Tichys Einblick
Gefangen in der Logik des Verdachts

Der Verfassungsschutz auf dem Weg zur Gedankenpolizei

Mathias Brodkorb macht in seinem neuen Buch deutlich, dass der Verfassungsschutz von einer Logik des Verdachts lebt, die schlicht alles als inkriminierendes Indiz zu deuten geneigt ist. In den pointierten Worten des Autors: „Verfassungsschützer sind Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates.“ Von Sebastian Ostritsch

Die Bundesrepublik Deutschland ist die einzige westliche Demokratie, die sich einen Inlandsgeheimdienst leistet, der die eigenen Bürger zum Zwecke einer vorsorglichen Gesinnungsprüfung staatlicher Überwachung aussetzt. Verteidigt wird die Existenz einer solchen Behörde meist mithilfe des Schlagwortes von der „wehrhaften Demokratie“. Man sei gezwungen, die Verfassung gegen Extremisten aller Couleur proaktiv zu verteidigen.

Wer Mathias Brodkorbs neues Buch gelesen hat, wird zu einer gegenläufigen Einschätzung kommen müssen. Brodkorb, ehemaliger Bildungs- und Finanzminister (SPD) von Mecklenburg-Vorpommern und heute freier Publizist, ist studierter Philosoph und ein guter dazu. Das zeigt sich an seiner Fähigkeit, begriffliche Klarheit zu schaffen und komplexe Zusammenhänge einer messerscharfen Analyse zu unterziehen. Mit diesen Mitteln macht er deutlich, dass der Verfassungsschutz von einer Logik des Verdachts lebt, die schlicht alles als inkriminierendes Indiz zu deuten geneigt ist. In den pointierten Worten des Autors: „Verfassungsschützer sind Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates.“

Dass dies nicht übertrieben ist, belegen die sechs Fallstudien, die im Zentrum von Brodkorbs Werk stehen. Es ist haarsträubend, was Brodkorb über die Machenschaften des Verfassungsschutzes zutage fördert. Um nur eines von vielen schlagenden Beispielen zu nennen: Der Rechtsanwalt und linke Bürgerrechtler Rolf Gössner wurde gut vierzig Jahre vom Verfassungsschutz bespitzelt, bis schließlich 2021 nach fünfzehnjährigem juristischem Kampf höchstrichterlich festgestellt wurde, dass seine Überwachung rechtswidrig war. Kaum etwas dürfte die erwähnte Logik des Verdachts so gut zum Ausdruck bringen wie die Tatsache, dass der Verfassungsschutz sogar den Umstand, dass Gössner „nicht Mitglied in einer als extremistisch geltenden Organisation“ war, als Zeichen seiner verfassungsfeindlichen Gesinnung verstanden wissen wollte.

Auch das politisch derzeit heißeste Eisen, den insbesondere vom Verfassungsschutz geführten „Kampf gegen rechts“, spart Brodkorb nicht aus, sondern widmet ihm gleich drei Fallstudien: eine über das Institut für Staatspolitik um den Publizisten und Verleger Götz Kubitschek, eine über die AfD und eine über den Hochschullehrer Martin Wagener. Es ist ein intellektueller Genuss zu lesen, mit welch unerbittlicher Präzision und Objektivität Brodkorb die Argumentation des Verfassungsschutzes in diesen Fällen auseinandernimmt.

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Als ein Grundübel erweist sich dabei der Hang der Behörde, „Begriffe aus Gummi“ zu verwenden. Bereits für den essenziellen Begriff des Extremismus verfügen die Verfassungsschützer offenbar über keine sachlich sinnvolle oder juristisch haltbare Definition. Völlige Konfusion herrscht schließlich beim Begriff des Volkes. Die von Brodkorb mit vorbildlicher Klarheit dargelegte Unterscheidung zwischen dem politischen Staatsvolk (Demos) einerseits und der historisch-kulturellen Abstammungsgemeinschaft (Ethnos) andererseits ist für den Verfassungsschutz bereits tabu. Wer die bloße Existenz eines Ethnos anerkennt, denkt laut dieser Behörde schon extremistisch.

Die Kombination aus verschwörungstheoretischer Verdachtslogik und unreflektierten Gummibegriffen führt, wie Brodkorb überzeugend argumentiert, letztlich sogar dazu, dass der Verfassungsschutz sich immer mehr nicht nur als Meinungs-, sondern auch als „Gedankenpolizei“ betätigt. Bestimmte Dinge sollen schlicht undenkbar werden.

Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass die Gefahr, die vom Verfassungsschutz ausgeht, trotz mangelnder polizeilicher Befugnisse enorm ist: Die Tatsache, dass die Behörde nicht nur Vereinigungen, sondern inzwischen auch Einzelpersonen öffentlich als extremistisch und verfassungsfeindlich brandmarken darf, hat im Informationszeitalter für die Betroffenen, die nichts Illegales getan haben, gravierende Konsequenzen, die teilweise genauso schwer wiegen können wie strafrechtliche Sanktionen.

Am bedrohlichsten ist aber vielleicht, dass es inzwischen jeden treffen kann, wie Brodkorb mit Verweis auf das neue Konzept einer „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ zeigt. So tauchten etwa im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2021 sogar jene „Kümmerer“ auf, die den Opfern der Überschwemmung im Ahrtal private Hilfe leisteten. Diese hätten dadurch nämlich den Eindruck erweckt, „dass“ – so der Wortlaut des offiziellen Dokuments – „staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien“. Der Verfassungsschutz ist, wie Brodkorb richtig schlussfolgert, damit längst zum Regierungsschutz verkommen.

Im Interesse des freiheitlichen Rechtsstaates ist zu hoffen, dass dieses furiose Buch möglichst vielen Menschen, allen voran politischen Entscheidungsträgern, die Augen öffnet: Der Verfassungsschutz gehört abgeschafft.


Dieser Beitrag von Sebastian Ostritsch erschien zuerst unter dem Titel „Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates“ in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.


Mathias Brodkorb, Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien. Zu Klampen Verlag, Hardcover mit Überzug, 250 Seiten, 25,00 €


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