Tichys Einblick
Corona-Gipfel: Die Ergebnisse im Überblick

Die Lockerungen haben begonnen – aber im Schneckentempo

Wenn das Ziel erreicht wird, wird es verändert. Jetzt ist ein Inzidenzwert von 35 das neue, verschärfte Ziel. So kann der Lockdown ewig währen. Trotzdem: Merkel hat sich nicht durchgesetzt, die Lockerungen haben begonnen.

IMAGO / Christian Spicker

Der Beschluss beginnt mit einem dreisten Eigenlob: „Die tiefgreifenden Maßnahmen zur Kontaktreduzierung haben in den vergangenen Wochen zu einem deutlichen Rückgang des Infektionsgeschehens geführt.“ Dafür dass die Infektionszahlen wegen der Maßnahmen der Bundesregierung zurückgehen, gibt es keinen Beweis. TE zeigt das ganze Dokument (siehe unten). Das Virus folgt einem Geschehen, das von Papieren aus dem Kanzleramt nicht beeinflusst wird.

Die alten, auch schon falschen Beschlüsse gelten grundsätzlich fort: Der große Befreiungschlag gegen den Lockdown blieb aus. Einige wichtige Änderungen gibt es dennoch. Die zentralen Beschlüsse im Überblick:

  • Der Lockdown wird prinzipiell bis zum 7. März verlängert.
  • Friseure sollen ab dem 1. März wieder öffnen dürfen.
  • Merkel zieht sich aus der Bildungspolitik zurück und überlässt den Ländern das Feld. Im Beschlusspapier wird Öffnungen im Bildungsbereich Priorität eingeräumt. In Mecklenburg-Vorpommern wurde mit der Öffnung bereits begonnen. Gut möglich, dass es hier jetzt mancherorts schnell geht.
  • weitergehende Öffnungen werden an eine 7-Tage-Inzidenz von 35 gekoppelt. Erst dann soll zum Beispiel der Einzelhandel unter strengen Auflagen öffnen dürfen.
  • die beim letzten Corona-Gipfel für heute versprochene „sichere und gerechte Öffnungsstrategie“ bleibt aus: Man werde an der Entwicklung dieser Öffnungsstrategie jedoch „weiterarbeiten“, verspricht das Papier.

Die ohnehin schon willkürliche Inzidenz 50 auf die die Bürger immer wieder verwiesen wurde, wird jetzt ohne weitere Begründung auf 35 herabgesetzt. Der eigentliche Grund ist wohl offensichtlich: Es dauert wohl nur noch wenige Tage bis die 50 bundesweit erreicht werden. Nach der alten Logik hätte das ursprüngliche angesetzte Lockdownende vom kommenden Sonntag beibehalten werden müssen – genau das hätte das Land gebraucht und die Corona-Zahlen geben es mehr als her.

Doch diese Chance wurde vertan und wir bewegen uns weiter im Lockdown. Auf die Frage, ob die 35er-Inzidenz denn nun die letzte Marke sei oder ob anschließend auch 25 oder 10 folgen könnten, antwortet Merkel in der Pressekonferenz nicht konkret – Lockdown als Selbstzweck. Aber immerhin: Merkels Allmacht ist gebrochen, die Kanzlerin hatte sich noch viel einschneidendere Maßnahmen gewünscht. Und so treten wir den Weg in Richtung Normalität an. Langsam. Sehr langsam.

Der ganze Beschluss als Dokument:

MPK10022021_end


 

16:30: Merkel immer hilfloser – „Virus gewinnt gerade die Oberhand“ 

Corona-Hardliner wie Winfried Kretschmann nehmen Merkel die mögliche Schulöffnung übel. „Angela, ich bin von deinem Kurswechsel enttäuscht“, soll der BaWü-MP ins der Videokonferenz gesagt haben. Merkel selbst scheint der Realität derweil endgültig entrückt: Sie erklärt in der Konferenz, das Virus gewinne gerade die Oberhand – während Inzidenzen bundesweit im freien Fall sind. Doch die Möglichkeit der Schulöffnungen scheint zur Zeit beschlossene Sache zu sein: Merkel habe bereits ins Spiel gebracht, Erziehern eine deutlich höhere Impfpriorität einzuräumen.
Einige Ministerpräsidenten wollen Friseure wohl sogar vor dem ersten März öffnen lassen, laut Merkel ist das mit ihr aber „nicht konsensfähig“.

