Tichys Einblick
"Hey, aber wir sind unzufrieden"

Offener Brief: Die Basisgrünen greifen die Regierungsgrünen an

Eigentlich müssten die Grünen glücklich sein: ihre Handschrift zieht sich durch die gesamte Regierungszeit. Doch den radikalen Basisgrünen ist das nicht genug. In einem Offenen Brief greifen sie die Parteispitze wegen zu vieler Kompromisse an - und rechnen mit einem Koalitionspartner ab.

IMAGO
Robert Habeck bekam gestern zweimal Post, einmal vom Bundesverfassungsgericht, der Inhalt ist inzwischen bekannt, und dann von seiner eigenen Parteibasis. Das Genre, das „Offener Brief“ heißt, kennt sein Leidensgenosse Christian Lindner von den inzwischen Unfreien Demokraten schon. Ende Oktober hatten Mitglieder der FDP nach den verlorenen Landtagswahlen der Parteispitze geschrieben, dass die letzten Wahlen gezeigt hätten, „dass explizit die FDP von den Wählern in Deutschland für die Leistungen der Bundesregierung abgestraft wurde.“ Die FDP verbiege sich in der Ampel „bis zur Unkenntlichkeit“, weshalb die FDP „ihre Koalitionspartner dringend überdenken“, also die Koalition verlassen müsse, weil ihre Koalitionspartner das „politisches Erbe“ der FDP beschädigen würden. Nun, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist da eigentlich nichts mehr zu beschädigen.

Eine Woche vor dem Bundesparteitag der Grünen erhält nun die Führung der Grünen den gleichen Offenen Brief von ihrer Basis, allerdings in tiefgrün. Tiefgrün bedeutet, dass auf keinen Fall auf die Macht verzichtet wird, wie Teile der FDP Basis für ihre Partei vorschlugen, sondern es wird stattdessen das maßlose Geschrei nach noch mehr Macht angestimmt. Den Offenen Brief, über den die Tagesschau berichtet, hatten bis Mittwochabend rund 500 Parteimitglieder unterzeichnet. Daran, dass der Brief der Tagesschau tatsächlich vorliegt, braucht man nicht zu zweifeln, denn wem sollten die Grünen den Offenen Berief sonst übergeben, wenn nicht ihrer inoffiziellen Pressestelle?

Die Basisgrünen empören sich jedenfalls in ihrem „Offenen Brief“, der den Titel trägt: „Zurück zu den Grünen“, über die Regierungsgrünen, weil sie in der Klima- und in der Migrationspolitik „scheinbar komplett konträr“ handeln. Die Unterzeichner sind tief traurig darüber, dass ihre Hoffnung, mit der sie vor zwei Jahren in die Koalition gegangen seien, „dass mit den Grünen nun endlich eine Partei in der Regierung sei, „die die Klimakrise ernst nimmt, die wertebasierte Migrationspolitik vorantreibt und wirklich einen Unterschied macht“, enttäuscht wurde. Genannt werden in dem Brief das „Abbaggern des Braunkohleorts Lützerath in Nordrhein-Westfalen, das 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr, die Zustimmung zur Reform des Europäischen Asylsystems und die Kindergrundsicherung, „die effektiv keinem Kind aus der Armut helfen wird“.

Ein wenig Verständnis wollten sie wohl schon dafür aufbringen, dass man in einer Koalition Kompromisse eingehen muss, nur dürfen die Kompromisse eben keine Kompromisse sein. Die Basisgrünen zeigen sich jedenfalls „schockiert“ darüber, dass die Kompromisse, die in Wahrheit keine Kompromisse sind, von den Regierungsgrünen als Erfolge propagiert worden seien. Und unter großen Anstrengungen kommen dann die Basisgrünen auf die Formulierung: „Manchmal erscheint es uns, als ob die Grünen von einer Partei für echte Veränderung zu einer Werbeagentur für schlechte Kompromisse geworden sind.“

Feind der Basisgrünen ist erstaunlicherweise nicht die FDP, sondern die SPD, denn es werde schon von einer „SPD-isierung der Grünen“ gesprochen, malen sie das Schreckbild an die Wand. Wenn man wissen will, worin die „SPD-isierung der Grünen“ konkret besteht, wo doch die SPD komplett ergrünt und von den Grünen nicht mehr zu unterscheiden ist, dann findet man die verblüffende Antwort, dass die SPD sich dadurch auszeichne, dass sie alles mittrage, nur um weiter mitzuregieren. Über das herzerwärmende Lob ihrer lieben Grünen dürften sich die Genossen besonders innig freuen.

