Tichys Einblick
Coronavirus

Was wir von der Spanischen Grippe lernen können

Die Pandemie von 1918 zeigt: einschneidende Maßnahmen halfen – aber nur dann, wenn sie schnell kamen. Deutschland hat viel Zeit verloren. Noch längeres Warten wird viele Leben kosten

imago images / United Archives International

Im Oktober 1918 entschied der Gesundheitsbeauftragte von St. Louis Max Starkloff, sich bei den Bürgern seiner Stadt gründlich unbeliebt zu machen. Seit September beobachtete der Beamte, wie sich die Spanische Grippe in den Vereinigten Staaten westwärts verbreitete. Schon im September ließ er sich alle Infektionsfälle der Stadt melden und untersagte größere Veranstaltungen. Am 8. Oktober 1918 setzte er die Schließung aller Theater, Kinos, Schwimmbäder und Bars in der Stadt durch, später dehnte er die Maßnahmen auch auf Kirchen und nicht lebensnotwendige Geschäfte aus. Das gesellschaftliche Leben von St. Louis stand still, gegen den Willen vieler Geschäftsbetreiber, die Starkloffs Entscheidung für viel zu rigide hielten. Als die Spanische Grippe endlich nach einer zweiten Welle abebbte, zählte Starkloff zu den bekanntesten Gesundheitsexperten des Landes. Dadurch, dass er St. Louis vorübergehend zur Geisterstadt machte und die sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränkte, hielt er dort die Todeszahlen niedriger als in den meisten anderen großen Städten. Starkloffs Kollege in Philadelphia, Wilmer Krusen, schlug den entgegengesetzten Weg ein. Trotz der Spanischen Grippe erlaubte er am 28. September 1918 die „Liberty Loan Parade“ mit mehr als 200000 Menschen. Sie ließ die Fallzahlen explodieren. Allein in den 72 Stunden nach der Parade starben 2600 Menschen. Am Ende der Epidemie lag die Todesrate von Philadelphia doppelt so hoch wie die von St. Louis.

Die Spanische Grippe tötete in den USA etwa 675.000 Menschen, weltweit nach Schätzungen 30 bis 50 Millionen. Verglichen mit Corona verlief die Spanische Grippe ungleich tödlicher. Beide Massenerkrankungen ähneln einander allerdings in ihrer Ansteckungsgeschwindigkeit. Starkloffs Methode des stomp out – der Methode, die Epidemie wie ein aufflackerndes Feuer frühzeitig radikal auszutreten, und dafür eine radikale Einschränkung von Wirtschaft und Sozialleben in Kauf zu nehmen – gilt bis heute als effizientester Weg, um eine Explosion der Fälle zu verhindern.
Die erste Gelegenheit zum Austreten des Coronafeuers verpassten die deutschen Behörden Ende Februar. Vom 27. Januar bis zum 29. Februar 2020 verlief die Infektionskurve in Deutschland sehr flach: in dieser Zeit hatten sich nur 106 Menschen angesteckt. Am Beginn der Kette stand ein 33jähriger bayerischer Mitarbeiter des Automobil-Zulieferers Webasto. Erst ab dem 29. Februar bewegte sich die Kurve extrem steil nach oben – durch die Karnevalsfeiern in Nordrhein-Westfalen.

Für Corona in Deutschland wirkten die Massenveranstaltungen im Rheinland als großer Brandbeschleuniger – ganz ähnlich wie die Parade im September 1918 in Philadelphia für die Spanische Grippe in der Stadt. Am 10. März lag die Zahl der Infizierten deutschlandweit schon bei 1.457. Eine Absage des Karnevals in NRW hätte die Ausbreitung von Covid-19 zumindest stark gebremst.

Aber auch danach, als die pandemische Kurve sich schon aufbaute, passierte in Deutschland eineinhalb Wochen lang praktisch wenig bis nichts. Die Schweiz untersagte schon ab 28. Februar Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Menschen, viele Kantone nahmen schon für Veranstaltungen ab 150 Teilnehmern Risikoeinschätzungen vor, ließen sie also nur bedingt zu. Wenige Tage später, am 3. Februar, bezeichnete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Absage von Großveranstaltungen ausdrücklich als unverhältnismäßig.

