Tichys Einblick
Eben nicht typisch Deutsch

Alain Finkielkraut: Ein Kulturpessimist auf der Anklagebank

Alain Finkielkraut ist ein französischer Philosoph und Autor. Er ist Mitglied der Académie française. Als deklarierter Kulturpessimist sitzt er auf der Anklagebank: Der Briefwechsel zwischen Élisabeth de Fontenay und Alain Finkielkraut: In vermintem Gelände (1).

JOEL SAGET/AFP/Getty Images

Der Kulturpessimismus, da sind sich alle wohl Gesinnten und Rechtschaffenen, von der bedeutenden Europapolitikerin Ska Keller bis hin zur neu gegründeten „Union der Mitte“ einig, ist eine Gefahr. Eine renommierte Berliner Migrationsforscherin – und wer sollte es besser wissen als sie? – wies noch vor kurzem darauf hin, dass Kulturpessimisten eigentlich Faschisten oder zumindest Präfaschisten seien, denn auch die Weimarer Republik sei durch solche Leute in den Abgrund gestürzt worden (2). Ähnlich schlimm ist es freilich, sich über kulturelle Diversität und Buntheit nicht immer nur zu freuen und womöglich gar sehnsüchtig in dunklen Stunden an den „homogenen Nationalstaat“ (gab es je etwas Schlimmeres?) zu denken, wie es angeblich – um nur ein Beispiel zu nennen – auch ein so honoriger Mann wie der evangelische Theologe Richard Schröder gelegentlich tun soll, folgt man gewissen Pressemeldungen (3).

Oder ist das diskriminierend?
Darf Europa sich auf die Aufklärung berufen?
Man könnte auf den ersten Blick meinen, solche Debatten seien etwas typisch Deutsches, zumal wir ja wirklich zu unserer nationalen Geschichte ein recht gebrochenes Verhältnis haben, was die Politik auch dazu veranlasst hat, dafür zu sorgen, dass an den Schulen deutsche und europäische Geschichte vor dem 20. Jahrhundert kaum noch unterrichtet werden, jedenfalls nicht mehr in größeren Zusammenhängen. Man könnte sich ja an die falschen Dinge erinnern, besser ist es offenbar, ohne Vorstellung von der eigenen Vergangenheit, im Zustande der kulturellen Unschuld, den Problemen der Gegenwart gegenüber zutreten, das scheinen jedenfalls die Bildungspläne der Bundesländer, wie zum Beispiel Baden-Württembergs, für den Geschichtsunterricht anzunehmen.

Aber das alles sind eben, anders als man oft meint, keine spezifisch deutschen Entwicklungen, es gibt sie im Ausland genauso, auch in Frankreich, wo auf den ersten Blick die Nation sich viel ungehemmter selber feiert. Unter der Oberfläche ist die Lage aber ähnlich. Wer es wagt, von nationaler Identität zu sprechen, wer es wagt, im Namen dieser Identität Immigranten Assimilationsleistungen abzuverlangen, oder gar nach einer starken Begrenzung der Zuwanderung ruft, der gerät auch in Frankreich potentiell ins Abseits. Er wird unter Umständen als Mitläufer der extremen Rechten, also des Front National denunziert.

So ist es in Frankreich in den letzten 10 Jahren auch Alain Finkielkraut gegangen, Finkielkraut ist ein prominenter Philosoph und Intellektueller jüdischer Herkunft, der jenes Frankreich und seine Kultur verteidigt, dessen Bürger er bewusst und ohne Vorbehalte geworden ist, ohne deshalb seine jüdische Identität aufzugeben, zu der er sich vielmehr ebenso bewusst bekennt.

Ein Briefwechsel unter – ehemaligen – Freunden

Der Band „In vermintem Gelände“ präsentiert der Öffentlichkeit nun den Briefwechsel zwischen Finkielkraut und einer alten Freundin (mit der Finkielkraut früher auch Bücher gemeinsam publiziert hatte), Élisabeth de Fontenay. Auch Fontenay ist Philosophin, katholisch erzogen, hat sie sich als junge Frau wieder dem Judentum zugewandt, das ursprünglich die Religion ihrer später konvertierten Mutter war. Väterlicherseits stammt sie von einem katholischen Adligen ab, der sich als Konservativer nach der Besetzung Frankreichs in den 1940er Jahren der Resistance anschloss. Diese biographischen Details sind nicht ganz unwichtig, denn das Versagen des traditionellen konservativen Frankreich während des Zweiten Weltkrieges – ihr Vater war hier eher eine Ausnahme – prägt Fontenays Sicht auf die französische Geschichte, die sie sehr viel kritischer sieht als Finkielkraut, auch mit Blick auf den Kolonialismus. Fontenay ist keine dogmatische Linke, aber doch eine unbedingte Verteidigerin der multikulturellen Gesellschaft und offenbar haben sie und Finkielkraut sich einander aus politischen Gründen im Laufe der Jahre entfremdet. Der Briefwechsel ist ein Versuch, eine Bestandsaufnahme dieser Entfremdung vorzunehmen, aber auch über die politischen Gräben hinweg den Dialog aufrecht zu erhalten.