Währenddessen hat der Bundestag, der zur Zeit über Russland und Nordstream 2 debattiert, Bundesfinanzminister Olaf Scholz herbeizitiert. Er muss also die MPK verlassen. Der Antrag der Grünen hat mit den Oppositionsfraktionen die Mehrheit im Plenum erreicht, weil Union und SPD mit weniger Abgeordneten präsent waren.

Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Mutterfraktion im Europaparlament, der EVP, hat sich im Interview mit Bild-Vizechef Paul Ronzheimer eine bemerkenswerte Entgleisung geleistet. „In Wahrheit ist es ja so, dass wir in Deutschland keine Perspektive haben, dass alle die Hoffnung verlieren, weil sie es beim Impfstoff alle zusammen versemmelt haben“, konstatiert Ronzheimer und fragt den Europapolitiker: „Sind sie gescheitert mit Ihrer Politik?“ Daraufhin scheint Liese die Sicherung durchzubrennen. Ronzheimer solle „den Mund nicht so voll nehmen“. In Wirklichkeit sei nämlich die Bild an der schlechten Lage schuld – wenn die Bildzeitung nicht im Herbst die „guten Vorschläge, die Angela Merkel und Markus Söder gemacht haben“, so negativ begleitet hätte, dann „stünden wir jetzt nicht so schlecht dar“. Richtig gehört, wären kritische Medien nicht, hätten wir Corona wahrscheinlich schon besiegt. „Ich kritisiere jeden Tag die Bildzeitung“, tönt Liese, die laut ihm mitverantwortlich für 60.000 Corona-Tote sei. Das Gespräch eskaliert, Liese rastet richtig aus. „Hamse sie noch alle?“ pöbelt er an einem Punkt in Richtung Ronzheimer. Warum man in Brüssel die Impfstoffbeschaffung so versemmelt hat, wird Liese im Verlauf des Interviews nicht mehr beantworten.

Merkel und Getreue kommen immer mehr ins Schlingern – umso radikaler wird aber ihre Rhetorik. Genau wie beim letzten Gipfel. Ihr Programm scheinen sie nicht mehr durchdrücken zu können. Der Ball liegt bei den Ministerpräsidenten.


13:40: Und wieder fällt ein radikaler Merkelvorschlag nach dem anderen durch

Wie die Bild berichtet, scheint das Öffnungsdatum vom 14. März, bevor der Corona-Gipfel überhaupt los geht, wieder vom Tisch zu sein. Noch vor Konferenzbeginn scheint Merkel bereits nachzugeben: Angepeilt sei jetzt der 7. März als Stichtag. Begründung für den Datumswechsel gibt es keine – außer vielleicht, dass am 14. März Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg anstehen.

Kapituliert die Kanzlerin vorsorglich vor Dreyer und Kretschmann? Letzterer sprach zwar erst gestern abfällig über „Öffnungsorgien“, erklärte in einem Interview im Bezug auf die anstehende Landtagswahl allerdings: „Wir merken auch, dass die Zustimmung zur Pandemie-Politik abnimmt. Wie sich das auf die Wahlen auswirkt, weiß kein Mensch.“ Beugt sich Merkel also Wahlniederlage-Ängsten mancher MPs? Oder ist es ein genereller taktischer Rückzug, um schnell wieder eine Lockdown-Einheitsfront herzustellen? Einige Ministerpräsidenten drängen laut Bild nämlich auf noch frühere Öffnungsdaten als den 7. März.

Auch der von Merkel ins Spiel gebrachte neue Inzidenzwert von 35 steht wohl auf der Kippe.

