Tichys Einblick
Verdiente Retourkutsche

Polen kritisiert jetzt mangelnde Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts

Es gehört zum guten Ton der europäischen Politik, mangelnde Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts zu bemängeln. Jetzt dreht Polen den Spieß um - und das Bundesverfassungsgericht steht plötzlich mit seiner kaum getarnten Abhängigkeit von der Politik am Pranger.

IMAGO / Markus Heine
Seit Jahren steht die polnische Regierung wegen ihrer Justizreformen in der Kritik. Insbesondere Deutschland mokiert sich laut. Jetzt keilt Warschau zurück – und stellt die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Frage. Das System der Richternominierung sei in der Bundesrepublik komplett politisch, meint Justizminister Zbigniew Ziobro. „Da die EU auf der Gleichheit aller Staaten und Bürger beruht, muss die Situation in Deutschland überprüft werden.“ Gegen Deutschland solle ein Verfahren des EU-Gerichtshofes angestrengt werden, weil die Politisierung der Richter-Nominierung gegen EU-Verträge verstoße.

Der Schritt ist zweifelsohne primär eine Retourkutsche gegen Berlin, wo man seit Jahren an vorderster Front gegen die polnische Justizpolitik steht. Die umstrittenen Justizreformen der nationalkonservativen Regierung in Warschau beschäftigen EU-Gremien seit Jahren. Zuletzt hatte der EuGh geurteilt, eine 2018 eingerichtete Disziplinarkammer am obersten Gerichtshof sei nicht garantiert unabhängig und überparteilich. Die polnische Landesjustizkammer, welche die Ernennungen für die Disziplinarkammer vornehme, sei ein Organ, das „von der polnischen Exekutive und Legislative wesentlich umgebildet wurde“, an seiner Unabhängigkeit gebe es berechtigte Zweifel.

In Warschau argumentiert Ziobro nun exakt entlang dieser Logik. Der deutsche Richterwahlausschuss, welcher die Bundesrichter ins Amt wählt, besteht aus den Justizministern der Länder sowie 16 Bundestagsabgeordneten. Längst wird die Politisierung der Besetzung kritisiert. Auch das deutsche Verfahren der Richterwahl ist alles andere als politikfern, stellt der polnische Justizminister nun fest – und das durchaus zutreffend. Der Ausschuss sei sogar stärker politisiert als Polens Landesjustizrat – diesem gehören 17 Richter, sechs Parlamentsabgeordnete sowie zwei von der Regierung entsandte Mitglieder an.

Gemäß EU-Recht ist Polen als Einzelstaat berechtigt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein anderes Mitglied anzustrengen. Dies ist zwar unüblich, aber nicht unmöglich. Zunächst muss sich die EU-Kommission mit den Vorwürfen befassen – sollte diese grünes Licht geben, könnte der EuGh dem deutschen Richterwahlsystem am Ende ernsthafte Probleme attestieren. Das wird zwar nicht passieren; längst gibt es in der EU Gleiche und besonders Gleiche. Auch das Bundesverfassungsgericht ist zuletzt scharf in die Kritik geraten.

Bezeichnend der Umgang mit dem Klima-Urteil: Eine Reihe von NGOs hatten schärfere Klima-Regeln eingeklagt – und die Bundesregierung sich kaum dagegen verteidigt. Es ist eher das Protokoll eines grünen Ortsvereins als das abgewogene Urteil eines hohen Gerichts – und dazu passt, dass die mit der Formulierung des Urteils beauftrage Richterin Gabriele Britz ganze Passagen aus einem Pamphlet übernahm, das ihr Ehemann als Vorsitzender der Frankfurter Grünen vorformuliert hat. Unabhängigkeit sieht anders aus.

Auch das jüngste Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts dehnt das Recht: so würde das Recht der Bundesländer, in eigener Sache über Gebührenerhöhung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu entscheiden, einfach weggewischt: Künftig darf der Staatsrundfunk Gebührenerhöhungen selbst beantragen und sich damit weitgehend selbst bewilligen; ganz ohne Parlamentsbeschluss.

Während das der Regierung opportune Klima-Urteil trotz der Komplexität und gewaltiger Folgewirkung in Rekordzeit gefällt wurde, dauert es mit dem Urteil, wenn die Regierung in die Klemme geraten könnte.

Viele werfen Karlsruhe bewusste Untätigkeit während der Lockdownzeit vor, in der das Gericht hunderte Eilanträge auf die lange Bank schob und sich stattdessen zum vertraulichen Dinner mit der Kanzlerin traf.

Und bezeichnend für die kaum wirklich gegebene Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts:
Das Bundesverfassungsgericht hat daraufhin einen Befangenheitsantrag gegen seinen Präsidenten Stephan Harbarth abgelehnt. In dem Verfahren zur sogenannten Bundesnotbremse ging es um jenes Abendessen im Bundeskanzleramt. Das Bundesverfassungsgericht begründete die Entscheidung zu Harbarth und einer weiteren Verfassungsrichterin am Montag in Karlsruhe damit, dass Treffen mit der Bundesregierung kein Grund für den Vorwurf der Befangenheit seien. Dies hatten mehrere Kläger anders gesehen – aber das Gericht „in eigener Sache“ einfach abgeschmettert.

Auch das Ernennungsverfahren am Bundesverfassungsgericht sieht sich dem Vorwurf der Politisierung ausgesetzt – nicht zuletzt, weil mit Stephan Harbarth ein langjähriger Führungspolitiker der Regierungsfraktion erst Richter und innerhalb kürzester Zeit sogar Gerichtspräsident wurde.

Ein negatives EuGh-Urteil zum Bundesverfassungsgericht könnte Wellen schlagen – und diese könnten in Karlsruhe brechen. Aber die Gefahr ist gering. Denn nicht die wirklichen Skandale und Schwächen der deutschen Gerichtsbarkeit werden verfolgt, sondern weit geringere in Polen. Recht ist in der EU zunehmend eine reine Machtfrage und folgt politischen Opportunitäten.

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