Italien drosselte in diesen knapp zwei Wochen praktisch das gesamte öffentliche Leben erst in Nord- und dann in ganz Italien. Österreich wiederum sperrte seine Grenze für Reisende aus Italien – ausgenommen diejenigen, die ein Attest vorzeigen können. Am 11. März verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz zusammen mit seinem Gesundheitsminister ein Verbot für Veranstaltungen von mehr als 500 Personen in geschlossenen Räumen und mehr als 1.000 unter freiem Himmel, außerdem eine Schließung der Schulen und Hochschulen. Tschechien schloss seine Grenzen für Reisende aus 15 Risikoländern, darunter Deutschland. Belgiens Behörden verfügten die Schließung aller Cafés und Restaurants. Ähnliche Einschränkungen verfügten die Regierungen von Polen und Dänemark.

In Deutschland meldete sich nach langem Schweigen am 11. März Kanzlerin Angela Merkel zusammen mit dem schon vorher aktiven Gesundheitsminister Jens Spahn zu Wort. Allerdings legten sie im Gegensatz zu ihren Kollegen in den anderen Ländern keinen konkreten Maßnahmenkatalog vor. Spahn gab lediglich die Empfehlung, aus Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern zu verzichten. Das Robert-Koch-Institut riet auf seiner Website zunächst nur für den „Einzelfall“, Massenveranstaltungen abzusagen:

„Massenveranstaltungen können dazu beitragen, das Virus schneller zu verbreiten. Daher kann je nach Einzelfall das Absagen, Verschieben oder die Umorganisation von Massenveranstaltungen gerechtfertigt sein.“

Bis Donnerstagabend blieben in Deutschland trotz der stark ansteigenden Fallzahlen Schulen, Kinos, Einkaufszentren und die Grenzen geöffnet. Am Freitagmorgen entschied zumindest Bayern, Schulen und Kindertagesstätten zu schließen, und ein Besuchsverbot für Altenheime zu verhängen.

Gegen Einreisesperren für Personen aus stark betroffenen Ländern wehrt sich Merkel bis heute.

Fachleute wie Alexander Kekulé, die wissen, dass eine Dynamik nur im Anfangsstadium noch gekappt werden kann, halten das lange Zuwarten der Bundes- und Landesregierungen für unbegreiflich. Warten worauf? Deutschland liegt im globalen Infektionsranking mittlerweile auf Platz sechs, die Zahl der Infizierten wird schon in wenigen Tagen 10.000 erreichen – und übersteigen.

In ihrer Pressekonferenz nach der Beratung mit den Ministerpräsidenten am Donnerstag sagte Angela Merkel den eigenartigen Satz: „Wir hatten in Deutschland Gelegenheit, in einer frühen Phase die Dynamik zu beobachten“. Und: „Sukzessive müssen wir sehen, dass die Entwicklung vor keiner Region halt macht.“ Sie scheint auf ihre alten Methoden zu setzen, abzuwarten, zu beobachten, die Stimmung zu testen und Maßnahmen nur häppchenweise in Gang zu setzen.

Das historische Beispiel von St. Louis zeigt allerdings, dass es gerade der falsche Weg ist, die Entwicklung nur zu beobachten und erst dann von Region zu Region einzugreifen, wenn die Fallzahlen noch weiter nach oben gehen, sondern, dass es nur frühzeitig die Sozialkontakte auf ein Minimum zu reduzieren, besser heute als morgen, gerade dann, wenn es noch wenige Fälle gibt. Dass es sich bei der Covid-19-Pandemie um eine „unbekannte Herausforderung für uns“ handelt, wie Merkel meint, stimmt für etliche offene Fragen: wann kommt ein Impfstoff, wird das Virus mutieren, kommen mehrere Wellen? Aber es stimmt nicht für die Ausbreitungsdynamik. Dafür bietet die Pandemie der Spanischen Grippe genügend Anschauung.

Am Donnerstag sagte der Virologe Christian Drosten, einer der führenden Fachleute auf seinem Gebiet, im Podcast des NDR, er sei bis vor kurzem skeptisch gewesen, was Schulschließungen angehe. Ihn hätten aber Studien und Statistiken über die Ausbreitung der Spanischen Grippe in den USA umgestimmt, die ihm eine amerikanische Kollegin geschickt habe. Danach hatte in den amerikanischen Städten die Pandemie einen deutlich weniger schlimmen Verlauf genommen, in denen frühzeitig öffentliche Veranstaltungen abgesagt und Schulen geschlossen wurden, am besten gleichzeitig. Jetzt, so Drosten, befürwortet er die Schließung von Schulen zumindest für ältere Jahrgänge, also für Schüler, zu deren Betreuung nicht unbedingt ein Elternteil zuhause bleiben muss. Für ihn sei nur wichtig, dass für Beschäftigte im Gesundheitswesen mit kleinen Kindern – Ärztinnen, Krankenschwestern – eine Alternative geschaffen wird. „Diese Maßnahmen“, meint Drosten, „haben nur Sinn, wenn sie jetzt schnell kommen.“ Da in Deutschland schon viel Zeit verstrichen ist, hieße das: praktisch sofort.

