Tichys Einblick
Eine rechtliche Einordnung der Corona-Politik

Verfassungsrechtler Murswiek: Generelle Versammlungsverbote grundgesetzwidrig

Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek kommt zu dem Schluss, dass der Lockdown des März nur in Teilen verfassungskonform war. Auch generelle Versammlungsverbote sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Bundesregierung entschied ohne nachvollziehbare Faktenlage und legte keine Kosten-Nutzen-Analyse vor.

imago Images/Christian Spicker

Der Corona-Lockdown des März und April war nur in Teilen verfassungskonform. Ein erneuter Lockdown wäre es überhaupt nicht. Auch generelle Versammlungsverbote sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Zu diesem Schluss kommt der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek. Die mit der Aufarbeitung der Corona-Krise beauftragte Enquete-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hatte ihn um eine verfassungsrechtliche Einordnung der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen gebeten. TE dokumentiert.

Das komplette Papier, in dem Murswiek seine Rechtsausführung ausführlich begründet, finden Sie hier.

Am 22. März beschlossen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die seitdem mit dem Schlagwort „Lockdown“ umschrieben werden. Geschäfte wurden geschlossen, Gottesdienste und Veranstaltungen aller Art durften nicht stattfinden, der Aufenthalt im öffentlichen Raum war nur alleine oder mit Mitgliedern des eigenen Haushalts möglich: und auch dann nur stark eingeschränkt.

Freiheit einem kollektiven Ziel untergeordnet

„Innerhalb weniger Wochen wurde aus einem Gemeinwesen, das auf seine Freiheitlichkeit stolz ist, ein Staat, der die individuelle Freiheit einem kollektiven Ziel in einem Maße unterordnete, das man in demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnungen sonst nicht kennt.“, beschreibt Murswiek diese Entwicklung und setzt damit einen Ausgangspunkt für seine Überlegungen.

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Diese Maßnahmen stellten einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Bürger da. Trotzdem waren sie nicht von vornherein verfassungswidrig. In Ausnahmesituationen sei es den Regierungen durchaus erlaubt, in alle Grundrechte außer der Garantie der Menschenwürde einzugreifen und diese einzuschränken. Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit solcher Eingriffe ist, wie Murswiek darlegt, die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in seinen drei Ausprägungen:
  1.  Die Maßnahme muss geeignet sein, ein bestimmtes – verfassungskonformes – Ziel zu erreichen Auch einem Ziel näher zu kommen, ohne es zu erreichen, reicht als Begründung schon aus.
  2.  Die Eingriffe müssen erforderlich sein. Das heißt, es darf keine anderen Maßnahmen geben, die die gleichen Erfolge bei weniger schweren Eingriffen in die Grundrechte erreichen.
  3. Die zur Corona-Bekämpfung eingesetzten Mittel dürfen die Freiheit nicht unverhältnismäßig einschränken. Die „Kosten“ der Grundrechtseinschränkungen – nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ideelle – müssen kleiner sein als der „Nutzen“ der Regelungen.

Murswiek unterstellt grundsätzlich, dass der Lockdown mit den Geschäftsschließungen und ähnlichen Eingriffen prinzipiell ein geeignetes Mittel ist, um die Ausbreitung einer hochansteckenden Krankheit zu hemmen. Das Ziel der Maßnahmen war nach den offiziellen Bekundungen der Bundesregierung und der Landesregierungen primär, eine Überlastung des deutschen Gesundheitssystems und die damit einhergehenden Todesopfer zu verhindern. In der damaligen Debatte ging es um „flatten the curve“ – das Abflachen der Kurve schwerer Erkrankungen, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Wandernde Ziele statt klarer Aussagen

Später wurde laut Murswiek die Minimierung der Zahl der schweren und tödlichen Krankheitsverläufe von manchen Politikern als selbständiges Ziel genannt, das also unabhängig davon angestrebt werde, ob die Intensivstationen überlastet sind.
Murswiek stellt zunächst fest:

„Der Schutz von Leben und Gesundheit gegen die Bedrohung durch Covid-19 ist zweifellos ein legitimes Gemeinwohlziel, das anzustreben prinzipiell Freiheitseinschränkungen rechtfertigen kann.“

Zum Anfang der Pandemie war noch wenig über den SARS-CoV-2-Virus bekannt. Im Anbetracht dessen war es auch legitim, dass die Entscheidungsträger der Politik auf der Basis großer Ungewissheit handelten. Um die Verfassungsmäßigkeit der Corona-Eingriffe zu bewerten, darf man also nicht fragen „Sind die Eingriffe im März und April mit den nun verfügbaren Informationen verfassungskonform?“, sondern „Waren die Eingriffe zu dem Zeitpunkt ihrer Verfügung mit den damals verfügbaren Informationen verfassungskonform?“

