Tichys Einblick
Gläserner Bürger

Lügt die EU-Innenkomissarin bei der anlasslosen Chatkontrolle?

Ein EU-Abgeordneter der Piratenpartei wirft EU-Kommissarin Ylva Johansson vor, die Öffentlichkeit über die Gefahren der geplanten Chatkontrolle anzuschwindeln. Die AfD warnt indes, das unter "dem Deckmantel des Kinderschutzes" eine "Massenüberwachung" geplant werde.

IMAGO / CTK Photo

„Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ – so lautete der offizielle Tagesordnungspunkt im Bundestag am Donnerstag. Weder bei diesem Titel, noch bei der Kurzbeschreibung auf der Bundestagsseite wird klar, um was es wirklich geht. Erst der weiterführende Artikel erklärt: in Wirklichkeit geht es um die von der Europäischen Union anberaumte Chatkontrolle. Unter diesen Themenbereich fallen auch Netzsperren, Upload-Filter oder Altersverifizierungen für Messenger. Der Antrag kam von der Linksfraktion.

Zur Erinnerung: die „Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ sieht eine anlasslose Kontrolle von Chatnachrichten vor. Ein Vorstoß, den auf Bundesebene Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erst kürzlich gewagt hat. Das „Client-Side-Scanning“, so schrieb Netzpolitik.org, würde dazu führen, dass „E-Mails, Messenger-Dienste und weitere Kommunikationsplattformen anlasslos und massenhaft überwacht“ würden.

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Als Faeser das Thema lancierte, gab es deutlichen Widerstand – auch in der Ampel. Denn das Koalitionspapier hat eine solche anlasslose Chatkontrolle eigentlich ausgeschlossen. Justiz- und Digitalministerium wehrten sich dagegen, die Grünen kritisierten den Vorstoß, auch SPD-Parteigenossin Anna Kassautzki warnte vor „Inakzeptablen Grundrechtseinschränkungen“. Doch bereits damals gab TE zu bedenken, dass der Protest hierzulande nur eine Farce sein könnte.

Der Antrag der Linksfraktion, der Bundestag und Bundesregierung dazu animieren sollte, sich auf EU-Ebene gegen die anlasslose Chatkontrolle zu stellen, scheiterte. CDU-Mann Christoph de Vries stellte sich, obwohl in der Opposition, sogar hinter die Chatkontrollen, während die Ampel-Parteien darauf verwiesen, auf den Entwurf noch einwirken zu wollen, statt ihn völlig abzulehnen. Die AfD lehnte dagegen den Antrag nur ab, weil er ihr nicht zu weit ging.

Im Parlament offenbarte sich damit, dass die Ampel-Koalition zwar behauptet, gegen die Chatkontrollen zu sein, in Wirklichkeit aber wohl versucht, die Debatte auszusitzen, bis die Verordnung aus Brüssel auf dem Berliner Schreibtisch liegt – und dann mit Verweis auf EU-Richtlinien durchgewunken wird. Die SPD-Abgeordnete Carmen Wegge stellte sich sogar auf den Standpunkt, dass es für eine Abstimmung über die Chatkontrolle 55 Prozent der Mitgliedsstaaten brauchte, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung auf sich vereine. Da reiche keine „Nein“ Deutschlands aus. Dass jedoch ein „Nein“ Deutschlands richtungsweisend sein könnte, um auch andere Mitglieder davon zu überzeugen, ihren Protest deutlicher zu artikulieren – das sparte die Bundestagsabgeordnete wohlwissend aus.

Dass ihre Parteikollegin und Innenministerin Faeser eine Befürworterin ist und bei den Innenministerkonferenzen der EU-Staaten mit Sicherheit kein schlechtes Wort in Sachen Chatkontrolle einlegen wird, ist ein weiterer Elefant im Raum, den Ampel-Koalition und Ampel-Parteien auszusparen versuchen. Den Koalitionsvertrag will man nicht brechen, aber: leider, leider, die Weisung aus Brüssel! Dass nicht eine anonyme EU-Bürokratie, sondern die eigenen Kollegen in Brüssel an diesem Papier mitgewirkt haben, und so über Bande gewünschte Gesetze bereitstellen, die man in Deutschland nicht so einfach durchbekäme, gehört zu den altbewährten Kniffen von Partei-, Bundes- und EU-Politik.

