Tichys Einblick
Rationalität statt Haltung und Hypertoleranz!

Denken schadet der Illusion

Die Wurzeln allen Übels sieht Rousseau in den Künsten und Wissenschaften, die von der »glücklichen Unwissenheit« wegführen. Ihm geht es nicht um die Bildung des Verstandes, sondern des Instinkts. Mit ihm wird das Irrationale hoffähig.

»Vom Verlust des Denkens« heißt der Untertitel meines neuen Buches. Warum aber obsiegen im deutschen Volk immer wieder emotio über ratio, der Bauch über den Kopf, Romantik über Aufklärung, Gefühle über Besonnenheit, Gesinnung über Urteilskraft? Die Antwort ist einfach: Denken ist anstrengend, wühlt auf, hinterlässt Zweifel, Ambiguitäten, Komplexität, Kontingenzen. Gesinnung dagegen entlastet von all dem. Vor allem aber: »Denken schadet der Illusion.« So heißt es in einem Songvers von Hildegard Knef aus dem Jahr 1963.

Um Illusionen, Visionen, Fantastereien, Hyperrealitäten, Parafaktisches, politisch und historisch »Korrektes« aber scheint es den Deutschen und ihren Leithammeln zu gehen. Deshalb sind gerade Linke die Hauptfeinde von Realität, Ratio, Vernunft, Aufklärung. Ideologien sind nun einmal leichter nachvollziehbar als Wirklichkeit, weil die Theorie – sofern es eine Steigerung von »logisch« gibt – logischer ist als die sperrige Wirklichkeit. Deshalb greifen Ideologen gerne zur Methode »Keuner«, wie sie Bertolt Brecht in einer der »Geschichten vom Herrn Keuner« zum Ausdruck bringt. Dort wird Keuner gefragt, was er tue, wenn er einen Menschen liebe. Keuner antwortet: »Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge, dass er ihm ähnlich wird.« »Wer? Der Entwurf?« wird bei Keuner nachgefragt, und Keuner antwortet: »Nein, der Mensch.«

Der große Künder der Irrationalität war der heute noch vor allem in »grünen« Kreisen verehrte Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778). Die Wurzeln allen Übels sieht Rousseau in den Künsten und Wissenschaften, die von der Natur, von der »glücklichen Unwissenheit« wegführen. Nicht um Verstandesbildung gehe es deshalb, sondern um die Bildung des Instinkts. Mit Rousseau wird damit das Irrationale hoffähig.

Vom Verlust des eigenen Denkens
Josef Kraus appelliert: »Bürger, holt euch eure Souveränität zurück!«
Rousseau hatte – damals wenigstens – namhafte Gegenspieler. »Habe Muth, dich deines Verstandes zu bedienen!« heißt es 1784 bei Immanuel Kant. »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!« lässt Friedrich Schiller 1787 den Malteser-Ritter Marquis von Posa im »Don Carlos« vom spanischen König Philipp II. fordern. Später war es ein Sigmund Freud, der – bei aller Arbeit, die er zur Aufklärung des Unbewussten, des Irrationalen und des Triebhaften geleistet hat – alles andere als ein Rousseauist war. Für ihn bedeutete Entwicklung hin zu Erwachsenwerden: Wo Es ist, muss Ich werden! Das heißt: Wo das Irrationale, das Triebhafte, das Lustprinzip herrschen, müssen das Rationale und das Realitätsprinzip die Herrschaft übernehmen.

Der Deutsche will es anders, er soll es anders wollen. Für ihn gilt die spätlateinische Sentenz: Mundus vult decipi, ergo decipiatur – Die Welt will getäuscht werden, also möge sie getäuscht werden. Der Deutsche in seiner Schafsgeduld will auch gar nicht dahinterschauen, gar nicht nach-denken, was ihm vorgesetzt wird. »Die deutsche Bevölkerung«, so formuliert es Peter J. Brenner, »wurde mit einer Kette von Entscheidungen konfrontiert, deren jede die vorhergehende an Irrationalität noch einmal überbot. Eurokrise, Grenzöffnung und Energiewende sind politische Fehlentscheidungen epochalen Ausmaßes gewesen … Niemand hat den Regierenden rationale Begründungen für ihre Entscheidung abverlangt.« Corona-Lockdowns seien angefügt. All dies innerhalb eines Jahrzehnts. Und keimt gelegentlich doch Kritik an gewissen, angeblich »alternativlosen« Entscheidungen auf, dann wird diese Kritik diskreditiert als populistisch, verschwörungstheoretisch, faschistisch, AfD-nah. Pawlow’sche Geiferreflexe könnte man das nennen.

»Toleranz«: Trojanisches Pferd des Irrationalismus

Kaum ein Wort hat in den vergangenen Jahren eine solche Karriere hingelegt wie »Toleranz«. Aber wie es nun einmal bei einer Inflation ist: Das Objekt verliert seinen Wert. Toleranz, wohin man schaut, dabei kommt Toleranz nicht ein einziges Mal im Grundgesetz vor. Toleranz bleibt allüberall angesagt. Es gilt, »Zeichen zu setzen für Toleranz und Vielfalt«, dazu gibt es Gratiskonzerte diverser Linksrock-Gröler »Gegen Intoleranz«. Toleranz ist angesagt gegenüber allem – außer es ist nicht-links: Toleranz gegenüber allen anderen Menschen und Hautfarben dieser Welt, gegenüber Religionen oder Konfessionen, gegenüber allen sexuellen Orientierungen. »Bündnisse für Toleranz« werden gegründet, die Evangelische Akademie Tutzing vergibt einen »Toleranz-Preis«. Dazu kommt Fehlertoleranz in der Pädagogik: Auf dass ja kein Heranwachsender durch einen Hinweis auf einen Fehler, zum Beispiel einen Rechenfehler, eine traumatisierende »Mikroaggression« erfahren könnte.