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Murswiek ist der Auffassung, dass der Lockdown auf der Basis des Erkenntnisstands am Tag der Entscheidung, am 22. März, von den Politikern als erforderlich angesehen werden konnte, sofern nicht schon damals hätte erkannt werden können, dass dieses Ziel auch mit weniger gravierenden Grundrechtseinschränkungen – insbesondere mit gezieltem Schutz der Risikogruppen, Hygienemaßnahmen und Nachverfolgung von Infektionsketten – hätte erreicht werden können.

Jedoch war nach Murswieks Einschätzung die Verfassungskonformität jedenfalls nicht mehr gegeben, als die Lockdown-Beschlüsse des 22. März am 15. April noch einmal verlängert wurden. Damals sei aufgrund der vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Zahlen klar erkennbar gewesen, dass die Epidemie ihren Höhenpunkt bereits Anfang März überschritten hatte und dass die Zahl der Infektionen und Erkrankungen schon zu Beginn des Lockdowns auf ein so geringes Ausmaß zurückgegangen war, dass eine Überlastung der Intensivstationen nicht mehr zu befürchten gewesen sei. Die Reproduktionszahl, die von der Bundesregierung als besonders wichtiger Indikator betrachtet worden war, war schon am 21. März unter 1,0 gesunken, so dass ein exponentielles Anwachsen der Neuinfektionen nicht mehr zu erwarten war.

Murswiek schließt sich der Argumentation von Stefan Homburg an, der darauf hingewiesen hatte, dass dieser Wert vor dem Lockdown erreicht worden und seither im wesentlichen stabil geblieben ist, und dass der Lockdown nicht zu einem weiteren Absinken geführt hat. Er folgert daraus, dass die scharfen Freiheitseinschränkungen, die man mit dem Lockdown ergriffen hatte, jedenfalls in diesem Umfang nicht mehr erforderlich waren, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Entscheidungsgrundlagen unzureichend erarbeitet

Außerdem kritisiert Murswiek, dass vor einer Verlängerung des Lockdowns nicht die Erkenntnisgrundlage durch repräsentative Tests verbreitert worden sei. Der Lockdown sei auf der Basis völlig unzulänglichen Zahlenmaterials beschlossen worden. Indem das Robert Koch-Institut die Zahl der „Corona-Toten“ in Relation zur Zahl der positiv getesteten Personen angebe, überzeichne es die Gefährlichkeit des Virus wohl mindestens um das Zehnfache. Nur durch repräsentative Tests, wie sie in Deutschland zu diesem nur in der Heinsberg-Studie durchgeführt worden waren, könne man herausfinden, wie viele Menschen tatsächlich infiziert worden seien und wie hoch die Infektionssterblichkeit (infection fatility rate) tatsächlich sei.

Das verfassungsrechtliche Prinzip der Erforderlichkeit verlange, dass bei einem Gefährlichkeitsverdacht zunächst Maßnahmen der Gefahrenaufklärung ergriffen werden müssen, bevor man weitreichende Freiheitseinschränkungen vornimmt – es sei denn, dafür sei angesichts der akuten Bedrohung keine Zeit mehr. Aber Mitte April habe es keine akute Bedrohungslage gegeben.

Außerdem zieht Murswiek die Verhältnismäßigkeit des Lockdowns im engeren Sinne – also das Überwiegen des Nutzens gegenüber den Nachteilen – in Zweifel. Was die Bewertung des Nutzens angeht, legt er dar, dass man nicht einfach einen theoretischen worst case mit hunderttausenden Toten zugrunde legen könne, den es mit Hilfe des Lockdown zu vermeiden gelte. Bei vorsorglichen Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen gehe es um Prognosen von Epidemieverläufen, also um Risikoabschätzungen. Ein Risiko habe in der Abwägung, die bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sei, umso geringeres Gewicht, je weniger wahrscheinlich der prognostizierte Schaden sei.

