Tichys Einblick
Autoindustrie liegt in Trümmern:

Das Wachstum ist vorbei, aber der Stellenwert des Autos wird steigen

Nach Aufhebung der Corona-Maßnahmen werden Nachholeffekte und aufgestaute Nachfrage kurzfristig sogar einen Boom der Autoindustrie vortäuschen. Aber die langfristigen Folgen für die Branche werden sehr schmerzhaft. Doch es gibt auch positive Aspekte der Krise. Von Helmut Becker

imago Images

Niemand konnte die fatalen Folgen erahnen, als der Covid-19-Ausbruch Ende 2019 in China seinen Anfang nahm und sich innerhalb weniger Wochen zur weltweiten Pandemie auswuchs. Deren Bekämpfung stürzte sukzessive die gesamte Welt, vor allem die westlichen Industriestaaten, in eine beispiellose Wirtschaftskrise. Auch die Automobilindustrie wurde auf allen Kontinenten und Märkten eiskalt erwischt.  Nachfrage und Produktion brachen ein, Bänder standen still, Verkaufsräume mussten geschlossen bleiben, der Fahrzeugabsatz kam nahezu vollständig zum Erliegen. Komplette Werkschließungen, Kurzarbeit und Entlassungen auf breiter Front waren die Folge.   

Betroffen waren alle, vor allem aber die deutschen Automobilhersteller und Zulieferer. Diese waren durch hohe Investition-Vorleistungen als Folge der Umstellung von Verbrenner- auf Elektromobilität sowie drohende Strafzahlungen in Milliardenhöhe wegen Überschreitung der Brüsseler Emissionsvorgaben ohnehin schon stark gebeutelt. Und nun der Totalausfall der Geschäftstätigkeit wegen der Corona Pandemie. 

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Mit einer Exportquote von über siebzig Prozent, – davon fast die Hälfte China zuzurechnen –  ist die deutsche Automobilindustrie mehr als alle ausländischen Wettbewerber von einer guten Exportkonjunktur und ungestörtem Welthandel abhängig. Dreh- und Angelpunkt bei allen ist innerhalb von nur zehn Jahren das Corona-Ursprungsland China geworden, das mit 26 Millionen Neuzulassungen inzwischen ein Drittel des Weltmarktes ausmacht. Deutschlands Autohersteller Nr. 1., Volkswagen verkauft und produziert dort mit rd. fünf Millionen Automobilen fast die Hälfte seines Jahresabsatzes; und selbst die Nobelhersteller BMW und Daimler immerhin jeweils ein Drittel. Bestes Gegenbeispiel als Gewinner des Markteinbruchs: der französische Autokonzern PSA, der weder in China noch den USA nennenswerte Stückzahlen verkauft. Und entsprechend von der dortigen Absatzkrise verschont blieb.

Die Vollbremsung der Autoindustrie als Schlüsselindustrie hatte vor allem für Einkommen und Beschäftigung der deutschen Wirtschaft fatale Folgen: Je nach Szenario werden die Volkswirtschaftlichen BIP-Verluste für Deutschland mit bis zu -20 Prozent berechnet. Es ist unmöglich vor diesem Hintergrund, konkrete Verluste der deutschen Autoindustrie seriös zu berechnen. Die Krise ist erstens noch nicht vorüber und zweitens vermag niemand genau zu sagen, wie lange sie letztlich dauert. Statistisch sicher ist nur, dass allein in Europa direkt und indirekt zurechenbar elf Millionen, in Deutschland laut VDA zwei Millionen Beschäftigte an der Autobranche hängen. Unterstellt man als Folge des völligen Lock-down rechnerisch Tagesverluste über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg von einer Milliarde Euro, so dürften im günstigsten Fall Einbußen von etwa 100 Milliarden Euro zu Buche schlagen. 

Fakt ist: Die Autoindustrie steckt im Frühjahr 2020 in der tiefsten Rezession seit 1929/30, global wie in Deutschland. An diesem düsteren Bild ändert auch nichts, dass vereinzelt Hersteller, wie Kia in der Slowakei, gerade jetzt einen neuen Standort eröffnen, weil der nicht mehr verschiebbar ist. Selbst der spektakuläre Fabrikneubau von Tesla in Brandenburg ist bislang wegen Nicht-Erfüllung behördlicher Auflagen zum Umweltschutz über die Waldrodung nicht hinausgekommen. 

Überspitzt formuliert liegt die deutsche Autoindustrie gegenwärtig in Trümmern! Und zwar ohne eigenes Verschulden, plötzlich und aus heiterem Himmel! Das trifft umso härter, als viele Hersteller und Zulieferer sich im weltweiten Aufschwung der Automobilkonjunktur nach der Finanzkrise 2010 zu Weltmarktchampions entwickelt und für sakrosankt gehalten haben: Mit historischen Bestmarken in allen Fächern: Absatz, Umsatz und Gewinn. Und in ihren Planungen der Vorstellung anhingen, diese märchenhafte Entwicklung könne weiter anhalten. Was dazu führte, dass viele Milliarden Euro an Vorleistungen in autonomes Fahren, Elektroautos und „Schöner Wohnen“ investiert wurden, die nunmehr in der tiefen Krise dauerhaft Liquidität und Bilanzen belasten, teilweise sogar wie bei namhaften Zulieferern die Existenz bedrohen.

