Tichys Einblick
Roger Scruton rehabilitiert

Die Gesellschaft darf nicht vom Twitter-Mob regiert werden

Alle noch verbliebenen Erwachsenen in diesem Land sollten imstande sein, über den täglichen Online-Wahnsinn hinwegzusehen

Andy Hall/Getty Images

In den vergangenen Tagen sind zwei schwere Ungerechtigkeiten rückgängig gemacht worden. Zum einen wurde Sir Roger Scruton wieder in die Regierungskommission „Building better, building beautiful“ berufen. Zum anderen wurde Carl Beech wegen Betrugs und Rechtsbeugung vor Gericht gestellt. Auch wenn sich die beiden Fälle im Detail erheblich unterscheiden, ist ihr Ursprung genau im gleichen Übel der Gegenwart zu suchen.

Roger Scruton wurde im April 2019 aus seiner unbezahlten Position entlassen. Der Grund war ein gefälschtes und verfälschtes Interview von George Eaton. Die Wochenzeitung New Statesman entschuldigte sich inzwischen für die Irreführung ihrer Leser. Doch am empörendsten war nicht die Tatsache, dass ein linker Schreiberling Zitate verfälschte, und auch nicht, dass Eaton die Zitate auf Twitter veröffentlichte und es damit vorübergehend schaffte, einen der bedeutendsten Denker unserer Zeit zu „skalpieren“ – wie ein anderer Journalist in seiner Aufregung den Vorgang bezeichnete. Am empörendsten war, dass Regierungsmitglieder, konservative Abgeordnete und andere ohne Bedenken auf diesen Zug aufsprangen. Der konservative Wohnungsbauminister James Brokenshire warf Scruton schon wenige Stunden später aus dessen Amt. Andere Tory Minister, frühere Minister und Partygestalten (wie George Osborne und Daniel Finkelstein) forderten den Rausschmiss Scrutons. Niemand verlangte, die Zitate oder die Abschrift des Interviews zu sehen, oder gar Scrutons Version der Ereignisse zu hören.

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Hätten sie es getan – wie es The Spectator getan hatte – hätten sie feststellen können, dass es nicht nur darum ging, dass Medien und Politiker von einem unehrlichen Journalisten belogen wurden, sondern auch darum, dass sie dem Onlinemob bereitwillig die Vorherrschaft überließen.

Denn das ist es, was Stürme wie diese verursachen. Ausnahmslos jeden Tag geht der Twitter-Mob auf jemanden los. Alle noch verbliebenen Erwachsenen im Land sollten imstande sein, diesen täglich 24 Stunden andauernden Hass zu erkennen. Sie könnten zum Beispiel herausfinden wollen, welche Behauptungen wahr und welche unwahr sind. Sie könnten sogar versuchen, den Unterschied zwischen der realen Welt, der Onlinewelt und dem Bereich der absoluten Phantasie zu erkennen.

Aber die Unfähigkeit dazu ist nicht allein ein Problem der Konservativen. In den vergangenen Jahren hat sich Jeremy Corbyns Labour Partei so weit von den üblichen Regionen linker Ansichten entfernt, dass ihr stellvertretender Vorsitzender, Tom Watson, inzwischen als die Stimme der Gemäßigten in der Partei gilt. Aber es sind nur fünf Jahre seitdem vergangen (wie ich damals an gleicher Stelle geschrieben habe), dass sich Watson um die Position des obersten Hexenjägers beworben hatte. Damals hat ein einzelner verwirrter Mann (der damals als „Nick“ bekannt wurde, von dem wir heute jedoch wissen, dass es sich um Carl Beech gehandelt hat) behauptet, dass es in Westminster einen Ring von Pädophilen gegeben haben soll. Insbesondere behauptete er, dass eine Reihe von lebenden und bereits verstorbenen Abgeordneten und Mitgliedern des Oberhauses sich regelmäßig versammelt hatten, um Kinder zu vergewaltigen und zu ermorden. Egal, welch schlechte Meinung man von unseren Politikern haben mag, solche Behauptungen hätten mit einem gewissen Maß an Skeptizismus behandelt werden müssen.

