Tichys Einblick
Die Schlechteste aller Regierungsformen

Angekommen in der Kakistokratie

Unser politisches System, das weder eine vollständige Republik, noch eine vollständige Demokratie, noch eine Monarchie ist, vereint die schlechtesten Eigenschaften aller Regierungsformen. Grund dafür: Politiker, die sich nicht rechtfertigen müssen, und eine verantwortungslose Presse.

IMAGO / blickwinkel

Ein Kanzler, der in einen Bankenskandal verwickelt ist. Ein Wirtschaftsminister, der in einer Energiekrise Kernkraftwerke abschaltet. Ein Justizminister, der „grundrechtsschonende“ Gesetze ausarbeitet, die die Grundrechte beschneiden. Eine Innenministerin, die den Verfassungsschutz zum Regierungsschutz umbaut. Ein Gesundheitsminister, der an einer nicht mehr von der Hand zu weisenden Wirrnis leidet. Eine Verteidigungsministerin, die vom Militär nur so viel weiß, dass sie dieses für kostenlose Familienflüge nutzen kann. Eine Außenministerin, die glaubt, dass sie Weltinnenpolitik betreibt.

Es sind Bilder aus einer Kakistokratie. Die Herrschaft der Schlechtesten zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine bloße Regierung, sondern eine institutionalisierte Staatsform ist. Diese „Transformation“ läuft seit Jahrzehnten an – und sie hat vermutlich nicht einmal ihren Schlusspunkt erreicht. Ihre Entwicklung war nicht nur durch Interessengruppen geleitet, die einen „Marsch durch die Institutionen“ wollten. Der Grund liegt weitaus tiefer in den Defekten der aktuellen Staatsordnung begründet.

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Dass der Staat schon lange nur noch eine Fassade ist, der Inhalt aber längst ein anderer, führt immer wieder zu Anachronismen. Bekanntestes Beispiel: Die Nation ist tot. Doch der Reflex des „großen Wir“ in den politischen Forderungen besteht weiter fort. „Wir“ müssen sparen, „wir“ müssen Verantwortung übernehmen, „wir“ sind zu etwas aufgerufen. Deutschland erscheint immer noch als anthropomorphe Figur der Germania wie im 19. Jahrhundert, deren Körper das Volk formt. Der Anachronismus des Volksaufrufs besteht fort, obwohl dieselbe Politik den Nationalstaat und die mit ihm zusammenhängenden Gefühle, Ideen und Mechanismen begraben hat.

Es bleibt der Aufruf an die amorphe „Gesellschaft“ oder „die Menschen im Land“. Es ist eine bloße Haut ohne Fleisch und Knochen, denn während Gott, Kaiser oder Vaterland Ideale waren, für die man noch in den Krieg zog, steckt hinter der Beschwörung von „demokratischen Werten“ kein Esprit. Von allen diesen Werten hat die Freiheit die Menschen noch am meisten begeistert. Die Motivation, warum sich viele Europäer für solche Formeln nicht mehr begeistern können, liegt an der mangelnden Identifikation mit einem politischen System, das mittlerweile keinen einzigen Wert mehr wahrt, von dem es beteuert, ihn zu vertreten.

Nur so ist es in Deutschland möglich, dass der Regierungschef im Verdacht steht, eine zentrale Rolle in einem Millionenbetrug zu spielen und im allgegenwärtigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk der größte Korruptionsskandal der Nachkriegsgeschichte aufgetaucht ist – aber auch ein gut informierter Teil der Bevölkerung achselzuckend weitergeht. Eine Krise dieser Größe hätte man früher als Vertrauenskrise in die öffentlichen Institutionen bewertet – etwas, das in Italien zum Ende des dortigen Parteiensystems Anfang der 1990er führte. Doch in Deutschland hat man sich mittlerweile an den Status der Kakistokratie so sehr gewöhnt, dass man sie entweder nicht erkennen will – oder resigniert.

Nicht wenig ist über die Herrschaft der Parteien und ihre destruktiven Auswirkungen geschrieben worden. Ähnliches gilt für die Auswahl der konformsten Netzwerker und Interessenvertreter, die sich durch Charaktereigenschaften auszeichnen, die für die Berufspolitik nützlich sind, aber nicht zur Staatsführung. An dieser Stelle soll aber noch ein weiterer Aspekt hinzugezogen werden. Nicht nur die Bundesrepublik, sondern eine ganze Reihe westlicher Staatswesen berufen sich auf ein Verfassungssystem, das antike Inspirationen mit frühneuzeitlichen Traditionen und Modernisierungen des 18. und 19. Jahrhunderts vereint.