Was ist Identitätspolitik?
Es gibt für Fontenay trotz einer gewissen Liberalität gewisse Tabus, deren Verletzung ein radikales Verdammungsurteil nach sich zieht. Dazu gehört zum einen der Gedanke, es gäbe irgendwie eine Art Essenz der französischen Kultur, womöglich ein „génie française“, einen besonderen französischen Geist, auch über die Generationen hinweg. Ein solcher „Substantialismus“, von dem sie vermutet, dass Finkielkraut ihm huldige, ist für Fontenay, einerseits dumm, wie sie meint (imbécile), andererseits geradezu kriminell, wohl deshalb, weil sie befürchtet, dass die Berufung auf solche Traditionen immer zum Ausschluss Dritter, etwa rezenter Immigranten führen müsse. Das zweite Tabu ist eine kritische Haltung gegenüber der Moderne und dem Erbe der Revolution überhaupt, denn damit werde man zum Kulturpessimisten (S. 33) und gerate in das Fahrwasser jener konservativen Denker wie Charles Maurras (1868-1952), die mit ihren Schriften vor 1940 die Fundamente für das Vichy-Regime gelegt hätten, oder ordne sich doch zumindest in die Linie der katholischen und oft monarchistischen Schriftsteller wie Bernanos, Leon Bloy oder Jules Barbey d’Aurevilly ein, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert Demokratie und Republik gleichermaßen abgelehnt hätten. Solche Denker und Literaten in ihrer Kulturkritik auch nur ernst zu nehmen, ist für Fontenay ein unverzeihlicher Verrat an der Idee des Fortschritts überhaupt, und das wirft sie auch Finkielkraut vor.
Ein Verteidiger des Nationalstaates in der Stunde seiner Auflösung

Nun ist es in der Tat richtig, dass Finkielkraut mit Autoren des konservativen oder auch des rechten Spektrums, sei es lebenden oder toten, flirtet, die für andere in Frankreich indiskutabel sind, dazu gehört auch der Romancier Renaud Camus (geb. 1946), der mit seinen Schriften die identitäre Bewegung maßgeblich beeinflusst hat. Finkielkraut zögert jedoch auch in diesem Briefwechsel nicht, sich zu solchen Kontakten zu bekennen, auch wenn er die Ideen von Camus in vielen Fragen nicht teilt. Aber in dessen Radikalismus sieht er vor allem eine Frucht der Verzweiflung über den Zustand Frankreichs, den er selber ebenfalls als fast hoffnungslos betrachtet.

Einerseits wolle die Schule gar keine kulturellen Traditionen mehr vermitteln, andererseits würden zunehmend die Vertreter von Immigrantenverbänden für sich geradezu das Recht reklamieren, Frankreich als Land völlig neu zu prägen und gewissermaßen zu kolonialisieren, wobei dann die Einheimischen langsam marginalisiert würden, wie Finkielkraut meint, der hier durchaus entsprechende Zitate aufbieten kann, die seine Sicht der Dinge, zumindest auf den ersten Blick, belegen.

Was er seinen Gegnern auch unter den jüngeren Historikern vorwirft, ist, die Geschichte Frankreichs vollständig zu pulverisieren, so dass gar kein sinnstiftendes Narrativ als Kern der Nationalgeschichte mehr übrig bleibt. Ein Beispiel dafür sieht er in der vor kurzem erschienen Histoire mondiale de la France (Paris 2017), die von dem Mediävisten Patrick Boucheron herausgegeben wurde. Sie stellt die Geschichte Frankreichs tatsächlich tendenziell als bloße Reihe von mosaikartig aneinandergereihten Einzeldaten dar, ein größerer Zusammenhang mit Sinne eines Werdens der Nation ergibt sich daraus nicht, jede teleologische Perspektive fehlt. Statt dessen wird betont, wie sehr Frankreich durchgehend durch äußere Einflüsse geprägt worden sei. Für Finkielkraut kommt in dieser Darstellung der Wunsch zum Ausdruck, als Nation niemals existiert zu haben (la volonté de n’avoir jamais été), eine Art postume Negation der gesamten nationalen Vergangenheit und Kultur (221).