„Und wichtig ist vor allem, dass in der Abwägung nicht eine Vielzahl von potentiellen Corona-Toten gegen die ergriffenen Freiheitseinschränkungen steht, sondern diesen Freiheitseinschränkungen steht das Risiko gegenüber, dass es zu Corona-Toten käme, wenn die Maßnahmen nicht ergriffen würden. Genauer gesagt besteht der Gemeinwohlvorteil, der gegen die aus den Freiheitseinschränkungen resultierenden Nachteile abzuwägen ist, in der Minderung dieses Risikos. Der Umfang der Risikominderung müsste als Grundlage der Güterabwägung ermittelt – also möglichst genau abgeschätzt – werden.“

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Von Wahrscheinlichkeitsbewertungen sei aber bei der Begründung des Lockdowns keine Rede gewesen. Außerdem müsse man bei der Bewertung des Nutzens von Corona-Bekämpfungsmaßnahmen berücksichtigen, dass die sogenannten „Corona-Toten“ fast ganz überwiegend 80 Jahre und älter und multimorbid vorbelastet seien, so dass Covid-19 nur einen kleinen Kausalanteil zu ihrem Tod beitrage.

Ausführlich stellt Murswiek die schwerwiegenden Freiheitseinschränkungen und Folgeschäden dar, die der Lockdown verursacht hat, und meint, dass einiges dafür spreche, dass der Lockdown mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat und zumindest auf der Basis des Erkenntnisstandes vom 15. April verfassungswidrig war.

Fehlende Kosten-Nutzen-Analyse

Die Bundesregierung hat nach Ansicht Murswieks auch gegen Grundsätze der Verfassung verstoßen, indem sie es unterließ, den Lockdown während seiner Dauer mit einer fortlaufenden Kosten-Nutzen-Analyse zu begleiten. Unabhängig von den möglichen Ergebnissen: Wenn ein schwerwiegender Eingriff gegen die Grundrechte vorliegt, muss dieser Eingriff ständig auf seine fortbestehende Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Doch das Bundesinnenministerium tat eben dies nicht, wie die Corona-Papers des BMI belegen (TE berichtete).

Kritik übt Murswiek auch daran, dass die Bundeskanzlerin und die Länderregierungschefs ihre Lockdown-Beschlüsse nicht hinreichend begründet haben. Im Sinne der demokratischen Transparenz wäre es notwendig gewesen, detailliert darzulegen, auf welche Tatsachen und Prognosen man die Erforderlichkeit des Lockdown stützte und wie man die Abwägung mit den Freiheitseinschränkungen und den daraus resultierenden Folgewirkungen vornahm.

Für die Zukunft kommt Murswiek zu dem Schluss, dass ein erneuter Lockdown im Fall einer zweiten Infektionswelle nicht verfassungskonform wäre. Auch die Verfassungskonformität etlicher – teilweise noch bestehender – Einzelmaßnahmen stellt er in Frage, insbesondere das ursprünglich generelle Versammlungsverbot und die heutige Maskenpflicht.

Abschließend erarbeitet Murswiek 13 Schlussfolgerungen für künftige Maßnahmen:

  1.  Vorbereitung verhindert Eingriffe. Der Lockdown wurde auch deswegen als nötig erachtet, weil die Regierung es an Vorsorgemaßnahmen hat mangeln lassen.
  2.  Durch schnelles Handeln (Kontrolle, Testung, Quarantäne für Einreisende aus Risikogebieten) ließen sich schwerwiegende und teure Freiheitseinschränkungen vermeiden, auch etwas, was die Bundesregierung anfangs unterlassen hat mit der Bemerkung, das Virus kenne keine Grenzen.
  3. Lockdowns und andere schwerwiegende Freiheitseingriffe brauchen zwingend empirische Grundlagen. Dafür müssen Experten verschiedenster Disziplinen und Wissenschaftseinrichtungen, nicht nur des Robert Koch-Instituts, herangezogen werden.
  4.  Zur Entscheidung über Maßnahmen dürfen nicht nur Worst-Case-Szenarien herangezogen werden, sondern auch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Szenarien muss eingeschätzt und beachtet werden.
  5. Um eine Strategie für die Bekämpfung eines Virus zu entwickeln, bedarf es nicht nur der Expertise von Virologen, sondern auch Epidemiologen und Pathologen, die gerade zum Anfang der jetzigen Krise zu wenig Gehör fanden.
  6. Die Erfassung von Todesfällen und Ursachen muss verbessert werden. Es ist notwendig, die tatsächliche Todesursache zu ermitteln und gegebenenfalls den Kausalitätsanteil des Virus abzuschätzen.
  7. Es muss herausgefunden werden, welcher Teil der Bevölkerung bereits immun ist – dies ist besonders für die Einschätzung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen wichtig.
  8. Um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genüge zu tun, müssen zur Bewertung der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Vertreter des Kulturlebens in die Krisengremien mit einbezogen werden.
  9. Künftig muss von Anfang an eine systematische Erfassung und Gewichtung möglicher Kollateralschäden vorgenommen werden.
  10. Die Regierungen auf Bundes- und Länderebene müssen sich selbst verpflichten, Verhältnismäßigkeitsprüfungen ihrer Maßnahmen zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, dazu sind sie ohnehin schon verpflichtet.
  11. Einzelne Maßnahmen, die nicht verhältnismäßig waren, dürfen sich nicht wiederholen.
  12. Auch das Gesamtpaket aller einzelnen Maßnahmen muss verhältnismäßig sein und daraufhin geprüft werden. Ein Lockdown darf sich nur im aller äußersten Notfall wiederholen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind.
  13. Bevor es zu erneuten Einschränkungen der Bürger kommt, müssen zuallererst alle Möglichkeiten eingesetzt werden, um die Erkenntnisgrundlage über das Virus zu verbessern

