Tichys Einblick
Bundestag über schwere Waffen für die Ukraine

Eine SPD, die sich verrenkt, und ein Unionschef, der den wunden Punkt nicht trifft

Für die Sozialdemokraten geht es bei den Waffenlieferungen an die Ukraine nicht nur um die Verteidigung von „Frieden und Freiheit in Europa“, sondern auch um die ihrer eigenen Weltfremdheit in militärischen Angelegenheiten.

SPD-Chef Lars Klingbeil im Bundestag, 28.04.2022

IMAGO / Fotostand

Spannend war die erste Abstimmung in der heutigen Bundestagssitzung wahrlich nicht. 586 von 693 anwesenden Bundestagsabgeordneten befürworteten den gemeinsamen Antrag der Ampelkoalition und der Unionsfraktion. Er trägt den Titel „Frieden und Freiheit in Europa verteidigen – Umfassende Unterstützung für die Ukraine“. In dem Euphemismus „Frieden verteidigen“ (während bekanntlich Krieg herrscht) wird schon der Kern des eigentlichen Problems deutlich, um das sich in den vergangenen Tagen und Wochen der Streit um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine eigentlich drehte, bevor letztlich der Druck der USA und der Nato-Alliierten beim Verteidigungsministertreffen in Ramstein den Kanzler und seine SPD zum Einlenken bewegte. 

Es war zum großen Teil ein Gewissenskonflikt innerhalb der SPD, in dem die radikal-pazifistische Strömung innerhalb der Partei nicht nur den Frieden, den es in der Ukraine nicht mehr gibt, sondern ihre ehernsten Glaubenssätze und Lebenslügen verteidigen zu müssen glaubte. Zu diesen gehört das Dogma „Frieden schaffen ohne Waffen“ und als äußerstes Zugeständnis an die waffenstarrende Wirklichkeit die künstliche Unterscheidung von Verteidigungs- und Angriffswaffen. Ein Reflex darauf findet sich auch im gemeinsamen Antrag, in dem zunächst von „Waffen zur Selbstverteidigung“ die Rede ist, erst danach von der „Lieferung wirksamer, auch schwerer, Waffen und komplexer Systeme durch Deutschland“. 

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Diese Unterscheidung aber ist in der militärischen Wirklichkeit nicht sinnvoll und auch gar nicht konsequent möglich. Schließlich gehört zu jeder Verteidigung auch die Fähigkeit zum Gegenangriff, also zur Rückgewinnung des vom Angreifer angeeigneten Territoriums. Die Deklaration von Verteidigungswaffen ist ein Abstraktum, das allein der moralischen Selbstvergewisserung dient. Und da die SPD seit Peter Struck keinen Verteidigungsminister stellte, der einigermaßen Militärkompetenz hatte, und mit Hans-Peter Bartels den letzten Fachmann von Rang aus dem Amt des Wehrbeauftragten gejagt hat, gibt es in der Partei kaum noch innere Korrektive gegen diese moralisch verklärte Militär- und Wirklichkeitsfremdheit. Von der amtierenden Verteidigungsministerin Christine Lambrecht war jedenfalls in dieser Frage kein substanzieller eigener Beitrag vernehmbar.

So bemüht sich die SPD sogar angesichts des Ukraine-Krieges, an den eigenen Anti-Militär-Dogmen festzuhalten. Und wenn es schon in der Sache nicht mehr funktioniert, dann doch wenigstens in der Darstellung. Nachdem auf Druck nicht nur der Union und der Koalitionspartner, sondern auch der Öffentlichkeit und – offensichtlich entscheidend – der USA und anderer Bündnispartner, der SPD-Kanzler schließlich doch seine Zustimmung zur Lieferung schwerer Waffen geben musste, versucht die  parlamentarische Geschäftsführerin Katja Mast den alten SPD-Glauben in die neue Zeit zu retten: Der Gepard-Panzer, der nun also in die Ukraine geliefert wird, sei eine Verteidigungswaffe, da er ja der Flugabwehr diene, erklärt sie der FAZ. Natürlich ist das Unsinn. Auch Flugabwehr kann und muss ein Teil einer Offensivoperation sein. Der Gepard ist vor allem dazu gedacht, eigene vorrückende Panzertruppen zu begleiten. Und er kann übrigens mit seinen 35-Millimeter-Kanonen auch aktiv Bodenziele zerstören.