Spezial zur Buchmesse
Frankreich als Land der brillanten Niedergangsanalysen
Mit am schwersten wiegt hier der Vorwurf Finkielkrauts, dass die multikulturelle Linke mit ihrem grundsätzlichen Konstruktivismus – es gibt keine Natur, es gibt keine „Fakten“ – sich berechtigt fühlt, auch die Geschichte in ihrem Sinne vollständig umzuschreiben. Sicherlich, auch die großen Nationalgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts haben das zum Teil im Sinne einer bewussten Mythenbildung getan, aber man glaubte doch, dass eine wissenschaftlich-kritische historische Forschung dieses Stadium mittlerweile überwunden habe. Das ist aber offenbar nicht der Fall, wir erleben, da kann man Finkielkraut wohl bis zu einem gewissen Grade zustimmen, mittlerweile eine Wiederkehr der Mythen in der Geschichtsschreibung, nur dass es diesmal nicht nationale, sondern post-nationale, post-europäische Mythen sind, für die es nur noch eine Globalgeschichte gibt, in deren Kontext Europa eine unbedeutende Provinz ist.

Kein Zweifel kann überdies daran bestehen, dass jene Intellektuellen, die hinter der neuen Deutung der französischen Geschichte stehen, sich nicht unbedingt durch ein Übermaß an Toleranz auszeichnen. Als vor 10 Jahren ein Mediävist wagte, die übliche These in Frage zu stellen, dass Europa seine Kenntnis der griechischen Philosophie ganz überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich der Vermittlung durch die Araber verdanke, wurde gegen den Autor der entsprechenden Studie, Sylvain Gougenheim, von linken Kollegen und Intellektuellen sofort eine Art Ketzerprozess eröffnet. Man warf ihm Rassismus und Islamophobie vor und versuchte, ihn als Rechtsradikalen darzustellen. In Deutschland wurde die Wissenschaftliche Buchgesellschaft vom linken Mainstream dafür kritisiert, dass sie Gougenheims Buch überhaupt auf Deutsch hatte erscheinen lassen (4).

Es sind solche Vorfälle, auf die sich Finkielkraut auch bezieht, die ihn zu dem Schluss kommen lassen, das in der heutigen Welt der Antirassismus zu einer ebenso intoleranten Ideologie geworden sei wie in der Vergangenheit der Bolschewismus (258). Es geht nicht mehr um den – berechtigten – Kampf gegen Vorurteile, es geht viel eher darum, den Blick auf bestimmte – möglicherweise unerfreuliche – Aspekte der Realität gänzlich zu verbieten. Es ist schwer, ihm hier zu widersprechen angesichts des absolut inflationären Gebrauches des Wortes Rassismus, wie wir es ja auch jetzt gerade in der gegenwärtigen MeTwo-Debatte in Deutschland erleben.

Ein Außenseiter im Kampf gegen die postnationalen Sittenrichter

Die Verbitterung Finkielkrauts, die auch im Briefwechsel mit Fontenay zum Ausdruck kommt, hat aber noch andere Gründe. Zu Recht weist er mit den Worten des Philosophen Eric Weil (gest. 1977) darauf hin, dass das, was Europa ausmache, eine geistige Tradition sei, die sich gerade nicht mit der Tradition begnüge, sondern das Vermächtnis der Vergangenheit immer wieder in Frage gestellt habe (203), stärker als in anderen Kulturen, die zu einer solchen Selbstkritik meist erst in Zeiten der Niederlage oder des Niedergangs fanden. Nur, in der Gegenwart gilt es zwar als höchstes moralisches Gebot, alles was europäisch und westlich ist, zu relativieren, zu kritisieren und zu provinzialisieren, aber gleichzeitig wird fremden, nicht-europäischen Kulturen natürlich das Recht bescheinigt, ihr „Wesen“, ihren Geist und ihre geistige Substanz (hier ist Essentialismus offenbar keine Sünde) gegen alle westlichen Einflüsse zu verteidigen; so zumindest erscheint es Finkielkraut. Selbstkritik will man ihnen, den Anderen, ersparen, darauf zu bestehen, wäre ja westliche Überheblichkeit. Oder anders formuliert und auf Deutschland übertragen, man darf für Mehmed den Eroberer, der Konstantinopel einnahm, schwärmen und sich sein Bild ins Wohnzimmer hängen, aber wehe, man ließe erkennen, dass man Karl Martell, den Sieger über die Sarazenen, verehrt, oder auch nur Prinz Eugen, dann ist man natürlich ein Rechtsradikaler.

Es ist diese Heuchelei, die es in Frankreich genauso gibt wie in Deutschland, die Finkielkrauts Empörung erklärt. Zugleich befindet er sich in der Position eines Außenseiters. Seine eigenen Eltern waren osteuropäische Immigranten (sein Vater ein Auschwitz-Überlebender), denen die französische Kultur zunächst fremd war, die der Sohn so begeistert auf der Schule und Universität in sich aufnahm. Gerade dies, die Assimilation – die freilich für ihn immer mit dem Bekenntnis zum Judentum verbunden blieb – wird ihm nun zum Vorwurf von der Linken gemacht, so wie viele Linke ja auch Immigranten aus arabischen, respektive muslimischen Ländern, die westliche Werte für sich reklamieren und gegen die religiös Konservativen im eigenen Lager verteidigen, oft mit einem erheblichen Misstrauen betrachten, da sie nicht in ihr Weltbild passen. Dafür gibt es auch in Deutschland genug Beispiele.

