Tichys Einblick
Musste sie 364 Tage daran arbeiten?

Merkel mimt Empathie-Kompetenz

Das Versagen von mindestens drei „Gewalten“ - der Exekutive, der Legislative und der Presse - ist das eine. Das an Zynismus grenzende Fehlen innerer Anteilnahme der deutschen Regierungschefin ist das andere.

© Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Mit den zwölf am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz Ermordeten sind wohl die Falschen zu Tode gekommen. Sie passten, weil der Mörder, getarnt als „Asylbewerber“, ein islamistischer Terrorist war, nicht ins Konzept der „Willkommenskultur“. Opfer zweiter Klasse eben! Wären es Opfer der ersten Klasse gewesen, hätte es längst Staatsakte und Lichterketten durch das Brandenburger Tor gegeben. In diesem Fall des zwölffachen Mordes aber ist Deutschland wieder mal unfähig zu trauern. Regierungsamtlich verordnet!

Dass all dies geschehen konnte, hat mit einem Versagen des Staates auf allen Ebenen zu tun. Abgründe taten und tun sich auf. Diese werden nach dem Terrorakt nur häppchenweise offengelegt. Organisierte Nichtverantwortung ist da im Spiel. Die politische Verantwortung übernimmt wieder niemand. Es gibt keinen Rücktritt eines Ministers oder eines Regierungschefs respektive einer Regierungschefin. Man wagt es nicht, in Kategorien des Verursacherprinzips zu denken. „Man“ – damit sind die Politik gemeint und die „vierte“ Gewalt im Staate, die Presse, die es unterlässt, einen Zusammenhang herzustellen mit der „Willkommenskultur“ und dem fordernd-schnoddrigen Spruch so mancher „Schutzsuchender“: „Frau Merkel hat uns eingeladen.“

Dokumentation Offener Brief
Berliner Terroropfer-Familien von Frau Merkel allein gelassen
Das Versagen von mindestens drei „Gewalten“ – der Exekutive, der Legislative und der Presse – ist das eine. Das an Zynismus grenzende Fehlen innerer Anteilnahme der deutschen Regierungschefin ist das andere. Man stelle sich noch einmal vor: Da kommen mitten in Berlin, gerade eben drei Kilometer vom Kanzleramt entfernt, zwölf Menschen bei einem islamistisch motivierten Terrorakt ums Leben. Da bitten Hinterbliebene und schwer verletzt Überlebende im Frühjahr 2017 vergeblich um einen Gesprächstermin bei der Kanzlerin. Da schreiben diese oft bis an ihr Lebensende körperlich und seelisch Traumatisierten Mitte November 2017 einen offenen Brief an die Kanzlerin. Und dann erst, 364 Tage nach dem Attentat bequemt sich die Regierungschefin zu einem Treffen mit diesen Bürgern. Gigantisch!

Aber sofort läuft die Propagandamaschinerie auf Hochtouren. Regierungssprecher Steffen Seibert lässt wissen: Die Bundesregierung habe den offenen Brief der Angehörigen sehr genau gelesen. Daraus sei klar, dass „es vielen Betroffenen sehr dringlich ist, Vorschläge, aber auch Kritisches zu äußern über das, was ihnen in diesem Jahr begegnet ist“. Die Kanzlerin wolle zuhören. Ach ja, und der geschäftsführende Bundesjustizminister Heiko Maas betonte, dass der Staat Opfer und deren Angehörige nicht alleine lassen dürfe. Die Herkunft der Opfer dürfe dabei nicht relevant sein, unterstrich Maas laut Presseerklärung des Regierungssprechers. Er meinte wohl auch: Auch die Herkunft des Massenmörders dürfe nicht relevant sein.

Die Öffentlich-Rechtlichen (ÖR) machen die Propaganda bereitwillig mit. Platziert oft noch vor der wahrscheinlich manchen ÖR-Leuten als ekelig empfundenen Meldung über den Amtsantritt der neuen österreichischen Regierung, wird brav vermeldet, dass sich die Kanzlerin drei statt der geplanten zwei Stunden Zeit genommen habe für die an elf Tischen sitzenden 80 Betroffenen.

Politik- und Medienversagen
Terror-Opfer-Verachtung
Merkt eigentlich niemand, wie peinlich das alles ist? Und wie verräterisch Nur wenige in der Presselandschaft wissen das zu deuten. Regine Mönch zum Beispiel in der FAZ vom 18. Dezember 2017: Sie schreibt von einer „unfassbaren Gefühllosigkeiten nach dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz vor einem Jahr.“ Sie weist zu Recht darauf hin, dass Berlins Regierender Bürgermeister fast zwei Monate braucht, um endlich Kondolenzschreiben und Briefe an die Verletzten zu schicken. Es sei nämlich schwierig gewesen, hieß es im Roten Rathaus, die Adressaten zu ermitteln. Nun, immerhin, Müller hat es in zwei Monaten geschafft. Anders das Kanzleramt. Eine „empathiefreie Verunmöglichung, Trauer, Erschütterung und Mitgefühl zu bekunden“, nennt Regine Mönch dies. Und sie befürchtet, dass mit dem 19. Dezember 2017 das Trauerjahr abgehakt werden solle.

In der „Rheinische Post“ vom 18. Dezember 2017 schreibt Gregor Mayntz zwar von „Merkels Empathie-Versagen“. Er kritisiert auch: „Teilnahme an einer Trauerfeier? Abgehakt. Kontaktaufnahme mit den Angehörigen? Sache der örtlichen Behörden. Staatliches Bekunden von Mitgefühl? Macht der Bundespräsident. Fertig.“ Aber sofort bricht Mayntz wieder eine Lanze für Merkel: „Es besteht die Hoffnung, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Ansage des Bundestages und nach ihrem eigenen Versprechen dann auch zügig an die Verbesserungen herangeht. Wenigstens gehört die Effizienz zu ihren Stärken.“

Keine Zeit für Opfer
Nach öffentlichem Druck: Kanzlerin trifft Angehörige der Opfer vom Breitscheidplatz
Übrigens hatte der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in einem Beitrag in der „Welt“ bereits am 8. Januar 2017 geahnt, wie es kommen werde. Er schrieb damals, drei Wochen nach dem Mordanschlag: „Und das politische Berlin? Es glaubte, es sei mit einigen Worten und fünf weißen Rosen getan. Die Bundeskanzlerin, ihr Außen- und der Innenminister, der Regierende Bürgermeister und sein Innensenator legten sie an der Gedächtniskirche ab. Was für ein asketisches Symbol, wenn man an den Marsch der Hunderttausenden in Paris denkt!“

Oder wenn man daran denkt, wie das italienische Mordopfer Fabrizia di Lorenzo in Sulmona in den Abruzzen im Beisein von Staatspräsident Sergio Mattarella zu Grabe getragen wurde. Oder wenn man sich erinnert, dass zum Trauergottesdienst für den erschossenen polnischen Lastwagenfahrer in Banie bei Stettin Staatspräsident Andrzej Duda kam.