Tichys Einblick
Tote im Ahrtal

Dreyers Ministerin verweigerte einem Behindertenheim die lebensrettende Nachtwache

134 Menschen starben 2021 in der Flut im Ahrtal. Unter den vielen bitteren Geschichten sticht die eines Behindertenheims in Sinzig hervor: Wie sich jetzt herausstellt, hat die Landesregierung zuvor angeforderten Schutz abgelehnt.

Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und die damalige Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler, 20.04.2022

IMAGO / Sämmer
Ein Hubschrauber der Polizei hat in der Nacht zum 15. Juli 2021 erdrückende Bilder im Ahrtal aufgenommen. Sie waren über ein Jahr verschwunden. Aus Versehen, wegen falsch abgelegter Dateien, wie es heißt. Nicht etwa, weil sie die Landesregierung belasten. Deren Verantwortliche haben sich in der Nacht einen „schönen Abend“ gewünscht. Allen voran Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Ihr Innenminister Roger Lewentz (SPD) und die damalige Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) mussten bereits von ihren Ämtern zurücktreten.

Katastrophe im Ahrtal
Schlechte Umfrage für Malu Dreyer nach Versagen in der Flut
Nun wirft eine Recherche des „Focus“ den Scheinwerfer auf eine andere Politikerin aus dem Stab Dreyers: Die frühere Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler. Sie ist heute Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag und gilt als eine von vier möglichen Dreyer-Nachfolgern – neben dem neuen Innenminister Michael Ebling, der Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley und Arbeitsminister Alexander Schweitzer (alle SPD).

Es geht um ein Behindertenheim in Sinzig. In einer Nacht, die voll Furcht, Leid und Tod war, sticht dessen Schicksal noch einmal heraus. Zwölf Menschen sind dort in der Nacht gestorben. Hilflos. Im Stich gelassen. Auch weil es an einer Nachtwache gefehlt hat. Der Betreiber, die Lebenshilfe, hatte eine solche Wache angefordert, wie der Focus nun herausgefunden hat. Bätzing-Lichtenthälers Ministerium und ein ihr unterstelltes Amt haben es verweigert. Aus Kostengründen.

Brandschutzbeauftragte haben schon 2015 die Sicherheit des Heimes bemängelt, berichtet der Focus. Unter anderem kritisierten sie demnach, dass ein Konzept für die Flucht im Notfall fehle. Auch gebe es nur eine Nachtwache in einer Einrichtung mit zwei Häusern, die rund 250 Meter auseinander liegen. Die Lebenshilfe beantragte daraufhin die Kostenübernahme für eine zweite Nachtwache. Das ist in diesem Bereich durchaus üblich. Doch das Landesamt lehnte ab. Für die Größe des Heims sei eine Nachtwache ausreichend.

Katastrophe im Ahrtal
Malu Dreyer sorgte sich in der Flut um den Auftritt des Kandidaten Scholz
Die Regierung Dreyer ist dafür bekannt, schwierige Themen in Arbeitskreise abzuschieben. Damit das nicht allzu sehr nach Arbeitsverweigerung aussieht, bekommen die peppige Namen. Im Fall der Lebenshilfe wurde es ein „Runder Tisch“. Zu dem Arbeitskreis „Runder Tisch“ gehörten Vertreter des Kreises, der Landesbehörde ADD und des Sozialministeriums. Kaum ein Jahr später tagte der Arbeitskreis und kam zu dem Ergebnis: Eine zweite Nachtwache sei zu teuer, zu aufwändig. Stattdessen ließ das Land ein Alarmsystem installieren, dass den Alarm per Handy weitergibt. In der Flutnacht brach das Netz an der Ahr zusammen. Als die Verantwortlichen am Morgen danach die Warn-Nachrichten bekamen, waren die Heimbewohner schon tot.

Die Umstände ihres Todes sind grauenhaft. Gegen 3 Uhr kam die Flut, sperrte die wehrlosen Bewohner ein und riss sie in den Tod. Nur ein Bewohner überlebte. Er hielt sich an einem Rollladen fest, wie der Focus berichtet. Schrie um sein Leben. Stundenlang. Eine Ewigkeit. Unterdessen starben um ihn herum seine Mitbewohner. Die Menschen in der Hälfte des Heims mit einer Nachtwache überlebten. Die Menschen starben dort, wo Dreyers Sozialministerium sparen wollte und auf ein Notfall-System setzte, das für Notfälle offensichtlich nicht taugt. Es hätte vermutlich genügt, die Bewohner aus dem Erdgeschoss in die erste Etage zu bringen.

Was in der Flutnacht vor Ort passiert ist, kann sich nur vorstellen, wer dabei war. Und selbst für die sind die Eindrücke so mächtig, dass sie überfordern müssen. Das menschliche Gehirn, das menschliche Bewusstsein sieht Schutz-Mechanismen vor, Unerträgliches in der Wahrnehmung so abzumildern, dass wir es ertragen können. Es wundert daher wenig, dass die Aussagen der Zeugen auseinandergehen. Die Feuerwehr will die Nachtwache zwischen 23 und 3 Uhr zweimal auf die Situation aufmerksam gemacht haben. Der Betreuer dementiert diese Darstellung laut Focus.

Katarina Barley oder Michael Ebling
Die möglichen Nachfolger von Ministerpräsidentin Malu Dreyer laufen sich warm
Was es heißt, in einer Katastrophe aktiv vor Ort zu helfen, kann nur beurteilen, wer jemals für THW, Feuerwehr oder andere Mitglieder der Blaulichtfamilie in solch einem Einsatz war. Fehler passieren. Das ist angesichts der gewaltigen Aufgabe nicht vermeidbar. Möglicherweise hätte ein Lagezentrum geholfen. Mit Verantwortlichen, die zur Not ein Machtwort gesprochen hätten. Zum Beispiel: Evakuieren Sie das Heim, egal was der Betreuer sagt! Doch die zuständigen Minister und Ministerpräsidentinnen waren von der Brücke gegangen, wünschten sich einen „schönen Abend“.

Der Focus hat Bätzing-Lichtenthäler befragt. Sie bitte um Verständnis, sagt sie. Aber sie könne sich an den Vorgang nicht erinnern, stellt die Sozialdemokratin fest: „Im Nachgang der Flutkatastrophe wird es nun darum gehen, aufbauend auf den Erkenntnissen künftige Maßnahmen abzustimmen“, teilte die Pressestelle der SPD-Fraktion dem Focus mit. Vermutlich mit einem Arbeitskreis. „Task Force“ wäre als Name chic, „Security Service Center“ neu. Aber in dem Punkt liefert die Regierung Dreyer zuverlässig.

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