Tichys Einblick
Nachhaltige Prioritätensetzung nötig

100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr: Was bringen sie?

Die Bundeswehr wird mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausgestattet. Jetzt ist langer Atem gefragt. Und zwar über die laufende Legislaturperiode hinaus. Es gibt viel zu tun!

IMAGO / Manfred Segerer

Man kommt aus dem Erschrecken ob eines nahen Krieges mitten in Europa und aus dem Staunen ob „historischer“ deutscher Entscheidungen nicht mehr heraus: Kriegsverbrecher Putin überfällt am 24. Februar die Ukraine. Ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Für ihn ist die Ukraine „Kleinrussland“ – ein Land, das sich Putins panslawischem Größenwahn gefälligst nicht zu widersetzen hat und schon gar nicht „go west“ schielen soll.

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Drei Tage später verkündet Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag, 27. Februar, im Bundestag: Wir werden die Bundeswehr mit einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden ausstatten und die – übrigens seit 2002 bestehende – Nato-Vereinbarung, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung und Rüstung auszugeben, übererfüllen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) schwärmt gar von einer Bundeswehr, die eines gar nicht fernen Tages die stärkste Armee Europas sein wird. Nun gut, Lindner hat wohl noch nicht registriert, dass die stärksten Armeen West- und Mitteleuropas wohl auf längere Sicht die Armeen Frankreich und Großbritanniens sein werden. Beide sind Atommächte und auch deshalb neben den USA, Russland und China ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates.

Zu den 100 Milliarden: Sie sind abzüglich Mehrwertsteuer effektiv 84 Milliarden und inklusive Inflation wohl nur 65 Milliarden wert. Und der 2-Prozent-Anteil am BIP? Dieses Doppelpaket ist längst überfällig. Denn es ist beileibe kein Kalauer mehr, dass die Bundeswehr eine Armee ist, in der viele Panzer nicht fahren, Schiffe nicht schwimmen oder tauchen und Kampfjets samt Hubschraubern – weil nicht einsatzfähig – am Boden bleiben. Den Kalauer der Jahre 2014 bis 2019, dass die Bundeswehr weniger einsatzfähige Panzer habe, als Verteidigungsministern Ursula von der Leyen Kinder hat, lassen wir als Realsatire so stehen.

Nun also 100 Milliarden und 2 Prozent Anteil am BIP: Widersprüche gibt es bereits bei den seit Jahrzehnten stramm pazifistischen Roten und Grünen. Es knirscht dort im Gebälk. Und wenn FDP-Finanzminister Christian Lindner diese 100 Milliarden als „Sondervermögen“ verkündet hat, wird ihm das auch in seiner Partei auf die Füße fallen. Denn was bitte bedeutet „Sondervermögen“? Es sind neue Schulden!

Schnell haben die Tricksereien begonnen. Am Mittwoch, 16. März, will Lindner bereits einen Haushaltsentwurf für die Jahre bis 2026 vorlegen. Mit heißer Nadel gestrickt. Für die Verteidigung sind bis dahin viermal 50,1 Milliarden pro Jahr vorgesehen. Im Haushaltsjahr 2021 sind es rund 47 Milliarden. 50 Milliarden – das ist eine Größenordnung, mit der die 2-Prozent-Vereinbarung aller Nato-Mitglieder nicht erfüllbar ist. Allein mit dieser Größenordnung wird Deutschland bei einem BIP-Anteil aktuell bestenfalls bei rund 1,6 Prozent verharren. Derzeit liegen unsere Verteidigungsausgaben bei 1,45 bis 1,55 Prozent des BIP – je nach Art der Berechnung.

Nun also die 100 Milliarden: Wir wissen nicht, die Bundesregierung weiß es wohl auch nicht, für welchen Zeitraum diese Summe gedacht ist. Für die laufende Legislaturperiode bis formal Ende 2015? Oder – was im Interesse der Planbarkeit sinnvoll wäre – über 2025/2026 hinaus? Oder auf 10 Jahre gestreckt?