»Moralisiert den Diskurs. Wir sind die Guten«
»Das Framing der Linken« – nun statistisch belegt
Aber all diese Toleranzen laufen hinaus auf die Toleranz eines »Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin Allem«. So hat es Arnold Gehlen 1969 in seinem monumentalen Werk »Moral und Hypermoral« beschrieben. Heute haben wir »kultursensible« und »interkulturell kompetente« Hypertoleranz allenthalben, vor allem wenn bestimmte Glaubenssätze und Praktiken islamischen bzw. muslimischen, oder kurz: nicht-deutscher bzw. nichteuropäischer, Herkunft sind. Niemand möge sich doch bitte »islamophob« aufregen über Kernbestände islamischer Kultur: Mehrfachehen, Kinderehen, Scharia-Gerichte, Ehrenmorde, die Ideologie der Inferiorität von Frauen, drastische Strafen für Ehebruch, Homophobie, Antisemitismus, die Todesstrafe für eine Konversion zum Christentum, die Verklärung von Massenmördern als Märtyrer, die Einheit von Moschee und Staat …

Alles geduldet im Namen von Toleranz! Hypertoleranz – gepaart mit grenzenloser Empathie – scheint zudem gegenüber bestimmten Tätern Pflicht zu sein. Aber muss ich respektieren und akzeptieren, was man toleriert? Nein, ich muss nicht alles respektieren und akzeptieren, was ich toleriere. Warum Hypertoleranz, zumal der oder das zu Tolerierende sich nicht reziprok verhält, die entgegengebrachte Toleranz vielmehr als eine Toleranz der Gleichgültigkeit, Schwäche, der Unterwerfung, der Ohnmacht oder des Selbsthasses auslegt? Ja, Hypertoleranz ist ein Zeichen von Schwäche, ein Symptom von Ich-Schwäche sowie verkorkster Wir-Identität. Oder einfacher: Hypertoleranz ist ein Zeichen von Orientierungsverlust, ein Zeichen von Indifferentismus. Wenn nämlich alles »gleich gültig« und gleichermaßen zu tolerieren ist, dann wird es über kurz oder lang »gleichgültig«.

Derjenige, der tolerant zu sein hat oder es reflektiert sein will, kann und darf sich nicht immer nur zurücknehmen. Er kann es höflich, aber bestimmt ablehnen, die Last (lateinisch tolus) anderer Überzeugungen aktiv mitzutragen. Und zwar ohne jede Anbiederung. Jedenfalls ist es nichts als Anbiederung, wenn Kanzlerin Merkel in einem Anflug von Courage im Juli 2016 Muslime um Toleranz für den Schweinefleischkonsum der Deutschen bat.

Toleranz gedeiht nur auf eindeutig eingeforderter Gegenseitigkeit, nicht auf der Basis eines Kotaus vor einer Programmatik, die mit dem Grundgesetz und dem abendländischen Wertekosmos als Basis aller Bürger- und Menschenrechte nichts zu tun hat.

Anleitung zum Selberdenken
(K)ein Volk von Untertanen, Flüsterern und Denunzianten
Nein, wir brauchen einen Begriff von Toleranz, wie ihn die Medizin und die Technik kennen: als Toleranz innerhalb einer Bandbreite, weil etwa ein Patient Schaden nimmt, wenn seine Widerstandskraft erschöpft ist oder er ein Zuviel an Dosis bekommt; oder innerhalb eines technischen Systems, wenn die Überschreitung eines Spielraums zu Unfällen führt. Oder allgemein gewendet: Hypertoleranz wird schnell zum Trojanischen Pferd, das »Feinde« im Sinne Poppers importiert. Karl Popper (1902 – 1994) hat auf diese Gefahr im Zusammenhang mit Totalitarismen hingewiesen. In seinem großen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« schrieb er: Uneingeschränkte Toleranz führe zum Verschwinden der Toleranz.

Für EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen scheinen Freiheitsfeinde ohne Bedeutung zu sein. Als der Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU), Moussa Faki Mahamat, Anfang 2020 Toleranz für die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen in 34 von 54 afrikanischen Länder verlangte (in Mauretanien, im Sudan sowie Teilen Nigerias und Somalias droht sogar die Todesstrafe, in arabischen Ländern ohnehin), meinte Frau von der Leyen, die EU werde die Unterschiede deutlich machen, aber auch akzeptieren (sic!): »Wir versuchen zu überzeugen, aber wir erkennen an, dass es unterschiedliche Positionen gibt.« Und: Die EU dürfe von der AU nicht erwarten, dass sie sich anpasse.

Nein, diese Frau versteht nicht, dass bei einer Begegnung von Toleranz und Intoleranz immer die Intoleranz obsiegt. Hier wird Toleranz zur Farce. Denn Duldung von Intoleranz kann es nicht geben. Deshalb muss Schluss sein mit der Illusion, Freiheitsfeinde besänftigen und integrieren zu können. Thomas Mann schreibt es im »Zauberberg« sehr heftig: »Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.« Hypertoleranz kann auch zum Verbrechen an unseren Kindern werden, weil damit Umstände geschaffen werden, die unsere Kinder zu bewältigen haben.

Leicht gekürzter und um die Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Josef Kraus, Der deutsche Untertan. Vom Denken entwöhnt. LMV, 352 Seiten, 24,00 €. Jetzt als aktualisierte Neuausgabe, 360 Seiten, 20,00 €.


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