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Das weitsichtige Handeln der Politik und ihrer Lohnschreiber
Eine Wurzel des Übels ist darin zu suchen, dass die parlamentarische Demokratie eine unzeitgemäße Verfassung ist, die spätestens ab dem Zeitalter der Massengesellschaft reformbedürftig war. Sie hat sich nicht an die Veränderungen der Zeit angepasst und stattdessen Altbewährtes unhinterfragt weitergetragen, verzichtete dafür auf Lehren aus der Vergangenheit. Der Staat nennt sich Demokratie und Republik: Doch er ist in Wirklichkeit weder Fisch noch Fleisch. Das wird insbesondere deutlich an den fehlenden Möglichkeiten, einen Staatsmann zur Rechenschaft zu ziehen.

Historisch spielte diese Rechtfertigung bei Monarchien eine geringere Rolle. Die Macht des Monarchen wurde durch die Macht der Adligen begrenzt. Der Monarch hatte ein Interesse daran, sein Reich vorteilhaft zu führen, weil er es als Privatbesitz handelte: Es war ein für die Kinder bestimmtes Erbe. Ähnlich wie ein Bauer seinen Söhnen einen möglichst gut geführten Hof hinterlassen wollte, hatte der Feudalherr ein ureigenes Interesse an der Pflege seines Besitzes. Staatstheoretisch brauchte es daher keine Rechtfertigung: Man ging davon aus, dass kein Monarch der Welt seinen Kindern ein heruntergewirtschaftetes Land hinterlassen wollte.

Das ist auch der Grund, warum die Definition des heutigen Staatswesens als Feudalwesen unpassend ist. Der Vasall kümmert sich um sein Lehen, geht er doch davon aus, dass auch seine Kinder es vom Herrn bestätigt bekommen. Das Feudalwesen denkt in Generationen. Politiker denken dagegen in Wahlen. Sie kommen und gehen, sie sind wie Nomaden, die mitnehmen, was sie bekommen können; soll sich doch der Nachfolger darum kümmern. Der Staat ist damit nicht nur metaphorische, sondern tatsächliche Beute. Man kann 16 Jahre lang auf einem fruchtbaren Acker Unkraut säen und dem Nachfolger vorhalten, dass in der eigenen Zeit als Bäuerin kein Löwenzahn auf dem nun verwahrlosten Feld gewachsen sei.

Republiken brauchen andere Mittel, um trotz Ämterrotation sicherzustellen, dass das Staatswesen erhalten bleibt. Die Demokratie von Athen, an der sich einige Vordenker bei der Konzeption der modernen Staatsformen orientierten, hatte ein hartes, aber effizientes Mittel, um Personal loszuwerden, das zu mächtig geworden war, um es aus dem Amt zu entfernen, aber zugleich zu inkompetent oder zu gefährlich, um es im Amt zu belassen. Das Scherbengericht bot die Möglichkeit, Leute nicht nur zu wählen, sondern mit einer Mehrheit ins Exil zu schicken. Selbst erfolgreiche Politiker waren davor nicht sicher, wenn man der Meinung war, dass diese ihre Kompetenzen überschritten. Damit galt nicht nur das Prinzip, dass man eine Mehrheit der Stimmen bei einer Wahl für sich gewinnen musste; es galt auch das Prinzip, während seiner Herrschaft nicht die Mehrheit der Bürger gegen sich zu haben.