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Ebenso bizarr die Äußerung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der vor der Bundestagssitzung die „mi­litaristische Schlagseite“ der Diskussion beklagt hatte. Auch Mast störte sich daran, dass man „wochenlang nur über Waffen diskutiert“ habe. Sie hätte lieber über andere Themen gesprochen, et­wa die Energie- und die Lebensmittel­sicherheit, die Lage der Flüchtlinge aus der Ukraine oder die diplomatischen Versuche, Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung zu vereinbaren. Diese Klagen sind bezeichnend für die Wirklichkeitsabneigung der SPD: Es herrscht Krieg, aber über Waffen zu sprechen, gilt in der Partei als unappetitlich. 

Interessanterweise haben die Grünen dieses Problem in sehr viel geringerer Ausprägung, obwohl sie ihrem Selbstverständnis nach eine mindestens ebenso radikalpazifistische Partei sind. Ein Aufstand der Basis gegen die Schwere-Waffen-Linie der Führung bleibt aber bislang aus, obwohl diese dem eigenen Wahlprogramm widerspricht. Britta Haßelmann, die Fraktionschefin der Grünen, schaffte es in ihrer Bundestagsrede, den zentralen Zwist über die Lieferung schwerer Waffen hinter einer einzigen Phrase zu verstecken: „Wir wägen ab, wir zweifeln, ja, wir hadern, aber wir entscheiden, und das ist am Ende das, was zählt.“ Dass diese Entscheidung dem eigenen Programm widerspricht, scheint dagegen nicht zu zählen.

Oppositionsführer Friedrich Merz stand vor der schwierigen Aufgabe zu opponieren, ohne den gemeinsame Antrag mit der Koalition zu kritisieren. Also spießte er weder die offensichtliche Schwäche der SPD, nämlich die Entfremdung großer Teile der Partei vom sicherheitspolitischen Realismus, auf noch die frappierende Wende der Grünen von der Keine-Waffenexporte-Partei zur Schwere-Waffen-Partei. Stattdessen griff er den – auf Staatsbesuch in Tokio abwesenden – Kanzler weniger inhaltlich, sondern persönlich an, für seine „Unsicherheit und Schwäche“. Scholz habe über Wochen hingehalten, offen gelassen, ausweichend geantwortet. „Das ist nicht Besonnenheit, das ist Zögern, das ist Zaudern und das ist Ängstlichkeit.“   

Merz kritisierte insbesondere eine frühere Äußerung des Bundeskanzlers, dass die Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland einen dritten Weltkrieg heraufbeschwören könnte. Eine Befürchtung, die allerdings durchaus nicht völlig wirklichkeitsfremd sein musste. „Ängstlichkeit“ kann für einen Bundeskanzler angesichts eines Krieges einer Atommacht durchaus ein bedenkenswertes Handlungsmotiv sein. 

SPD-Chef Lars Klingbeil hatte sich offenbar einen noch nachsichtigeren Merz erhofft. Den Dank an die Union, den er sich nach eigener Aussage eigentlich vorgenommen hatte, ersetzte er durch den Satz: „Das hätte heute eine staatspolitische Rede von Ihnen werden können. Es ist aber eine parteipolitische Rede geworden.“ Man hätte es fast schon als Selbstironie verstehen können, als ausgerechnet der Chef der Partei, die die Frage der militärischen Unterstützung der Ukraine auf der Grundlage ihrer eigenen Parteibefindlichkeiten führte, nun Merz und der Union vorwarf: „Hier ist kein Platz für parteipolitische Profilierung.“ 

Einen Satz, den man einst gewohnt war, von pazifistischen Grünen und Sozialdemokraten zu vernehmen, äußerte ausgerechnet AfD-Chef Tino Chrupalla: „Waffen haben Kriege noch nie verkürzt und sind keine humanitären Hilfsgüter. … Die Friedensrhetorik muss in den Vordergrund treten.“ Abwegig seine Behauptung, der Antrag von Koalition und Union lese sich „wie die Betrittsbekundung zu einem Krieg“, werde den Krieg verlängern und könne „uns zur Kriegspartei in einem atomar geführten Krieg machen“. Er sagte es nicht explizit, aber das kann man nur als Wunsch verstehen, die Ukraine möge bald aus Mangel an Waffen die Gegenwehr aufgeben.

Deutschland wünscht sich der AfD-Chef als „neutralen Vermittler“. Chrupalla macht es den anderen Parteien wahrlich nicht schwer, die AfD als eine außen- und bündnispolitisch unverantwortliche, putin-freundliche Kraft dazustellen. Sie ist das offensichtlich wirklich – zumindest kam Chrupalla kein Wort der Verurteilung des russischen Angriffs über die Lippen. Selbst Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch, der die Lieferung von Waffen an die Ukraine mit ähnlichen Argumenten ablehnte, verurteilte immerhin gleich zu Anfang Putins Aggression „ohne Wenn und Aber“. 

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