dass das eine unmögliche Geschichtsauffassung ist.

Vermutlich würde sich alles beruhigen, wenn diese Leute zur Kenntnis nehmen könnten, dass einer der Gründe für eine menschenfreundliche, liberale und tolerante Person, sich dem Studium der Geschichte in aller Ergebnisoffenheit und Aufgeschlossenheit zu widmen, eine großzügige Geisteshaltung voraussetzt. Es ist gleichzeitig ein Appell an unsere Nachwelt, auch mit uns verständnisvoll umzugehen. Weil auch wir jetzt Dinge tun, auf die zukünftige Generationen erstaunt zurückblicken oder die sie verurteilen werden.

Es könnte sein, dass sie mit Entsetzen und Erstaunen auf unsere Einstellungen zur Abtreibung zurückschauen werden. Oder dass unsere Nachfahren etwa 2050 oder 2090 fragen: Warum haben sie weiter Tiere herangezogen, um sie umzubringen und aufzuessen, wo wir doch „heute“ über solch tolle Methoden verfügen, Fleischersatz herzustellen?

Denkmalsturz 2020
Die westliche Geschichte wird verfälscht
Oder ein zukünftiges Zeitalter mag vielleicht sagen: „Warum haben diese Leute 2020 Statuen historischer Sklavenhalter zerstört? Die Denkmäler wurden ihnen doch nicht aufgestellt, weil sie Sklavenhalter waren, sondern aus anderen Gründen. Die Sklaverei war ein Nebenaspekt.“ Vielleicht werden sie sich fragen, „warum haben diese Leute ihre ganze Kraft dafür eingesetzt, aus Hass auf die Sklaverei Denkmäler einzureißen, aber gleichzeitig billige T-Shirts gekauft, die in chinesischen Sweat-Shops genäht wurden und sich nicht für die Arbeitsbedingungen der Menschen dort interessiert?“ Dann werden sie vielleicht entdecken, dass uns das egal war! Und dass wir zwar gegen die Sklaverei des 18. und 19. Jahrhunderts kämpften, uns die Sklaverei des 21. Jahrhunderts aber nicht interessiert hat. Und dann werden vielleicht unsere Statuen zerstört.

Die Weltwoche: Das momentane Zeitalter, dass das Wall Street Journal „Amerikanisches Jakobinertum“ nennt, könnte auch seine Richtung ändern, wie wir alle aus der französischen Geschichte wissen. Die Kinder der Revolution werden sich vielleicht selbst fressen.

Douglas Murray: Ja absolut! Das ist die Phase, auf die ich mich freue.

Die Weltwoche: Es wird aber blutig werden, wenn es sich ähnlich wie 1790 abspielt.

Douglas Murray: Natürlich wird es das. Aber ich hoffe sehr, dass sie sich gegenseitig außer Gefecht setzen.

Dieses Interview, das Urs Gehriger mit Douglas Murray geführt hat, erschien zuerst unter dem Titel „Tyranny of Woke“ in DIE WELTWOCHE international. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme und Joachim Winter für die Übersetzung aus dem Englischen.

Mehr zum Thema: Douglas Murray, Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. Edition Tichys Einblick im FBV, 352 Seiten, 24,99 €.


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