Für Friseure soll außerdem eine Ausnahmeregelung gelten: Wie es aus dem Kanzleramt heißt, soll Haare schneiden ab dem 1. März wieder erlaubt sein. Die Öffnung der Branche, die in der öffentlichen Debatte zu einem Symbol geworden zu sein scheint, soll die lockdownmüde Öffentlichkeit wohl bei der Stange halten.

Es erinnert an den letzten Gipfel: Merkel tritt mit einer radikalen Beschlussvorlage an und Stunde um Stunde fällt ein Punkt nach dem anderen durch. Ihre Macht bröckelt, doch den entscheidenden Schritt gegen den unpopulären Lockdown-Wahnsinn wagt dennoch keiner.

Die öffentliche Meinung dreht sich deutlich gegen Merkels Lockdown, auch die Medien halten der Kanzlerin nicht die Treue: Vom Focus bis mittlerweile sogar zum Spiegel macht sich Kritik an der Pandemiepolitik der Bundesregierung breit.


11:00: Taktischer Rückzug: Merkel will lockern bei Schulen, Kitas und Friseuren

Wie ntv heute unter Berufung auf das Kanzleramtspapier berichtet, will Merkel den Lockdown um einen Monat verlängern: Die Maßnahmen sollen nun vorerst bis zum 14.März gelten, fordert das Kanzleramt. Auch die Kriterien für eine Lockerung wurden verschoben: Der maßgebliche Inzidenzwert soll auf 35 gesenkt werden, vorher sollen Lockerungen nicht diskutiert werden.

Doch das Auftreten der Kanzlerin hat sich verändert: Vom offensiven Eintreten für Verschärfungen wie beim letzten Gipfel vor wenigen Wochen, ist wenig übrig. Stattdessen scheint Merkels Strategie zu sein, ihre Stellung zu halten. Denn sie steht inzwischen auch gegen die klare Mehrheitsmeinung: Laut einer aktuellen Umfrage von Kantar für Bild am Sonntag wollen 78 Prozent der Bundesbürger, dass Schulen und Kitas wieder geöffnet werden, 73 Prozent sind dafür, den Einzelhandel wieder aufzumachen.

Wahrscheinlich gibt Merkel deswegen ihren Widerstand gegen Schulöffnungen auf: Nach BILD-Informationen sollen die Bundesländer selbst über Kita- und Schulöffnungen entscheiden. Mit diesem Zugeständnis geht Merkel auch einem drohenden Streit mit den Ministerpräsidenten aus dem Weg. Das ist, genauso wie die angekündigte Öffnungsperspektive für Friseure, ein taktischer Rückzug, der am Lockdown-Wahnsinn als solchem aber nichts ändert. In Mecklenburg-Vorpommern hat man Kitas bereits geöffnet, und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, die beim letzten Gipfel zeitweise wie eine Art Merkel-Antagonistin auftrat, fordert ein „regionales Vorgehen“ in der Schulpolitik: „Warum sollen Kinder in Rostock, mit einer Inzidenz in Richtung 20, nicht in die Schule gehen?“ Auch NRW-MP Armin Laschet scheint Schulöffnungen vorantreiben zu wollen. Die Öffnung von Schulen, Kitas und Friseuren sollen wohl die Knochen sein, die Merkel den lockdownmüden Bürgern hinwirft, um im Großen und Ganzen ihren Kurs beibehalten zu können. Aber sie ist sichtlich unter Druck.

Am Rande ein weiteres Ziel des heutigen Gipfels: Ein nationaler Impfplan. Großspurig hat Merkel zuletzt versprochen, man werde bis zum 21. September jedem ein Impfangebot machen – doch wie das funktionieren soll, weiß man anscheinend noch gar nicht. Erst Heute soll besprochen werden, wie man dieses Ziel denn erreichen könnte. Ein weiteres leeres Versprechen, dass heute mit Substanz gefüllt werden muss.


