Tichys Einblick
Noch keine Klarheit

Coronavirus in Europa angekommen

COVID-19 ist also draußen. Problematisch ist die lange Inkubationszeit. Bis zu vier Wochen soll es nach bisherigen Erkenntnissen in Organismen schlummern können, ohne das die Krankheit ausbricht. In dieser Zeit jedoch kann es andere anstecken.

MIGUEL MEDINA/AFP via Getty Images
Jetzt ist das Coronavirus auch in Europa angekommen. Aus Italien wurde der siebte Todesfall bestätigt, darunter in Padua ein 78-jähriger Mann, bei Mailand eine 77-jährige Frau. 226 bestätigte Erkrankte wurden heute Mittag gemeldet. Die Zahlen steigen stündlich an. In Venedig wurde sogar der Jahrhunderte alte Karneval abgesagt, in Mailand die wichtige Modenschau, und im Norden sind ganze Ortschaften des Landes abgeriegelt.

Im Norden Italiens sind verschiedene Gemeinden zu Sperrzonen erklärt worden. Dort sitzt auch die Industrie mit vielen Verbindungen nach China. Schulen, Museen und Universitäten bleiben geschlossen.

Am Sonntagabend wurden Züge aus Italien nach Österreich am Brenner angehalten, der Zugverkehr über den Brenner mehrere Stunden lang lahmgelegt. Doch zwei Erkrankte erwiesen sich als nicht Corona Covid-19 infiziert, Gottseidank Fehlalarm.

Dramatisch bleibt die Lage weiterhin in China. Um die 80.000 Erkrankte wurden am Montag gemeldet – ebenfalls mit steigender Tendenz. 2.620 Menschen seien bis Montag an den Folgen gestorben.

Auffallend: Die Kurve der Erkrankungen flacht allerdings deutlich ab, wie die Website der globalen Erkrankungen, erstellt vom Center for Systems Science and Engineering der John Hopkins Universität, zeigt. Das gibt möglicherweise einen Hinweis darauf, dass der Höhepunkt der Epidemie in China erreicht sein könnte.

Ab sofort dürfen in China keine Wildtiere mehr gehandelt und verzehrt werden. Der ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses hat diesen Vorschlag angenommen, wie das chinesische Staatsfernsehen berichtete. Es tauchen Bilder von Hunden und Katzen auf, die tot auf den Straßen liegen. Tierbesitzer sollen sie aus den Fenstern geworfen haben, nachdem Behauptungen die Runde machten, das Coronavirus könne auch über Tiere übertragen werden.

Auch in Südkorea, Japan und Taiwan breitet sich die Erkrankung aus. In Südkorea wurden 600 Infizierte gemeldet – allerdings erst, nachdem rund 25.000 Menschen getestet wurden.

Israel verweigerte einer Touristengruppe aus Südkorea die Einreise in das Land.
Offenbar besonders gut haben die Behörden in Singapur die Zeit genutzt. Soldaten bereiteten in Turnhallen rund 5,5 Millionen Pakete mit Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln vor. Enthalten sind ebenso kurze Anweisungen, wie man sich am besten verhalten solle.

Aus Deutschland hört man von vorbereitenden Aktionen auf eine Epidemie nichts von den zuständigen Behörden. Denn eine solche ist durchaus möglich; sehr unwahrscheinlich erscheint, dass hierzulande niemand vom Coronavirus Covid-19 befallen sein sollte. Die Rosenmontagszüge im Rheinland finden statt – munter vom Fernsehen übertragen.

Die EU demonstriert Aktionismus und verpulvert ohne genauere Konzepte 232 Millionen Euro, wie der EU-Kommissar für Krisenmanagement am Montag in Brüssel verkündet hat. Damit soll die Weltgesundheitsorganisation WHO unterstützt werden. 90 Millionen Euro sollen in die Suche nach einem Impfstoff investiert werden.

Was kann man tun? Schutzmasken über Mund und Nase helfen nur bedingt, ergaben Untersuchungen über die »Wirksamkeit von Gesichtsmasken zur Verringerung der Expositionsgefahren für luftübertragene Infektionen in der Bevölkerung«.

Mit Hilfe von Prüfpuppen wurde der Schutz bei verschiedenen Emissionsszenarien gemessen. Doch die Ergebnisse sind »äußerst begrenzt und sogar widersprüchlich«, heißt es in der Arbeit.

Die eigenen Masken schützen vor allem die Umgebung, weil sie teilweise verhindern, dass bei Niesen oder Husten Aerosole herausgeschleudert werden. Doch ein Teil der Atemluft streicht zwischen Haut und Maske vorbei, besonders bei Hustenanfällen. Die Masken müssten mit Bändern abgeklebt werden, sodass die Luft vollständig durch den Filter hindurch muss.

Wichtigstes Ergebnis der Untersuchung: der Abstand von den Prüfpuppen. Je weiter weg, desto schwerer haben es die an Aerosolen haftenden Erreger, an andere Menschen zu kommen. Das deckt sich mit den Alltagsempfehlungen, wie sie bei jeder Grippewelle gelten: Abstand halten und dichte Menschenansammlungen vermeiden.