Wie stark die Zahl der Erkrankten und der Todesopfer von frühzeitigen Maßnahmen abhängen, zeigt das Beispiel Italien, wo die Schließungen und Abriegelungen rigoros kamen, aber sehr spät. Mittlerweile entfallen mehr als 20 Prozent der weltweiten Corona-Todesopfer auf das relativ kleine Land, verglichen mit dem Bevölkerungsriesen wie China und Ländern wie Südkorea und Taiwan. Wahrscheinlich hatte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz diese Entwicklung um Blick, als er meinte: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass Europa hart getroffen wird, dass Europa sogar härter getroffen wird als China.“

In der öffentlichen Diskussion verweisen etliche darauf – etwa der Unterhaltungskünstler Richard David Precht – dass die Mortalität der Corona-Infektionen gering sei, andere betonen, ernsthafte Erkrankungen und Todesfälle beträfen doch ganz überwiegend die Jahrgänge ab 65. Bei den meisten Infizierten verlaufe die Erkrankung wie eine gewöhnliche Grippe.

Wer so argumentiert, macht einen Denkfehler. Auch wenn nur ein Teil der Infizierten überhaupt Symptome entwickelt, wenn von den Behandlungsbedürftigen nur wieder ein Teil schwer erkrankt und von denen wiederum vor allem Ältere und Geschwächte sterben – es ist die reine Zahl, die das Gesundheitssystem schnell zum Kollaps bringen kann. In der Lombardei etwa war schnell jedes Intensivbett belegt. Ärzte mussten entscheiden, wer weiter beatmet werden sollte, und wer nicht. Auch in Wuhan raste die Zahl der Toten vor allem deshalb in die Höhe, weil Ende 2019 so viele Einwohner so schnell erkrankten, dass es für viele schlicht keine Krankenhausbetten gab. Werden die Ressourcen der Notfallmedizin knapp, dann trifft das nicht nur Covid-19-Patienten, sondern alle, die intensivmedizinische Hilfe brauchen. Deshalb kommt es so sehr darauf an, die Infektionskurve nicht nur abzuflachen, sondern auch zeitlich zu strecken: je mehr Patienten gleichzeitig Hilfe brauchen, desto wahrscheinlicher eine Systemüberlastung.

Wie schnell sich das Virus in Großstädten bei unverändertem Sozialleben ausbreitet, zeigt das Beispiel von zwei Clubs in Berlin. In der Bar „The Reed“ steckten sich, wahrscheinlich an einem einzigen Abend Ende Februar, neun Personen an, in dem Club „Trompete“ 17. Da bis zu den ersten Symptomen 14 Tage vergehen können, blieb jedem Infizierten wiederum reichlich Zeit, um andere zu infizieren.

In China genießt der Epidemologe Zhong Nanshan, 83, großes Ansehen, zum einen wegen seiner Erfahrungen bei der Sars-Bekämpfung, aber auch, weil er sich sehr offen äußert, nicht immer zum Gefallen der Regierung. Wegen der Corona-Krise kehrte er aus dem Ruhestand zurück. In China, so seine Prognose, könnte im April das Schlimmste vorbei sein, in anderen Ländern im Juni. Schon jetzt liegt die Zahl der wieder Genesenen in der am stärksten betroffenen Provinz Hubei nach den Zahlen des John Hopkins Coronavirus Ressource Center bei über 50 000. In China insgesamt konnten über 60 000 Patienten inzwischen wieder aus den Krankenhäusern entlassen werden. Auch in Taiwan und Südkorea flachen sich die Infektionskurven durch die Quarantänemaßnahmen bereits deutlich ab.

Zhong Nanshan empfiehlt deshalb den Ländern außerhalb Chinas alle Maßnahmen, die Sozialkontakte drastisch zu reduzieren.

Es ist die gleiche Lehre wie die der Spanischen Grippe von 1918.

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