06:00: Einfach weiter wie gehabt? Was Merkel heute plant

Heute kommen Merkel und die Ministerpräsidenten wieder zur Corona-Schalte zusammen. Die Erwartung ist klar: Die Maßnahmen sollen verlängert werden, zumindest bis zum Monatsende. Und das trotz steigenden Unmuts bei gleichzeitig sinkenden Corona-Zahlen. Keine der durch die Exekutive ausgegebenen Maßstäbe, ob nun der R-Wert oder die Sieben-Tage-Inzidenz, zeichnen das Bedrohungsszenario, das einen längeren Lockdown rechtfertigt – auch die geschürte Angst vor den Corona-Mutationen fällt als die Luftnummer, die sie ist, langsam in sich zusammen, weil die belastbaren Daten fehlen. Dennoch macht sich Merkel wieder für die Verlängerung des Lockdowns stark: Bis in den März hinein will die Kanzlerin mit ihrer desaströsen Politik weitermachen. In einem gestern an die Länder verschickten Kanzleramtsentwurf eines Arbeitspapiers heißt es, die Kontaktbeschränkungen müssten „in den nächsten Wochen grundsätzlich beibehalten werden“, die Rede ist von einer Verlängerung „bis zum XXX März“. Vor der Unions-Fraktion prognostiziert Merkel, die britische Corona-Mutation werde bald die Oberhand im Infektionsgeschehen gewinnen. Deswegen müsse man die Infektionszahlen mit aller Kraft nach unten drücken.

Da der Kanzlerin mit dem momentanen Trend aber die Argumente für den derzeitigen Lockdown flöten gehen, wird eben ein bisschen an den Maßstäben gedreht. Laut dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ will Merkel Öffnungen sowohl an eine 50er-Inzidenz als auch an einen illusorischen R-Wert von höchstens 0,7 koppeln. R-Werte und Inzidenzen verkommen so endgültig zum politischen Wünsch-dir-was-Instrument und zum Willkürobjekt der Lockdown-Politik. Jetzt muss man schon alles zusammennehmen, um Verlängerungen durchzudrücken.

Heft 02-2021
Tichys Einblick 02-2021: 2021 - Endlich wieder leben
Dass der Unmut im Land jedoch wächst, scheint man in Berlin zu realisieren. Deshalb bedient man das „Karottenprinzip“: Mit „Öffnungsperspektiven“ will man die Illusion vom Licht am Ende des Tunnels schaffen, um die Moral in der Bevölkerung hochzuhalten. So, wie man einem Maultier eine Karotte vor die Nase hängt. Mehrere Länder arbeiten an solchen Karotten, sogenannten „Stufenplänen“, die bestimmte Lockerungen an bestimmte Corona-Werte koppeln. Im Kanzleramtspapier heißt es, man werde „weiter“ an der „sicheren und gerechten“ Öffnungsstrategie arbeiten – Ergebnisse dieser Arbeit werden ins irgendwann vertagt. Doch wenn die Maßgabe der 50er-Inzidenz und des 0,7 R-Wertes gilt, ist das eine reine Nebelkerze. Zuletzt erreichte man einen solch geringen R-Wert nämlich Ende Juni, im Hochsommer – wer sich also von einer „sicheren und gerechten“ Öffnungsstrategie auch „sicheres und gerechtes“ Öffnen verspricht, wird vergebens hoffen.

Sowas ähnliches wie eine wahre Öffnungsperspektive erhalten lediglich Schulen und Kitas, die laut Kanzleramtsentwurf „Schrittweise“ wieder geöffnet werden sollen. Der Homeschooling-Notstand soll wohl behoben werden, um etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen, denn das Bildungsthema war bereits beim letzten Corona-Gipfel die große Kontroverse. Wahrscheinlich ist eine minimale Öffnung des Schul-und Kitabetriebs angedacht, um ansonsten ein stahlhartes „Weiter so“ vertreten zu können – es geht schließlich gegen die gefährlichen Mutanten.

Von Max Roland und Air Türkis. 

Anzeige