Tichys Einblick
Machtkampf bei Volkswagen

Diess vs. Osterloh: Dinner for one in Wolfsburg

Es geht nicht nur um akute unternehmensstrategische Fragen. Der Streit zwischen Vorstandschef Herbert Diess und Betriebsratschef Bernd Osterloh berührt den Kern der Geschichte des Volkswagenkonzerns, in dem das Kapital nie mehr zu sagen hatte als die Arbeitnehmer - im Gegensatz zum neuen Vorbild Tesla.

Herbert Diess, Vorstandschef des VW-Konzerns

imago images / Jan Huebner

Das Jahr geht zu Ende, Silvester droht schon. Und damit auch auf allen TV-Kanälen der obligatorische Jahresausklangs-Sketch mit der Dinner Party für eine einzige 90-Jährige, bedient von ihrem Butler. 

Etwas Ähnliches spielt sich gerade in der deutschen Autoindustrie ab, allegorisch quasi. Nur dass das Ganze nicht auf einer Theaterbühne in England stattfindet, sondern in der Konzernzentrale der Volkswagen Aktiengesellschaft im niedersächsischen Wolfsburg. Und die Hauptfiguren im Spiel nicht Miss Sophie und ihr Butler James sind, sondern Herbert Diess und Bernd Osterloh heißen. Und, um die Rahmenhandlung zu komplettieren, Geburtstag wurde auch gefeiert, nämlich der 75. des Betriebsrates von Volkswagen. Und der Vollständigkeit halber und weil beide Ereignisse unmittelbar und kausal zusammengehören, sei hier erwähnt: auch jener der Stadt Wolfsburg. 

Das ist wichtig, will man die Handlung verstehen!

Der heute weltgrößte Autobauer VW wurde am 28. Mai 1937 als „Gesellschaft zur Vorbereitung des Volkswagens mbH“ in Berlin gegründet. Zielsetzung: Bau von autobahntauglichen Autos fürs Volk mit Höchstgeschwindigkeit bis 100 km/h. Die Gesellschaft wurde 1938 in „Volkswagenwerk G.m.b.H.“ umbenannt. Der Ort, an dem der Aufbau auf der grünen Wiese stattfand, erhielt damals wegen der Ortschaft Fallersleben in der Nähe vom NS-Regime den Namen „Stadt des Kdf-Wagens bei Fallersleben“, wobei Kdf für „Kraft durch Freude“ stand, eine nationalsozialistische Unterorganisation der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF), die an die Stelle von Gewerkschaften nach deren Zerschlagung trat.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging die Zuständigkeit für das Volkswagenwerk auf die britische Militärregierung in der britischen Besatzungszone über. Die Stadt des Kdf-Wagens bei Fallersleben wurde am 26. Mai 1945 in Wolfsburg umbenannt – ihr offizieller Geburtstag. Das Werk selber nahm ab Mitte Juni 1945 als „Wolfsburg Motor Works“ wieder die Arbeit auf, denn nur 20 Prozent der Werksbauten waren zerstört, 93 Prozent der Produktionsanlagen noch einsatzfähig. Werksleiter blieb Anton Piëch, der Vater von Ferdinand Piech. 

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1948 wurde Heinrich Nordhoff, der bis Kriegsende Leiter des Opelwerks Brandenburg war, als Nachfolger eingesetzt. 1949 überführte die britische Militärregierung das Unternehmen in die Treuhandschaft des Landes Niedersachsen, verbunden mit der Auflage, die Eigentümerrechte gemeinsam mit dem Bund auszuüben und den anderen Bundesländern sowie den Gewerkschaften großen Einfluss einzuräumen. Das Unternehmen wurde von da an als „Volkswagenwerk G.m.b.H.“ geführt. 1949 übergab die britische Militärregierung das Werk in niedersächsische und bundesdeutsche Verantwortlichkeit. Das Volkswagenwerk wurde 1960 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und teilprivatisiert. 1985 beschloss die die Hauptversammlung die Umfirmierung in „Volkswagen AG“.

Das Wesentliche an dieser Historie ist die Erkenntnis, dass die Volkswagen AG seit ihrer Gründung ein Kind der Arbeiterseite war, nicht des Kapitals. Und vom Grundsatz her immer ungeschrieben in der Verantwortlichkeit der Arbeitnehmer und deren Organisation, heute IG Metall, gelegen hatte, nicht in derjenigen der Kapitalgeber, wer auch immer sie waren. An diesem Zustand änderte sich auch nichts, seit die Familienstämme Piech und Porsche ab 2009 indirekt als Eigentümer der Volkswagen AG fungieren. Auch die Vorstandsvorsitzenden seit Heinrich Nordhoff und auch nach dem Wechsel von der Publikums AG in eine Familien AG von Bernd Pischetsrieder, Martin Winterkorn bis Matthias Müller suchten immer  Abstimmung und Konsens mit dem Betriebsrat, seit Klaus Volkerts unrühmlichem Abgang im Jahre 2005 in der gewichtigen Person von Bernd Osterloh.