Ein radikaler ethnischer und sozialer Wandel
Europäische Stadt der Zukunft – This is London
Man kann Finkielkraut vielleicht vorhalten, dass seine von Empathie geprägte Auseinandersetzung mit Autoren wie Renaud Camus und mit dessen schwefelhaltigen Schriften wenig klug, ja tatsächlich gefährlich sei, aber wenn der Dialog zwischen Links und Rechts über Fragen wie Immigration und Assimilation einmal abgerissen ist, dann kommt es natürlich auf beiden Seiten zu einer Zuspitzung der Positionen, wenn nicht gar zur Radikalisierung, die dazu führen kann, dass man auf der konservativen Seite auch ältere Denktraditionen wiederbelebt, die viele für kontaminiert halten. Dass aber dieser Dialog abgerissen ist, daran trägt in Frankreich wie in Deutschland die Linke mit ihrer Neigung, sogleich die politischen Sittenwächter zu mobilisieren, wenn jemand von „nationaler Kultur“ oder einer möglichen Überlegenheit Europas gegenüber anderen Kulturen zu sprechen wagt, eine erhebliche Mitschuld. So wie in Deutschland eine politisch und kulturell hegemoniale Elite, die vom Fundi-Flügel der Grünen bis zu den Merkel-Getreuen in der CDU, also gewissermaßen von Claudia Roth bis zu Armin Laschet reicht, verlangt, dass man ihre „semantischen Geßlerhüte“ (Wolfgang Streeck, FAZ 4. August 2018,. S. 9: Hört auf Europa als einen Wechselbalg zu behandeln) allzeit korrekt grüßt, so gibt es in Frankreich ähnliche Tabus, die eine sachgerechte Diskussion erschweren.

Man kann Finkielkraut durchaus dafür kritisieren, dass er gelegentlich zustimmend Autoren zitiert, die der Kollaboration in den 1940er Jahren nahestanden, das tut auch Elisabeth de Fontenay in ihren Briefen. Aber wenn eine falsche politische Haltung in einer Ausnahmesituation ein ganzes Lebenswerk diskreditiert, wie bei den wirklichen oder vermeintlichen Kollaborateuren, müsste das dann nicht auch für einen Autor wie Sartre gelten, der zeitweilig den Stalinismus bewunderte? Zu dieser Konsequenz können sich aber nur wenige Linke in Frankreich durchringen und am Ende auch Finkielkrauts Gesprächspartnerin nicht. Ihr ist immerhin zu Gute zu halten, dass sie sich auf den Dialog mit ihrem alten Freund überhaupt eingelassen hat, was ihr offenbar, das lässt Finkielkraut am Ende sichtlich schockiert anklingen (264), von ihren heutigen Freunden in ihrem Milieu wohl schon als Verrat ausgelegt wurde. Diese Einschätzung zeigt, wie tief die Gräben mittlerweile geworden sind, wenn Gegner und Befürworter des unbegrenzten Multikulturalismus und der offenen Grenzen aufeinanderstoßen; in den meisten Fällen ist ein Gespräch gar nicht mehr möglich, weder in Frankreich noch in Deutschland. Élisabeth de Fontenay gebührt Respekt dafür, dass sie zumindest versucht hat, sich dieser Entwicklung in den Weg zu stellen und damit mehr Mut bewiesen hat als viele andere, auch wenn am Ende der Briefwechsel zeigt, dass postnationale Linke und Verteidiger des Erbes der Aufklärung und des republikanischen Nationalstaates – denn das ist Finkielkraut – in zentralen Fragen selbst bei beiderseitigem guten Willen nur noch mühsam eine gemeinsame Sprache finden können, um sich auszutauschen.

1 Besprechung von Élisabeth de Fontenay und Alain Finkielkraut, En terrain miné, Paris, Edition Stock 2017, 265 S.

2 https://www.tagesspiegel.de/politik/migrationsforscherin-naika-foroutan-es-ist-unser-land-verteidigen-wir-es-gemeinsam/22830476.html

3 http://schmid.welt.de/2018/07/07/der-fiese-vogel-des-verdachts-patrick-bahners-richard-schroeder-und-der-homogene-nationalstaat/

4 https://www.sueddeutsche.de/kultur/skandalbuch-von-sylvain-gouguenheim-der-mittelalter-sarrazin-1.1134165