Lesen Sie im Anschluss eine Abschrift des mündichen Statements Murswieks zur Präsentation seines Papiers gegenüber der Enquete-Kommission:

Dietrich Murswiek: „Statement zur Rechtmäßigkeit des Lockdowns“

„Der am 22. März beschlossene Lockdown des öffentlichen Lebens bewirkte flächendeckende, alle Menschen in Deutschland betreffende Freiheitseinschränkungen, die weitestreichenden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Diese Freiheitseinschränkungen waren dann verfassungsmäßig, wenn sie unbedingt erforderlich waren, um katastrophale Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie abzuwenden. Ziel des Lockdown war es, die Kurve der Neuinfektionen abzuflachen, um zu verhindern, dass es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommt. Niemand sollte an Covid-19 sterben müssen, weil die Kapazitäten der Intensivstationen nicht ausgereicht hätten.

Aber katastrophale Folgen mit Überlastung der Intensivstationen hätte es nach den heutigen Erkenntnissen auch ohne den Lockdown nicht gegeben. Die Reproduktionszahl war schon vor dem Lockdown im Sinken und lag zu Beginn des Lockdown knapp unter 1, wo sie danach ziemlich stabil geblieben ist.

Das konnten die Politiker aber noch nicht wissen, als sie am 22.3. über den Lockdown entschieden. Auf der Basis des damaligen Erkenntnisstandes wird man die Erforderlichkeit des Lockdown daher bejahen können, wenn es nicht andere, die Freiheit weniger einschränkende Mittel gab, mit denen man eine Überlastung des Gesundheitssystems hätte vermeiden können.

Ob dies der Fall ist, muss noch näher untersucht werden. Das zu tun, wäre eine lohnende Aufgabe der Enquete-Kommission. Denn es geht nicht nur darum, die Rechtmäßigkeit des Lockdown aufzuklären, sondern vor allem darum, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie bei einer neuen Welle der Epidemie ein Lockdown vermieden werden kann.

Es spricht vieles dafür, dass der Lockdown jedenfalls am 15. April nicht hätte verlängert werden dürfen. Zu diesem Zeitpunkt war klar erkennbar, dass es nicht zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen würde.

Die Verfassungsmäßigkeit des Lockdowns setzt außerdem voraus, dass er im engeren Sinne verhältnismäßig war. Das heißt, dass der mit ihm angestrebte Nutzen größer war als die von ihm bewirkten Nachteile. Gefordert ist eine Abwägung. Dies setzt voraus, dass der mit dem Lockdown angestrebte Nutzen und die durch ihn bewirkten Nachteile möglichst genau beschrieben und quantifiziert oder, sofern das nicht möglich ist, qualitativ bewertet werden. Die Abwägung darf nicht auf einer ganz abstrakten Ebene stattfinden nach dem Motto: „Im Kampf gegen Corona geht es um den Schutz des Lebens. Das ist das höchste Gut. Dahinter muss alles andere zurücktreten, und dafür ist jeder Freiheitseingriff gerechtfertigt.“ So kann man verfassungsrechtlich nicht argumentieren. Es kommt auf den konkreten Nutzen an, den der Lockdown bewirken soll und auf die konkreten Nachteile und Schäden, die er zur Folge hat.

Auf der Seite des Nutzens steht die Minderung des Risikos, dass Menschen an Covid-19 sterben müssen, weil sie wegen Überlastung der Intensivstationen keine optimale Behandlung erhalten. Die Beschreibung und Gewichtung des Nutzens wäre verfassungsrechtlich fehlerhaft, wenn man hier einfach auf die Gesamtzahl der ohne Lockdown prognostizierten „Corona-Toten“ abstellte. Denn der Lockdown kann nur einen Teil dieser Todesfälle verhindern, weil er das Risiko, an Covid-19 zu sterben, nicht beseitigt, sondern nur vermindert und zeitlich streckt.

Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die sogenannten „Corona-Toten“ zwar mit Corona, aber nicht oder nicht nur an Corona gestorben sind. In der Regel überwiegen andere Kausalfaktoren bei weitem. Die meisten „Corona-Toten“ sind über 80 und multimorbid. Wenn sie sich in einem Gesundheitszustand befanden, in dem auch eine gewöhnliche Grippe den Tod hätte auslösen können, ist der Kausalanteil des Virus sehr viel geringer, als wenn ein zuvor gesunder junger Mensch an Covid-19 stürbe. Für eine realistische Bewertung des Nutzens von Corona-Bekämpfungsmaßnahmen ist es unerlässlich, bei „Corona-Toten“ die Todesursachen zu untersuchen, zu dokumentieren und in der Statistik differenziert darzustellen.

Darüber hinaus darf bei der Beschreibung und Bewertung der Covid-19-Risiken die Wahrscheinlichkeitskomponente nicht ausgeblendet werden. Man darf nicht so argumentieren, als sei ohne den Lockdown die Überlastung des Gesundheitssystems mit einer daraus resultierenden Anzahl zusätzlicher Todesfälle mit Sicherheit zu erwarten, wenn nur eine gewisse, möglicherweise sehr geringe, Wahrscheinlichkeit für diese Prognose spricht.

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Auf der Seite der Nachteile des Lockdowns stehen die umfangreichsten Freiheitseinschränkungen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, sowie die größten ökonomischen Schäden, die je in Friedenszeiten in Deutschland durch eine politische Entscheidung verursacht worden sind.

Hinzu kommen vielfältige Kollateralschäden, die noch längst nicht systematisch erfasst und bewertet worden sind. Auch hier sehe ich eine lohnende Aufgabe für die Enquete-Kommission. Denn die Politik wird irrational und verfassungswidrig, wenn sie weitreichende Grundrechtseinschränkungen vornimmt, bei denen die Kollateralschäden größer sind als der Nutzen. Ermittelt werden müsste deshalb insbesondere, wie hoch die Zahl der Todesopfer ist, die der Lockdown verursacht hat. In Betracht kommen nicht nur Suizide, sondern vor allem die Folgen unterbliebener Operationen und anderer ärztlicher Behandlungen, die wegen Covid-19 verschoben wurden.

Als weitere Kollateralschäden seien nur beispielhaft genannt: die Zunahme häuslicher Gewalt an Frauen und Kindern, die Zunahme von Depressionen oder Angst-Psychosen.

Und noch eine Aufgabe, die ich der Enquete-Kommission empfehlen möchte: Die Maskenpflicht bedarf dringend einer Evaluierung. Der Nutzen ist umstritten. Er sollte dringend wissenschaftlich untersucht werden, damit eine sinnvolle Überprüfung der Maskenpflicht auf ihre Verhältnismäßigkeit möglich wird. Selbst wenn dabei herauskäme, dass die Masken nicht völlig ungeeignet sind, sondern dass sie die Verbreitung des Virus hemmen, stellt sich die Frage: Kann man dauerhaft über 80 Millionen völlig gesunde Menschen zum Tragen einer Maske verpflichten, damit ein paar Tausend Maskenträger – weniger als 0,05 Prozent –, die unerkannt mit Covid-19 infiziert sind, die Viren etwas weniger intensiv verbreiten als ohne Maske?

Für die Zukunft ist dringend zu empfehlen: Werden weitreichende Freiheitseinschränkungen auf schmaler Erkenntnisbasis getroffen, dann ist es ganz vordringlich, die Erkenntnisbasis schnell zu verbreitern. Im Falle der Covid-19-Epidemie fehlten repräsentative Tests, ohne die ein realistisches Bild von der Gefährlichkeit des Virus gar nicht gewonnen werden kann. Außerdem ist es wichtig, dass die Politik zur Gewinnung einer umfassenden Risikoabschätzungsgrundlage Wissenschaftler mit unterschiedlichen Standpunkten anhört, dass sie neben Virologen auch Epidemiologen und Pathologen zu Rate zieht und dass sie außerdem Experten heranzieht, die sie bei der Erfassung und Bewertung der unerwünschten Nebenfolgen und Kollateralschäden von Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen beraten.“

Das komplette Papier, in dem Murswiek seine Rechtsausführung ausführlich begründet finden Sie hier.

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