Die Autoren des Briefes machen sich Sorgen, dass die Grünen „immer lauter“ von ihren de facto Vorfeldorganisationen, von den Gewerkschaften, der Klima- und Umweltbewegung und den ach so wichtigen migrantischen Organisationen kritisiert werden. Die Basisgrünen fordern mehr Mitsprache, eine größere Beteiligung an den Entscheidungen und werden dafür den in einer Woche stattfindenden Bundesparteitag, der sich mit der Migrationspolitik und dem Wahlprogramm für die Europawahl beschäftigen wird, nutzen. Vielleicht erfreuen die Grünen auf diesen Parteitag auch Deutschland mit einer Pro-Hamas-Solidaritäts-Resolution, wo doch die grüne, wertebasierte Außenministerin nicht müde wird, jede Woche die Mittel für den Gaza-Streifen, den die Hamas noch beherrscht, zu erhöhen.

Die Basisgrünen sind aber „Hey… unzufrieden“ mit den Regierungsgrünen und wollen aber „Hey“ mit ihnen auf dem Parteitag „darüber reden“.

Vielleicht nutzen Robert Habeck, Annalena Baerbock, Lisa Paus und Steffi Lemcke den Parteitag, um ihrer Basis einmal in Ruhe zu erklären, dass die Grünen alle ihre Projekte in der Bundesregierung durchgesetzt bekommen. Vielleicht erklären die Regierungsgrünen den Basisgrünen bei dieser schönen Gelegenheit auch, dass 0 plus 0 trotz wertebasierter Mathematik 0 bleibt. Doch man kann leider nicht wirklich sicher sein, ob selbst die Regierungsgrünen das wissen. Denn Milliarden werden für die grüne Transformation in die Kommandowirtschaft verpulvert. Das ruinöse GEG ist beschlossen. Die Kindersicherung, die keine Kindersicherung, sondern eine Migrationsförderung ist, wurde von Lisa Paus mit geradezu erpresserischen Mitteln durchgepeitscht. Die Kommunen kippen vor dem Zustrom an Einwanderern in die deutschen Sozialsysteme. Doch bisher wurde nichts, aber auch gar nichts getan, um das einzudämmen. Im Gegenteil, die Regierung redet, um nicht handeln zu müssen. Doch den Basisgrünen und den migrantischen Organisationen reicht das immer noch nicht.

Vielleicht sehnen sich die Basisgrünen auch in Wahrheit danach, dass der Wettstreit vor den monolithischen grünen Dogmen halt zu machen hat? Weshalb dann aber die Kritik? Ansätze werden doch dafür schon umgesetzt mit Meldestellen für Vorfälle oder Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, mit dem Programm „Demokratie leben“, mit dem sogenannten
Demokratieförderungsgesetz.

Der Offene Brief offenbart einen Blick in eine ideologisierte Partei, die mit allen Mitteln ihre Ideologie durchsetzen will, und der selbst die Geschwindigkeit, in der das ihren Regierungsvertretern gelingt, noch zu langsam ist. Der Jakobiner und Liebhaber der Guillotine, Saint Just, lässt grüßen, der wie die Grünen wollte: „dass jetzt jedermann zur Moral zurückkehrt, … dass es jetzt an der Zeit ist, der zügellosen Sittenverderbnis den Krieg zu erklären, aus Sparsamkeit, Bescheidenheit und bürgerliche Tugenden eine Pflicht zu machen und in das Nichts zu schleudern die Feinde des Volkes, welche den Lastern und Leidenschaften der sittenlosen Menschen schmeicheln, um Parteien zu bilden … Wir kennen nur ein Mittel, dem Übel Einhalt zu tun; es besteht darin, die Revolution auch ins bürgerliche Leben zu übertragen und jeder Schändlichkeit den Krieg zu erklären, welche unter uns angestiftet wird, um die Republik zu entfernen und ihre Garantien zu vernichten.“ Unter Republik verstand Saint Just die Gemeinwohldiktatur, die Grünen die klimaneutrale Gesellschaft und den „Wohlstand des weniger“, des immer weniger, des nichts.

In Deutschland geht es derzeit paradox zu, die FDP-Führung erhält von ihrer Basis einen Rüffel-Brief, weil sie kein einziges Projekt durchsetzt, sondern die Projekte der Grünen zu realisieren hilft. Die Regierungsgrünen bekommen von ihrer Basis einen Brief, weil sie es geschafft haben, dass die Koalition ihre Projekte umsetzt, nur eben nicht schnell, nicht radikal genug. An der Basis der FDP gibt es Stimmen, die verlangen, dass die FDP die Koalition verlässt, die Basis der Grünen fordert, dass ihre Führungskräfte die unumschränkte Macht übernehmen. Denn so Saint Just: „Jede Fraktion ist also verbrecherisch, weil sie danach strebt, die Bürger zu zerspalten und weil sie die Macht der öffentlichen Tugend neutralisiert.“ Also alle Macht den Grünen. Man darf auf den Parteitag in einer Woche gespannt sein.

Anzeige