Bringen die 100 Milliarden etwas?

Ja, sie bringen etwas, wenn man berücksichtigt, dass man viel Geld in die Hand nehmen muss, um die Bundeswehr personell aufzurüsten. Es fehlt in Zeiten hybrider Kriegsführung an Bewerbern vor allem im Bereich IT.

Ja, die 100 Milliarden bringen etwas, wenn man endlich eine ordentliche Ersatzteil- und Munitionsbevorratung und eine passende Wartung aller Gerätschaften einberechnet und unter Vertrag nimmt.

Ja, die 100 Milliarden bringen etwas, wenn man das monströse und mit zehntausend Beschäftigten aufgeblähte Koblenzer Beschaffungsamt durchforstet und dynamisiert.

Ja, die 100 Milliarden bringen etwas, wenn man von „Goldrand“-Projekten wie einem gemeinsamen deutsch-französischen Kampfjet Abstand nimmt und – wie nun urplötzlich geplant und nicht eben zur Freude der Franzosen – bewährte Systeme wie mit 35 Stück den US-Kampfflieger F-35 anschafft. Kostenpunkt: 3,5 Milliarden.

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Ja, die 100 Milliarden bringen etwas, wenn die Planer der Bundeswehr aufhören, dem letzten technologischen Schrei hinterherzujagen, statt robuste Waffensysteme zu bestellen. Am Ende kommen nämlich anfällige Systeme heraus, wie etwa der neue Schützenpanzer Puma, bei dem von den 71 ersten Exemplaren schon nach einem Jahr nur noch 27 funktionierten. Oder das neue Transportflugzeug A400M „Atlas“, von dem 2021 nur zehn der dreißig Maschinen einsatzfähig waren. Am düstersten war es jedoch 2020 bei den Hubschraubern, als nur 23 Prozent der neuen Transporthelikopter NH 90 und sogar nur 18 Prozent der neuen Kampfhubschrauber UH „Tiger“ flogen.

Ja, die 100 Milliarden bringen etwas, wenn man, ohne sich einer Privatisierung der Bundeswehr auszuliefern, überlegt, ob nicht manch ziviles Objekt günstiger sein könnte als ein rein militärisches. Siehe etwa die beiden Marine-Tankschiffe „Rhön“ und „Spessart“, die als Ein-Kammer-Tanker nicht mehr einsatzfähig sind und für rund 900 Millionen durch neue militärische Schiffe ersetzt werden sollen. Zivile Doppelhüllentanker wären um ein Vielfaches preiswerter.

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Alles in allem: Gießkanne ist ab sofort „out“. Und ein 100-Milliarden-Feuerwerk kann es auch nicht geben. Es wäre ein Strohfeuer. Jetzt ist langer Atem gefragt. Und zwar über die laufende Legislaturperiode hinaus. Wenn denn der militante deutsche Pazifismus nach einem wie auch immer gearteten Ausgang des Krieges Russlands gegen die Ukraine nicht wieder erwacht.

Und es ist eine nachhaltige Prioritätensetzung verlangt. Dass der „Tornado“ jetzt durch eine bewährte und auf dem Markt erhältliche, atomwaffenfähige F-35 ersetzt werden soll, ist ein erster Schritt. Zum Gebot der Stunde gehört aber – noch vor der Luftabwehr – auch eine Priorisierung des Heeres. Schließlich soll die Bundeswehr bis 2031 drei vollausgestattete Divisionen mit acht bis zehn Kampfbrigaden zur Verfügung stellen können. Aktuell kann die Bundeswehr nicht einmal das für 2023 angestrebte Ziel einer VJTF-Brigade erfüllen. (VJTF – Very High Readiness Joint Task Force der NATO Response Force.) Zudem haben die Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan und Mail mit rund 3.000 „Mann“ gezeigt, dass die Bundeswehr bereits damit am Limit ihrer Kräfte angelangt war. Es gibt jedenfalls viel zu tun!