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Im EU-Parlament sind es zwar vor allem die beiden Flügel außerhalb der üblichen Regierungskoalitionen, die das Vorhaben kritisch sehen. Auffällig ist aber auch die Position der Liberalen (ALDE) im EU-Parlament, deren historische Aufgabe eigentlich die Bewahrung von Grundrechten sein müsste. Es existiert eine Resolution der ALDE gegen die Chatkontrolle. Aus Deutschland hat sich der Abgeordnete Moritz Körner, der für die FDP im EU-Parlament sitzt, besonders vehement gegen die Vorlage gewehert. Doch aus Paris, wo die ALDE mit Emmanuel Macron immerhin den Staatspräsidenten stellt, ist bisher kein eindeutiges Signal gekommen, um diesen Eingriff in die Grundrechte zu blockieren.

Auf der linken Seite des politischen Spektrums fiel jüngst die Piratenpartei mit einem Video auf, indem sie Äußerungen der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson (S&D) als Lügen bezeichnete. Sie stellte den Aussagen Johanssons Inhalte des anberaumten Gesetzes gegenüber. So warnte Johansson davor, dass man ohne neues Gesetz ab Sommer 2024 „blind“ sei; alle Möglichkeiten, sexuellen Kindesmissbrauch aufzudecken, würden verboten sein. Obwohl die anlasslose Chatkontrolle definitiv eine Neuheit ist, behauptete Johansson, dass Ermittlern „keine neuen Türen“ geöffnet würden.

Außerdem behauptete Johansson, dass erst nach einem Gerichtsbeschluss eine Untersuchung durchgeführt werden könne. Dem hielt der Abgeordnete Patrick Breyer entgegen, dass jede unabhängige Behörde die Anordnung geben könne. Auch für die Behauptung Johanssons, dass ohne die Chatkontrolle den Strafverfolgungsbehörden 80 Prozent aller Hinweise fehlen würde, gebe es laut Breyer keinerlei Belege.

Die AfD hatte schon im Bundestag ihren Widerstand angekündigt. Barbara Lenk, die digitalpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, betonte, dass Kindesmissbrauch ein furchtbares Verbrechen sei. „Aber schon heute ist es auf richterliche Anordnung möglich, Speichermedien und Kommunikationsverläufe Verdächtiger zu beschlagnahmen und auszuwerten“, so Lenk. Dies Verfahren finde auch die Unterstützung der AfD. „Das anlasslose Scannen von Telefonen und Rechnern ohne das Wissen unbescholtener Bürger“ käme dagegen „einer digitalen Hausdurchsuchung gleich, ohne Anfangsverdacht und ohne richterlichen Beschluss. Die geplante EU-Verordnung könnte eine Blaupause für eine digitale Ausforschung der Bevölkerung auf Vorrat sein“.

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Die ID Group im EU-Parlament, der die AfD angehört, äußerte sich ähnlich. „Menschen durch die Chatkontrolle dem Generalverdacht auszusetzen, kommt einer Sprengung des digitalen Briefgeheimnisses gleich und ist mit den Grundsätzen einer freiheitlichen Gesellschaft unvereinbar“, erklärte Nicolaus Fest, Leiter der AFD-Delegation im EU-Parlament und Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten. „Kinderpornographie muss durch Prävention, gezielte Strafverfolgung, Entbagatellisierung der Frühsexualisierung und härtere Strafen bekämpft werden, nicht durch einen Überwachungsstaat.“ Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Kinderpornographie solle eine Massenüberwachung eingeführt werden. Auch Fest betonte, dass diese am eigentlich Ziel vorbeischieße, denn Täter nutzten für ihre Straftaten das Darknet.

Es bleibt die Feststellung, das die Warnung vor dem „gläsernen Bürger“ ansonsten in der Mottenkiste des beginnenden 20. Jahrhunderts verschwunden ist. Apps, mit denen EU-Bürger mittlerweile freiwillig ihren Standort verraten, sind für viele Alltag. Das alte Schäuble-Wort, dass niemand, der etwas zu verheimlichen habe, etwas befürchten müsse, ist salonfähig geworden. Und wer gegen die Chatkontrolle ist, stellt sich gegen Kinderschutz.

Dagegen erscheinen die Zeiten, als man sich nach den Anschlägen vom 11. September auf schärfere Flughafenkontrollen einstellen musste, fast amüsant. Geblieben ist der Wille des Staates, seine Bürger vollumfänglich auszuspionieren.

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