Seibold ist ein Symptom
Eine Presse ohne Regierungskritik ist wertlos
In Rom war es dagegen üblich, Politiker nach Ablauf ihrer Amtszeit zu verklagen. Dass dabei politische Intrigen eine Rolle spielten, um alte Rivalen loszuwerden, ist dabei weniger ein Makel, denn vielmehr eine hilfreiche Ausnutzung niederer menschlicher Triebe im Sinne der Bewahrung der Republik. Die frühneuzeitliche Republik Venedig machte sich diese rigorose Praxis zu eigen. Dort drohte bereits Admirälen, die eine Seeschlacht verloren, eine Anklage wegen Hochverrats. Die Staatsinquisitoren – nicht zu verwechseln mit denen der katholischen Kirche – stellten den Nachkommen eines Dogen Rechnungen aus, wenn dieser sein Amt nicht ordnungsgemäß geführt hatte. Ein Beispiel dafür ist der Doge Leonardo Loredan, der sein Amt außerordentlich erfolgreich geführt, aber wegen Amtsanmaßung Ärger auf sich gezogen hatte.

Das 19. Jahrhundert verzichtete auf diese Methoden. Sie waren auch nicht nötig, weil die bürgerlich geprägten Gesellschaften von Eliten dominiert wurden, die selbst im Parlament saßen und etwas zu verlieren hatten. Zugleich war die Entstehungszeit von einem Wahlsystem geprägt, das die Massen vom Wahlgang ausschloss. Mit dem Aufkommen der Massengesellschaft sollte die Presse mehr denn je Bedeutung gewinnen, um die Politik einerseits zu kontrollieren und der amorphen Menge eine Stimme zu geben. Mit dem Anwachsen der Wählerschaft auf Millionen verlor der bürgerliche Diskussionsraum an Bedeutung im Vergleich zu Massenkundgebungen oder Radioansprachen.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war allerdings das Schicksal der gerade erst wachsenden repräsentativen Demokratie besiegelt. Die Presse hätte als „Vierte Gewalt“ die Aufgabe besessen, die aus der vorrevolutionären Zeit bekannten Kontrollmechanismen zu ersetzen. Über „sanfte Gewalt“ wäre es ihre Aufgabe gewesen, die inkompetentesten Charaktere durch Information der Öffentlichkeit wie die Spreu vom Weizen zu trennen. Nicht durch Kampagnen und Wählerbeeinflussung, sondern durch wahrheitsgemäße und faktentreue Darstellung, die dem Bürger klarmacht, wer in bestimmten Themenbereichen tatsächliche Kompetenz hat.

Stattdessen ist die Presse einerseits zum Instrument der Politik geworden, um insbesondere die Masse auf Linie der Regierungspolitik zu bringen. Die öffentlichen Rundfunkanstalten sind Ausdruck dessen – und es ist kein Zufall, dass auf dem bevorstehenden Höhepunkt der Kakistokratie die Krise des ÖRR evident geworden ist. Andererseits hat die Presse längst ihre korrigierende Position zugunsten einer gestaltenden aufgegeben: Sie will selbst Politik und Gesellschaft gestalten, statt sie abzubilden. Der Wechsel diverser Journalisten in die Ministerien als Presse- und Regierungssprecher ist aktuell beispiellos. Das Scheitern der Demokratie und ihre Perversion zur Kakistokratie ist damit vor allem dem Scheitern des Journalismus im letzten wie im gegenwärtigen Jahrhundert anzulasten.

Der fehlenden Möglichkeit, einen mächtigen Politiker elegant loszuwerden; fehlende Mechanismen, die einen Politiker für seine Amtszeit zur Rechenschaft ziehen; die Entwicklung des Berufspolitikertums; das komplette Versagen der Presse als Kontrollinstanz; das alles hat dazu beigetragen, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in der Verwaltung und anderen bedeutsamen gesellschaftlichen Positionen Leute Fuß fassen konnten, die nie für solche Positionen geeignet gewesen wären. Tocqueville hat bereits vor anderthalb Jahrhunderten vorausgesagt, dass die Demokratie ohne freie und unabhängige Presse in die Tyrannei mündet.

Es ist daher ein Trugschluss, dass eine Rückkehr in ein vergangenes Jahrzehnt diese Probleme revidieren könnte – die Fehler des jetzigen Systems, das weder Monarchie, noch Republik, noch Demokratie ist, dafür aber alle schlechten Eigenschaften vereint, ohne die Gegenmittel bereitzustellen, bestünden immer noch. Eine Demokratie ohne Ostrakismos und eine Republik ohne Möglichkeit, die Politiker danach zu verklagen, ist historisch unvollständig. Die aufklärerische Idee, durch Presse und Bildung könnte das Staatswesen auf sanfte Art und Weise bewahrt werden, hat versagt.

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