Wie bei jeder Grippe auch, gilt jetzt: Nicht in die Gegend husten und niesen sowie Hände gründlich waschen, mindestens 20 Sekunden lang, empfehlen Fachleute. Denn vor allem Türklinken öffentlicher Gebäude und Haltegriffe in Bus und Bahnen sind gute Überträger von Viren.

Sicherlich keine gute Idee ist es, in Supermärkten frei herumliegendes und unverpacktes Obst und Gemüse zu kaufen. Eine Verpackung, und sei sie auch eine noch so dünne Kunststofffolie, schützt vor anhaftenden Viren und Bakterien. Politisch zwar vollkommen unkorrekt derzeit, aber dennoch der Gesundheit zuträglich.

Währenddessen herrscht Alarmstimmung an den Börsen. Die Angst vor einer Lähmung der Wirtschaft wächst. Bereits in den vergangenen Wochen zeichneten sich die dramatischen Folgen des Ausbruchs des Virus in China ab. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind mittlerweile so eng, dass die Welt Schnupfen bekommt, wenn China hustet – wenn dieses Bild erlaubt ist. In China werden viele Rohstoffe unter anderem für Arzneimittel und wesentliche Teile für Hightechgeräte gefertigt.

Der Ausfall globaler Lieferketten versetzt die Wirtschaft in höchste Alarmbereitschaft. Bereits jetzt müssen verschiedene Autohersteller die Produktion drosseln oder gar einstellen, weil Zulieferer Teile aus China nicht mehr liefern können. Das Coronavirus trägt den Keim zu einer dramatischen weltweiten Rezession, die vermutlich in ihren Auswirkungen diejenigen des Virus‘ übertreffen dürfte.

COVID-19 ist also draußen. Kritisch ist die lange Inkubationszeit. Bis zu vier Wochen soll es nach bisherigen Erkenntnissen in Organismen existieren können, ohne dass die Krankheit ausbricht. In dieser Zeit jedoch vermag es auf andere Organismen überzugehen.

Noch weiß niemand, wie sich das neue Coronavirus verhält. Befällt es wie andere Coronaviren auch nur die oberen Atemwege und verschwindet es wieder mit zunehmender Wärme der kommenden warmen Jahreszeit? Es dürfte jedenfalls ziemlich unmöglich sein, harte Quarantäne-Aktionen wie in China durchzusetzen, zumal der Erfolg nicht garantiert werden kann.

Prächtig gedeihen jedenfalls Verschwörungstheorien über die Ursachen. Genährt werden sie auch aufgrund einer besonderen Simulationsübung in New York. Am 18. Oktober 2019 fand der »Event 201« in New York in der traditionsreichen John-Hopkins-Universität statt, eine Übung, wie eine weltweite Pandemie gehandhabt werden könnte. Die wurde in Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum veranstaltet und von der Bill and Melinda Gates Stiftung unterstützt. Experten aus vielen Ländern – auch aus China – diskutierten über pandemische Bedrohungen und wie am besten darauf zu reagieren sei.

Die simulierte Annahme: Ein SARS-ähnliches Virus keimte in Schweinefarmen Brasiliens heran, ohne dass es weiter bemerkt wurde. Doch plötzlich breitete es sich wie ein Lauffeuer in alle Länder der Welt aus und richtete weltweit Verwüstungen an. »Wenn man sich einmal mitten in einer schweren Pandemie befindet, sind die Möglichkeiten sehr begrenzt«, sagte Eric Toner, ein leitender Wissenschaftler am Zentrum für Gesundheitssicherheit der Johns Hopkins Universität. »Die wichtigsten Ziele können mit einer guten Vorplanung erreicht werden.«

Das Szenario sei absolut realistisch, sagte Toner. »Wir haben keinen Impfstoff gegen SARS oder MERS oder verschiedene Vogelgrippe-Viren, die in den letzten zehn Jahren aufgetaucht sind«, stellt er fest. »Das liegt daran, dass die Entwicklung von Impfstoffen langsam und schwierig ist, wenn es keinen unmittelbaren Markt dafür gibt«, so Toner.

Das immunresistente Virus, das in der Übung den Kurznamen CAPS verpasst bekam, lähmte Handel und Reisen und ließ die Weltwirtschaft in den freien Fall trudeln. In den sozialen Medien grassierten Gerüchte und Fehlinformationen, Regierungen brachen zusammen und Bürger revoltierten.

Für die Teilnehmer am 18. Oktober in New York City – eine gewichtige Gruppe von politischen Entscheidungsträgern, Wirtschaftsführern und Gesundheitsbeamten – war »Event 201« eine Gelegenheit, zu sehen, wie viel Nachholbedarf es gibt, um Katastrophenschutzsysteme zu stärken.

Das erschütternde Ergebnis dieser Simulationsübung: Kaum ein Land ist auf eine Pandemie ausreichend vorbereitet. Als Ergebnis erreichten 195 Länder nur 40 von 100 möglichen Punkten. »Das hat wirklich die Annahmen erschüttert und das Denken darüber verändert, wie wir uns auf eine globale Pandemie vorbereiten können«, resümierte Tom Inglesby, Direktor des Zentrums für Gesundheitssicherheit.

Keine sechs Wochen nach dieser Übung kam die erste Meldung über ein neues Coronavirus aus der chinesischen Millionenstadt Wuhan.

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