Tichys Einblick
Interview

Hans-Werner Sinn: „Das wird kein gutes Ende nehmen“

Die Corona-Krise hat eine gewaltige Umverteilung innerhalb der EU in Gang gesetzt, dazu kommen Hilfsprogramme innerhalb Deutschlands. Der Gesamtbetrag der Hilfsprogramme summiert sich auf 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Professor Hans-Werner Sinn fordert eine Rückkehr zu Maß und Mitte

Tichys Einblick: Herr Professor Sinn, auf die Corona-Krise folgt eine globale Wirtschaftskrise. Neuerdings verbreitet Wirtschaftsminister Altmaier Optimismus und erwartet ein Schrumpfen von 5,8 % der Wirtschaftsleistung. Kommt es doch nicht so schlimm und rettet ein Aufholeffekt?

Hans-Werner Sinn: Den Aufholeffekt gibt es, denn es wurde ja keine Fabrik oder Anlage zerstört; die Wirtschaft kann auf Knopfdruck wieder aufleben … Das lässt hoffen, dass es auch für Deutschland wieder einen schnellen Aufstieg gibt, allerdings nicht auf das Ursprungsniveau. Es wird kein V, sondern ein umgekehrtes Wurzelzeichen. Es wird außerdem nicht überall gleich sein. Wir konnten schon im Zuge der Finanzkrise beobachten, dass Volkswirtschaften, die schon vorher strukturelle Schwächen hatten, die Verluste nicht so schnell und nicht so weit aufholen können. Das betrifft zum Beispiel Südeuropa und Frankreich.

Tichys Einblick: Nun fordern viele nach dem Stillstand eine „große Transformation“ Richtung CO2 -Neutralität und umweltneutrale Wirtschaft – und die Begrenzung der Starthilfen, etwa für nicht geschlechtergerechte Unternehmen …

Hans-Werner Sinn: Das halte ich für falsch. Ich bin ja auch ein Kritiker der Energiepolitik, die gleichermaßen teuer und wirkungslos ist. Wir machen es damit der deutschen Wirtschaft schwer, ohne dass das Klima etwas davon hat. Das sollten wir noch mal überdenken, auch für andere Ideen. Denn man kann jeden Euro nur einmal ausgeben. Die Kosten durch die Krise sind so ungeheuer groß, dass wir mit ideologisch motivierten Ausgabenprogrammen vorsichtig sein sollten.

Tichys Einblick: Nun hat der Staat einen großen Teil der wegen des Lockdown ausgefallenen Einkommen durch Kurzarbeitergeld und vielerlei Zuschüsse und Programme ersetzt. Finanziert wird das durch extrem wachsende Staatsverschuldung und durch die schnell laufende Druckerpresse. Kann das gut gehen?

Hans-Werner Sinn: Richtig ist, dass man in einer Krise wie dieser die Staatsverschuldung erhöht. So wird erreicht, dass die Lasten der Krise und die damit verbundenen Lasten nicht durch Konsumeinschränkungen heute getragen werden, sondern dass man die notwendige Konsumeinschränkung über die Zeit verteilt. Das ist eine alte Forderung der Finanzwissenschaft. Nicht richtig ist aber, dass man diese Schuldpapiere, die von den Staaten ausgegeben werden, an die Notenbank verkauft und diese Gelder über welche Programme auch immer dann verteilt. Denn das bedeutet, dass die Menschen nicht arbeiten und trotzdem ihr Einkommen erhalten. Dieses Geld aber kommt direkt aus der Druckerpresse. Es werden also keine Güter oder Dienstleistungen als Gegenposition für dieses neu gedruckte Geld produziert. Das führt über einen längeren Zeitraum zu einem gefährlichen Geldüberhang.

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 Dabei haben wir durch die Bekämpfung der Eurokrise ohnehin schon einen gewaltigen Geldüberhang aufgebaut, und jetzt kommt eine weitere massive Ausweitung dazu.  Nach den derzeitigen Planungen für 2020 kommen 1,1 Billionen Euro an neuem Geld aus dem Eurosystem hinzu; Geld, das dann im Kreislauf zirkuliert. Das wären also zusammen mit den bisherigen zusätzlichen 3,7 Billionen aus der Bekämpfung der Eurokrise insgesamt 4,8 Billionen Euro. Vor zwölf Jahren, als die europäischen Volkswirtschaften zusammen nicht kleiner waren, betrug diese Summe erst 1,2 Billionen. Wir haben also jetzt schon viermal so viel Geld vorgesehen, und man muss sich fragen, ob das noch mit dem Ziel der EZB kompatibel ist, die Preise stabil zu halten.