Dann kam Herbert Diess – und alles sollte anders werden. Herbert Diess, ein österreichischer Manager, wurde 2015 von Ferdinand Piëch von BMW als Chef der zentralen Marke Volkswagen abgeworben. Im April 2018 löste Diess Matthias Müller als Vorsitzender des Vorstands der Volkswagen AG ab. Zeitgleich wurde Gewerkschaftsmann Gunnar Kilian, der als Assistent von Ferdinand Piëch in Salzburg in der Vermögensverwaltung tätig war, als Personalvorstand nach Wolfsburg zurückbeordert. Eine Schlüsselposition im Verhältnis zu Belegschaft und vor allem Betriebsrat Osterloh. 

Faktisch war damit die Vormachtstellung des Betriebsrates gesichert. Und der Betriebsfrieden auch, wäre da nicht die ehrgeizige und öffentliche Verkündigung von Diess kurz nach Amtsantritt gewesen, zuerst die Marke, danach später den Konzern radikal umzubauen. Für den Umbau des Unternehmens veranschlagte er etwa zwei Autogenerationen (rund 14 Jahre). Dazu beabsichtigt Diess zweierlei:

  1. Er möchte „alte verkrustete Strukturen aufbrechen und das Unternehmen agiler und moderner aufstellen.“ (O-Ton Diess). Als „kreativer Zerstörer“ im Sinne seines Ex-Landsmanns Joseph Schumpeter möchte er die Dinge in Unruhe versetzen, weil er sie seiner Meinung nach nur dann verändern, verbessern, nach vorne bringen kann. Harmonie ist bei (D)ies(s)er Einstellung nicht zu erwarten – damit ist Diess schon bei BMW gescheitert. Seit Kurt Golda und der Übernahme von BMW durch die Quandt-Familie Anfang der 1960er  herrscht dort bestes Einvernehmen zwischen Arbeit und Kapital – bis zum heutigen Tage!
  2. Schwerer wiegt der strategische Kehrtschwenk. Diess will nach dem VW-Abgasskandal sowie als Folge der CO2-Umweltkritik an den Verbrennermotoren die Antriebstechnik im VW-Konzern, vor allem der Kernmarke Volkswagen, die hauptsächlich auf Verbrennungsmotoren basiert, durch Elektroantriebe ablösen. Das Augenmerk geht dabei in Richtung Batterieantrieb (BEV), der einen Kostenanteil von 30–50 Prozent des Fahrzeugwertes ausmachen wird, die aber zunächst als Wertschöpfung dem Unternehmen, und damit an Arbeitsplätzen verloren gehen dürften. Diess verkündete, VW werde ab 2026 keine Verbrennermotoren mehr entwickeln, ab 2040 keine Verbrennerautos mehr produzieren. Vorausgesetzt der Markt spielt mit und folgt den Diesschen Wunschvorstellungen.…

Kurzgefasst: Diess „… will Volkswagen von einem Autokonzern mit (noch!, Anmerk. des Verf.) vielen Marken zu einem Digitalunternehmen mit fahrenden Computern machen, so wie es Tesla ist, sein großes Vorbild“ (Max Hägler, Süddeutsche Zeitung) – also Schicht im Verbrennerschacht an der Aller! 

Beide Ziele: Umbau der Konzernorganisation ebenso wie radikale Aufgabe der Verbrennertechnologie, dem Fundament des ganzen Konzerns, und Schwenk zur umstrittenen Elektromobilität mussten zwangsläufig zu einem heftigen Konflikt mit den „heimlichen Herren des Konzerns“ führen, dem Betriebsrat und der Arbeiterschaft. Denn beide Strategien würden Zigtausende Arbeitsplätze kosten und letztlich den ganzen Konzern mit einer marktfremden Elektroautomobilität in seiner Existenz gefährden.  

Mit diesen Zielvorgaben stellt der Vorstandsvorsitzende Herbert Diess selber seine Existenz bei VW in Frage!

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Zum ersten Eklat zwischen Diess und Aufsichtsrat und Betriebsratschef Osterloh kam es im Frühjahr 2020, als Diess sich öffentlich beklagte, das Unternehmensinterna ständig nach außen drängen und er seinen Aufsitzräten „Rechtsbruch“ vorwarf – ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Nur durch eine öffentliche Entschuldigung vermochte er seinen Vorsitz zu retten, die Führung der Kernmarke Volkswagen musste er allerdings abgeben. Ebenso seinen Stammplatz in den Talkshows öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten. 

Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgte sogleich. Im Vorfeld zur jüngsten Aufsichtsratssitzung hat er in seinem LinkedIn-Profil laut Süddeutsche Zeitung eine Analyse des VW-Konzerns gepostet, die es in sich hat. Volkswagen müsse sich wandeln „.. von einer Sammlung wertvoller Marken zu einem Digitalunternehmen…“ nach dem Vorbild Teslas. Die entscheidende Frage sei: „Wie bringen wir diesen riesigen Konzern mit all seinen Stakeholdern trotz der heutigen Erfolge dazu, jetzt umzudenken, radikal „um-zu-priorisieren“ und neue Fähigkeiten anzustreben?“ VW sei kein schnelles und agiles Start-up sondern habe „… über Jahrzehnte gewachsene Strukturen und Prozesse. Viele verkrustet und kompliziert. Und vor allem unterschiedlichste Interessen und politische Agenden im Konzern.“ Er sehe es als seine Aufgabe an, „…diesen Tanker erfolgreich in die Zukunft zu bringen.“

Angesprochen mit seinem Monitum hat Diess mit Absicht unmittelbar den Betriebsrat, vor allem den machtbewussten Bernd Osterloh, mit dem er seit seinem Konzerneintritt schon wiederholt öffentliche Scharmützel ausgetragen hatte. Der Analyse vorausgegangen war ein weiterer Eklat. Vor kurzem wurde in einer feierlichen Feierstunde das 75-jährige Bestehen des Betriebsrates von Volkswagen gefeiert. Und alle alle kamen sie: der frühere Bundeskanzler und Ministerpräsident Gerhard Schröder, der die berühmte Curry-Wurst aus der volkswageneigenen Fleischerei liebt, die zweite Vorsitzende der IG Metall Christiane Benner und höchste Repräsentanten des Landes Niedersachsen natürlich. Der einzige, der durch Abwesenheit glänzte, war Konzern-Chef Herbert Diess – ein Affront sondergleichen.

Vorausgegangen war ein offener Konflikt zwischen Konzernführung und Betriebsrat um die künftige Besetzung des Vorstands. Diess hatte für zwei vakante Vorstandsposten ihm genehme Kandidaten nominiert, die aber von der Betriebsratsseite im Aufsichtsrat abgelehnt wurden. Daraufhin war die Auseinandersetzung zwischen Diess und Osterloh erneut eskaliert: Der Vorstandschef hielt dem Betriebsratschef Blockadepolitik vor, gerade auch bei weiteren Sanierungsschritten an den deutschen VW-Standorten mit hohen Produktionskosten. Osterloh wiederum wies die Kritik als gegenstandslos zurück. 

Damit war Diess schon wieder mitten in einem Machtkampf, diesmal aber ultimativ, nachdem er ein halbes Jahr zuvor mit Ach und Krach seinen Job retten konnte.  Er wollte es wissen und stellte beim Aufsichtsrat die Vertrauensfrage. Er beantragte kurzerhand neben der Bestallung seiner Wunschvorstände auch die vorzeitige Verlängerung seines Dienstvertrages, der regulär erst Mitte 2023 auslaufen würde und von daher erst 2022 auf die Tagesordnung käme.

Damit ist die Machtfrage bei VW zwischen Konzernchef und Arbeitnehmerseite  erneut mit aller Schärfe entbrannt und auf die Ebene des Aufsichtsrats verlagert – ein Showdown mit ungewissem Ausgang. Hat sich Vorstandschef Diess verpokert, will er gehen, oder muss er gehen. Hopp oder Topp? Und wenn er ginge, wer würde sein Nachfolger? Potentielle Kandidaten sind weder in Sicht noch in Lauerstellung. Und wie kann wer von beiden Kontrahenten sein Gesicht retten? Die Quadratur des Kreises.

Der Aufsichtsrat zeigte sich von dieser Entwicklung völlig überrascht und erwies sich entgegen seiner Titulatur als „ratlos“. Eine Entscheidung über die anstehenden Personalfragen wurde erst einmal auf eine Sondersitzung am Dienstagabend vertagt. Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötzsch hatte die Sitzung wegen der Brisanz auf den engsten Zirkel beschränkt und trotz Coronavirus um persönliches Erscheinen gebeten.

Die Sitzung des Spitzengremiums dauerte insgesamt drei Stunden. Trotz der Corona-Pandemie war das Präsidium zu einem Präsenztreffen in Wolfsburg zusammengekommen. Die Präsidiumsmitglieder hatten die direkte Aussprache einer Digitalkonferenz vorgezogen, nichts dringt nach draußen. 

Am Ende ging das Gremium auseinander wie weiland die Schützen in Hornberg: Herbert Diess bleibt zunächst Vorstandsvorsitzender des Volkswagen-Konzerns. Über seine Vertragsverlängerung und die Besetzung verschiedener freier Posten im Konzernvorstand wurden keine Beschlüsse gefasst. Man werde weiter beraten. Das verlautete am Dienstagabend nach einer Sitzung des Aufsichtsratspräsidiums in Wolfsburg aus Konzernkreisen.

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