Nicht so Tony Watson, der seine parlamentarischen Rechte dazu nutzte, Öl ins Feuer zu gießen und die von Beech verbreiteten Lügen noch auszuweiten. Im Abgeordnetenhaus forderte er, dass der Inlandsgeheimdienst MI5 und der Auslandsgeheimdienst MI6 ihre Akten öffentlich machten, um zu enthüllen, was sie über diesen mörderischen Pädophilenring wussten. Verschiedene Zeitungen waren der Meinung, dass Watsons Hexenjagd nicht nur legitim, sondern auch mutig sei. Jeder, der sich skeptisch äußerte, wurde nicht nur mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen, sondern auch vor der Mittäterschaft gewarnt.

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Watson hatte eine gewisse Zeit lang Erfolg damit, den Mob zu lenken, doch jetzt, nachdem seine einzige Quelle entlarvt wurde und auf sein Urteil wartet, hat er kaum mehr als nur geringfügige Zugeständnisse an die Realität anzubieten. Er war großzügig genug, dem früheren konservativen Abgeordneten Harvey Proctor (einer der Opfer von Beech und Watson) zuzugestehen, „verletzt und wütend“ sein zu dürfen. Dabei muss erwähnt werden, dass der 72 Jahre alte Proctor infolge der Beschuldigungen seinen Job und sein Haus verloren hatte und zeitweilig gezwungen war, im Schuppen eines Freundes zu wohnen. Doch Watson ist ein besonders Schlauer und fügte hinzu, er hoffe, dass Beeches Verurteilung „andere Überlebende von Kindesmissbrauch“ nicht daran hindern werde, sich in Zukunft an die Polizei zu wenden.

Tatsächlich jedoch ist die Antwort der Hauptstadtpolizei – unter der Führung des zwar in Ungnade gefallenen, aber zum Lord beförderten Bernard Hogan-Howe – am entlarvendsten. Während der Ansturm gegen Roger Scruton aufgezeigt hatte, wie seicht und widerstandsunfähig das ganze „konservative“ Establishment ist, so verwiesen am Ende die Behauptungen von Beech auf die gleichen institutionellen Merkmale bei der Hauptstadtpolizei. Als die Behauptungen immer Umfangreicher wurden, hätte der Polizeipräsident über der Menge stehen können. Stattdessen verkündete er, die Polizei werde untersuchen, ob die Abgeordneten Kinder ermordet hätten. Diese Untersuchung kostete zwei Millionen Pfund, mündete in Effekthascherei und fand gar nichts.

Die Ankunft eines neuen Ministerpräsidenten und des neuen Kabinetts wäre eine Gelegenheit zur Reflexion, zumindest aus dem einen Grund, weil eine Gesellschaft so nicht regiert werden kann. Sie kann nicht funktionieren, wenn es zugelassen wird, dass irgendwer oder jeder – ob angesehen oder nicht – nur aus einer Laune des Mobs heraus herausgegriffen, herumgezerrt und „vernichtet“ wird. Sie kann nicht funktionieren, wenn sie Twitter mehr Aufmerksamkeit schenkt als Fakten. Aber vor allem kann sie dann nicht funktionieren, wenn sie Menschen dafür bestraft, dass sie im Recht sind, und andere belohnt (oder straflos lässt), obwohl sie im Unrecht sind.

Die Wiedereinsetzung von Roger Scruton in seine Regierungsposition rehabilitiert den Philosophen vollständig. Doch der Journalist, der Lügen über ihn verbreitete, und die Personen, die sich der Hetzjagd gegen ihn angeschlossen hatten, haben einen vernachlässigbaren Preis für ihre Handlungen gezahlt. Niemand hat bis zum heutigen Tag einen politischen Preis dafür gezahlt, weil er die Lügen von Carl Beech verbreitet hatte. Keine einzige Zeitung. Und bestimmt keine einzige Person, die half, diese widerliche Geschichte durch das Netz zu peitschen.

Wenn wir die Ära der sozialen Medien überleben wollen, wird es nicht ausreichen, gelegentlichen Lügen zu widersprechen. Es wird notwendig sein, eine gewisse zivile Stärke und Weisheit zu entwickeln, die vor der Online-Ära durchaus vorhanden war, und auch in dieser Ära verwirklichbar sein sollte.

Dieser Beitrag von Douglas Murray erschien zuerst am 27. Juli 2019 in The Spectator. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme und Krisztina Koenen für die Übersetzung ins Deutsche.


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