Tichys Einblick

Verwirrende Konjunktursignale und zwei scheinbar gegensätzliche Wahrheiten

Befinden wir uns in einer historisch einmaligen Rezession oder bereits in einem Aufschwung? Beides. Es kommt nur auf die Blickrichtung an.

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Die Öffentlichkeit, soweit sie Wirtschaftsnachrichten liest, ist verwirrt. Ständig kommen neue statistische Meldungen über den aktuellen Stand und vor allem das zukünftige Wachstum der deutschen Wirtschaft, die, stellt man sie nebeneinander, sich zu widersprechen scheinen. So überschreibt das ifo-Institut, seit alters her bekannt für handwerklich solide Wirtschaftsprognosen (wie die übrigen big five Institute natürlich auch) seine „Sommerprognose 2020“ richtungsweisend mit: „Deutsche Wirtschaft – es geht wieder aufwärts“! Zeitgleich erwartet die EU-Kommission in ihrer neuesten Konjunkturschätzung, dass die Rezession noch tiefer ausfallen werde als erwartet.

Ja was denn nun, Aufschwung oder historisch tiefe Rezession? Ist das Glas nun halbvoll, oder halbleer? Wer hat Recht, wo liegt die Wahrheit? 

Die Wahrheit liegt, wie immer, in der Mitte: Beide haben recht, sowohl die EU-Ökonomen wie auch die ifo-Prognostiker. Nur jeder jeweils von einem anderen Betrachtungswinkel aus und mit einer anderen Messlatte. 

Dass die Meinungen unter Prognostikern und Analysten allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung so extremen auseinanderlaufen, ist selten – und der Coronakrise zuzuschreiben, nicht Kunstfehlern von Empirikern. Der Grund dafür ist einfach. Eine solche, exogene und globale Gesundheitskrise mit derart fatalen Auswirkungen hat die Weltwirtschaft bislang noch nicht erlebt. Selbst der greise Nobelpreisträger Edmund Phelps, während der Großen Depression Anfang der 1930er Jahre aufgewachsen, kann sich an nichts Vergleichbares erinnern. Denn damals war nicht ein exogener Killer-Virus Schock, quasi aus dem Nichts, Ursache für den Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Die Große Depression war im Ergebnis hausgemacht, Folge einer Vielzahl wirtschaftspolitischer Fehler aller Akteure in den damaligen Industriestaaten.

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Heute weiß die Politik, wie solche systemendogenen Depressionen wirksam vermieden werden können. Das Jahr 2009 ist beispielhaft dafür. Völlig anders die Bekämpfung der Corona-Krise: „Keiner hat ein Handbuch, was man in so einem Fall tun sollte“! (Edmund Phelps). Hier gab es für die Politik keine Blaupause, sie musste bei der Bekämpfung der Corona-Krise absolutes Neuland betreten, in jedem Fall politisch „vermintes Gelände“. 

Gemessen daran hat die Wirtschaftspolitik in Deutschland, wie auch in den meisten Industriestaaten, frühzeitig, klug und bedächtig auf den Ausbruch der Corona-Krise reagiert, sogar in Italien. Mit Ausnahme von Brasilien und Nordkorea – hier ist der Lockdown des öffentlichen Lebens quasi Normalität – wurden alle großen Volkswirtschaften nahezu auf Null gebracht. Somit kam die Wirtschaftsdynamik schlagartig im zweiten Quartal 2020 zum Stillstand. Mit der Konsequenz großer volkswirtschaftlicher Wachstumseinbußen. Das BIP brach weltweit ein, in der Automobilindustrie fiel die Produktion um 70-80 Prozent unter das Vorjahresniveau. Nach Schätzungen der EU-Kommission schrumpfte das BIP vom ersten zum zweiten Quartal 2020 in der EU in laufender Rate um 13,1 Prozent (UK: – 18,2 Prozent; Deutschland: – 9,7 Prozent). Nach Gepflogenheiten der angelsächsischen Statistik hätte dies auf Jahresrate hochgerechnet einem Wachstumseinbruch von 52,4 Prozent entsprochen, das BIP hätte sich also aufgrund der Corona Krise gegenüber 2019 halbiert. Zum Glück setzte mit der allmählichen Lockerung im Juni/Juli das Wachstum wieder ein. Allerdings von historisch niedrigem Niveau aus.

Und genau dieser abrupte Einbruchseffekt im ersten Halbjahr 2020 führte zu BIP- Wachstumsverlusten, die sich trotz Konjunkturerholung im zweiten Halbjahr 2020 und noch bis ins Jahr 2021 hinein nicht mehr aufholen lassen. Also prognostizierten die EU-Statistiker zu Recht, dass die Wirtschaftsleistung in Europa im Gesamtjahr 2020 um 8,3 Prozent sinken wird (darunter: Italien: -11,2 %, Spanien: -10,0%, Frankreich: – 10,6%, Schweden: – 5,3%), dass also die Rezession in Europa stärker als erwartet (SZ) sein wird. 

Auf das BIP-Jahresergebnis gesehen hat die EU-Kommission mit ihrer Rezessionsaussage 2020 also Recht.

Deutschland kommt dabei 2020 mit einem Wachstumsverlust von lediglich -6,3% noch vergleichsweise glimpflich weg. Das ist für den Laien umso so unverständlicher, als die globale Krise die Bundesrepublik als Exportland Nr. 1. in der Weltwirtschaft besonders hart trifft. Denn mit der Weltproduktion ist auch der Welthandel nahezu kollabiert. 

Der dramatische Einbruch der deutschen Exporte seit März setzt sich im Mai fort: Der Wert der Warenausfuhren sank im Mai gegenüber dem Vorjahresmonat massiv um 29,7 Prozent auf 80,3 Milliarden Euro. Und die Nordseehäfen wurden fast arbeitslos (Schaubild)

Trotzdem hat auch das ifo-Institut mit seiner Sommerprognose recht, „…es geht wieder aufwärts in der deutschen Wirtschaft“! 

Trotz Exporteinbruch, zunehmender Arbeitslosigkeit und rekordhoher Kurzarbeit, und trotz der Furcht vor einer Pleitewelle in der Wirtschaft, vor allem bei Selbständigen und kleinen und mittleren Unternehmen, steigt das Konjunkturbarometer nach Ende des Lockdown seit Juni in der deutschen Wirtschaft deutlich an, hellt sich die Stimmung auf. Auch wenn die Daten der amtlichen Konjunkturindikatoren das noch nicht anzeigen (können).

Der wesentliche Grund für die Erholung liegt im Wechsel der Wachstumskäfte vom Export zur Binnennachfrage. Und genau auf die Inlandsabsorption hat sich die deutsche Wirtschaftspolitik, Arm in Arm mit Christine Lagarde von der EZB, konzentriert – natürlich auch, weil sie auf die Wirtschaft in China oder USA als Großabnehmer deutscher Exporte keinen Einfluss hat. Und die Maßnahmen zeigen Wirkung: Wie seriöse Berechnungen zeigen, verlieren 80 Prozent der Deutschen trotz Produktionsstillstand kein Einkommen und können daher dazu mit ihrem Konsum zum Ende der Krise beitragen.

Fakt ist: Der Konjunkturaufschwung in der deutschen Wirtschaft läuft, und trotzdem erlebt die Bundesrepublik in 2020 gleichzeitig einen historisch beispiellosen Wachstumseinbruch.