Tichys Einblick: Aber seit Jahren passiert das genaue Gegenteil: Die Menschen konsumieren zu wenig, die Nachfrage ist niedrig, und die Preise steigen praktisch nicht. Woher soll jetzt plötzlich der Nachfrageschub kommen, der die Inflation anheizt? Der Geldüberhang besteht ja schon seit Jahren.

Hans-Werner Sinn: Richtig. Das Geld ist da. Es liegt auf Konten, im Portemonnaie. Es wird nur nicht ausgegeben, und damit bleiben vorerst die Preise niedrig. Der Grund ist ganz einfach: In der Krise sind die Menschen ängstlich, sie trauen sich nicht zu konsumieren, sie halten ihr Geld zusammen. Das nennt man dann Vorsichtskasse; ein weiterer Grund ist Spekulation: Viele hoffen, dass es irgendwann günstigere Immobilienpreise gibt oder die Aktienkurse sinken oder Kaufzuschüsse für Autos gewährt werden – sie geben das Geld jedenfalls nicht aus, sondern schieben ihre Kaufwünsche auf die lange Bank.

Das hat der große Ökonom John Maynard Keynes einmal „Liquiditätsfalle“ genannt. Solange wir in dieser Phase der Liquiditätsfalle leben, hat die wundersame Geldvermehrung, wie fast alle Staaten und Zentralbanken weltweit sie derzeit betreiben, keine Wirkung. Sie steigert weder Nachfrage noch Preise, denn jeder zusätzliche Geldbetrag verschwindet erst einmal in dieser Falle. Aber wenn die Wirtschaft sich wieder normalisiert, vielleicht sogar brummt, und damit im Wirtschaftszyklus ohnehin Inflationstendenzen entstehen, müsste man das Geld wieder einsammeln. Die EZB müsste dann also den Rückwärtsgang einlegen. Statt Schuldpapiere wie derzeit aufzukaufen und damit Geld in den Markt zu geben, müsste sie diese Papiere wieder verkaufen und das Geld einsammeln und verbrennen. Dann wäre es aus dem Kreislauf wieder entfernt.

Aber das kann sie gar nicht machen. Denn die Folge wäre, dass die Kurse dieser Papiere fallen würden. Das brächte Banken in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die auch noch solche Papiere in ihren Bilanzen halten, und auch manche Staatshaushalte ließen sich nicht mehr finanzieren, weil die Zinsen steigen. Das wäre ein bedrohliches Szenarium für die südeuropäischen Staaten mit hoher Schuldenlast und chronisch gefährdeten Banken, das die EZB unter allen Umständen vermeiden wird. Die EZB hat keinen Rückwärtsgang, und deshalb gibt es eine latente Inflationsgefahr.

Tichys Einblick: Eine Gefahr, die wodurch realisiert würde?

Hans-Werner Sinn: Dazu braucht es einen Anlass. Bei guter Konjunktur könnten die Ölpreise steigen und später die Löhne, das heißt, die Lohn-Preis-Spirale beginnt sich zu drehen. Das Vertrauen in die Währung sinkt, weil das Geld an Kaufkraft verliert. Die Bürger merken das sehr schnell, und dann gibt man dieses überflüssige Geld aus. Aber dadurch geht es ja nicht weg! Es hat nur ein anderer dieses Geld, und dann wird auf der Flucht vor der tatsächlichen oder nur erwarteten Inflation immer mehr ausgegeben. Dann steigen die Preise, die Inflation dreht sich weiter. Das ist das normale lehrbuchartige Phänomen, wie wir es aus der Wirtschaftsgeschichte kennen.

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Um im Bild zu bleiben: Wir fahren in eine Einbahnstraße, vielleicht sogar Sackgasse mit dieser Politik. Die EZB hat keinen Rückwärtsgang, sie kann nicht wenden. Einige sagen, das sei nicht schlimm, das hätten die Staaten schon öfter gemacht. Das stimmt, aber es ist ein schlechter Trost, wenn man auf Deutschlands Geschichte schaut, beispielsweise im Ersten Weltkrieg. Finanziert aus der Druckerpresse, begann schon während des Krieges eine Inflationsphase, die sich nach dem Krieg beschleunigte und in der Hyperinflation des Jahres 1923 gipfelte – mit verheerenden Folgen für Wirtschaft, Bürger und letztlich für das gesamte politische System. Das ist ja genau die Erfahrung, die Deutschland veranlasst hat, durch den Artikel 123 des EU-Vertrags bei der Aufgabe der D-Mark einen Schutzmechanismus gegen diese Wiederholung einzubauen: Es ist das Verbot der Monetarisierung der Staatsverschuldung durch die Zentralbank. Aber genau diese Monetarisierung wurde und wird seit 2008 vorgenommen und wird immer weiter beschleunigt. Das wird kein gutes Ende nehmen.

Tichys Einblick: Preissteigerungen gibt es schon heute, etwa bei Lebensmitteln. Ist das so ein Warnzeichen?

Hans-Werner Sinn: Nein, das sind nur einzelne Preissegmente. Die Leute sind derzeit zu ängstlich zum Geldausgeben, und deswegen fordern manche ja staatliche Konjunkturprogramme. Das wiederum erscheint mir zu früh. Vielleicht gibt es ja auch eine aufgestaute Nachfrage, und wenn der Lockdown ganz aufgehoben ist, gehen die Leute wieder einkaufen. Vielleicht ist es ja auch die Maskenpflicht, die sie vom Einkaufsbummel abhält. Das wissen wir nicht, und deshalb sollten wir abwarten, bis wir wirklich wissen, wie sich die Menschen nach der Pandemie verhalten.

Tichys Einblick: Viele leben derzeit, ohne zu arbeiten, und das nicht mal schlecht. Ist das eine Wohlstandsillusion mit dem Geld aus der Druckerpresse? Kurzarbeitergeld wurde in der Höhe und Dauer ausgeweitet. Ist das die richtige Maßnahme?

Hans-Werner Sinn: Damit ist eine gewisse Gefahr verbunden. Wenn jetzt das Kurzarbeitergeld auf bis zu 80 Prozent vom Netto aufgestockt wird und das für bis zu 24 Monate, dann ist das doch eine einfache Rechnung: Lohnt sich Arbeit wirklich, wenn man nur 20 Prozent mehr erhält im Vergleich zum Status mit Kurzarbeitergeld? Diese Erhöhung war falsch. Bei so hohen Sätzen kann sich die Krise auch nach dem Lockdown fortsetzen. Deswegen bin ich dafür, zuerst das Wirtschaftsleben freizugeben und die Freizeitaktivitäten zuletzt. Nach der durch Corona erzwungenen Ruhepause erst mal in den Urlaub zu gehen ist sicherlich das falsche Signal.

Tichys Einblick: Die hohen Zahlen der Staatsverschuldung machen einen schon schwindlig …

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Hans-Werner Sinn:  Auch wenn ich es prinzipiell für richtig erachte, wie der Staat wirtschaftspolitisch in der Krise gehandelt hat, und dies auch unterstütze: Man hat des Guten schon zu viel getan, und wir beginnen Maß und Mitte zu verlieren. Wir reden von einem Rückgang von sieben Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung, aber die Rettungsprogramme einschließlich der Bürgschaften belaufen sich mittlerweile auf 40 Prozent. Das sind 1,3 Billionen Euro! Solche Volumina wurden noch niemals bewegt. Diese Zahlen können schon Angst machen. Wir sollten jetzt wieder zur Vernunft zurückkehren und so schnell wie unter gesundheitspolitischen Aspekten möglich wieder an die Arbeit gehen.

Tichys Einblick: Finanzminister Olaf Scholz hat die Rückkehr zur „Schwarzen Null“ schon 2021 angekündigt. Ist dieses Ziel überhaupt erreichbar oder Beginn des Wahlkampfgetöses?

Hans-Werner Sinn: Das kann ich mir eher nicht vorstellen. Die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes ist ja bereits beschlossen, und viele der Ausgabenprogramme, die wegen Corona auf den Weg gebracht wurden, erstrecken sich in das nächste Jahr hinein. Auch wird die Wirtschaftsleistung nach den Schätzungen der Institute noch nicht wieder auf dem alten Niveau sein, was geringere Steuereinnahmen bedeutet.

Tichys Einblick: Erwarten Sie einen zweiten Lockdown oder wie müsste man handeln, um eine weitere Verschärfung der Krise zu vermeiden?

Hans-Werner Sinn: Keiner will den neuen Lockdown. Weltweit ist das Infektionsgeschehen keineswegs gebrochen, und in Deutschland hat eine zweite Welle bereits eingesetzt. Die Behörden sind aber wachsam und greifen heute frühzeitig durch, wenn sich irgendwo Infektionsherde zeigen. Das ist intelligenter, als alles zuzumachen. Ich wünschte mir, die App würde man überarbeiten, und zwar so, dass nicht nur derjenige gewarnt wird, der Kontakt zu Infizierten hatte, sondern auch andere darüber, wo sich die Person in etwa aufhält, die eine Warnung bekommen hat. Nur kann kann es zu einer Verhaltensänderung kommen, die das Infektionsgeschehen substanziell verändert.

Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt. Herder, 224 Seiten, 18,00 €


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