Die große Frage ist nicht, ob die Branche überleben und sich von der Krise erholen wird. Das wird sie. Die Frage ist vielmehr, wie wird diese Erholung aussehen, und was kommt auf die Autoindustrie zu und was bleibt nach der Krise von ihr übrig? Wiederaufschwung nach früherem Muster, also Business as usal? Oder hinterlässt die Corona Krise auch bei ihr, ähnlich wie in der Luftfahrt, so tiefe Schleifspuren, dass am Ende ein völlig neues Geschäftsmodell und völlig neue Strukturen in der Autoindustrie stehen. Was sind die Stolpersteine beim Wiederaufbau der deutschen Autoindustrie? Worauf muss sich die deutsche Automobilindustrie einstellen?

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Die üblichen isolierten Trendextrapolationen aus der Beraterszene oder den hauseigenen Vertriebsexperten helfen bei Antworten auf diese Fragen nicht weiter. Diesmal ist alles anders: Weder die Autoproduzenten noch die Nachfrage der Kunden entwickeln sich absehbar nach dem üblichen Konjunkturschema, sondern sind mehr dann je abhängig von den externen Rahmenbedingungen: vom BIP- Wirtschaftswachstum, von Einkommens- und Kaufkraftentwicklung sowie der Beschäftigung, von den künftigen Käuferpräferenzen, auch angesichts verschärfter staatlicher Gesundheitsvorschriften, und vor allem den künftig strukturell höheren Ausgaben aller für Gesundheit und Vor- und Fürsorge; bei Einmalzahlungen für die alltäglichen „Helden im Corona-Kampf“ wird es nicht bleiben. Und über allem schwebt das Damoklesschwert zusätzlicher Belastungen in der Steuerfaust des Staates als Folge der gigantischen Neuverschuldung in Abwehr des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in allen Partnerländern, allerdings mit dem Unterschied, dass diese ohnehin mit wesentlich höherer Staatsverschuldung in die Krise gestartet sind.

Der gravierenden gesamtwirtschaftlichen wie branchenspezifischen Stolpersteine beim Wiederaufbau sind viele. Mit Konzentration auf und für die deutsche Autoindustrie sind die wichtigsten nachfolgend in vier Thesen zusammengefasst:

  1. Das automobile Wachstumszeitalter ist vorbei, der Weltautomobilmarkt wächst nicht mehr, sondern schrumpft eher, in Summe und fast in allen Einzelmärkten. Das gilt auch in Deutschland. Absatzvolumen wie Absatzstruktur werden sich nachhaltig verändern! Dafür sind folgende Gründe maßgebend:
  • Das staatliche Corona Rettungsprogramm in historisch einmaliger Höhe von 1.200.000.000,00 Euro ist ausschließlich über Verschuldung finanziert. Unabhängig davon, mit welchen Instrumenten diese Staatsschulden in den nächsten Jahrzehnten abgetragen werden, hat das zur Folge, dass 
    1. sämtliche Staatsausgaben über Jahre auf ein Minimum reduziert werden müssen. Alle staatlichen Ausgabenprojekte kommen auf den Prüfstand, z.B. Infrastrukturvorleistungen für E-Mobilität (Tankstellennetz) oder Autonomes fahren/Roboterautos (5 G /Vernetzung etc.) werden als „Luxus“-Ausgaben dem Rotstift zum Opfer fallen. Sinkende Emissionsbelastungen sowie „grüne“ Brennstoffe erlauben Fortbestand einer verbesserten motorischen Verbrennertechnologie; zusätzliche Verwerfungen in der automobilen Produktion und Beschäftigung kann der Staat somit verhindern.
    2. Der Staat muss seine Steuereinnahmen zur Tilgung und Verzinsung des Staatsschuldenberges spürbar erhöhen. Kaufkraftentzug beim Verbraucher ebenso wie Kürzung von Subventionen im Unternehmenssektor sind die Folge. Private Autokäufern müssen sich auf schmalere Auto-Budgets einstellen, gewerbliche Nutzer – immerhin 60 Prozent der jährlichen Autokunden – auf veränderte Dienstwagenregelungen einstellen. Sinkende Weltmarktpreise für Erdöl erlauben Drehungen an der Mineralölsteuer-Schraube.
  • Die Abdeckung höherer Versorge- wie Gesundheitsrisiken, gleich ob bei privaten Haushalten, beim Staat oder in der Industrie, zieht höhere volkswirtschaftliche Kosten nach sich. Kaufkraftverluste im privaten Sektor sind unvermeidlich. Das trifft strukturell auch den globalen Automobilabsatz und damit auch alle Hersteller und Zulieferer der Branche nebst sonstiger Beteiligter. 
  1. Schrumpfende Absatzvolumen und schrumpfende Gewinnmargen verschärfen den Auslesewettbewerb! Das hat weitreichende Folgen für Hersteller und Zulieferer.
  • Corona hat dem Zeitalter des unbegrenzten Wachstums, auch der Automobilmärkte, vorerst ein Ende gesetzt. Die bisherige Wachstumsphilosophie als Branchenideologie ist obsolet geworden, Fehlinvestitionen können in Zukunft noch weniger als bisher durch Umsatzwachstum verschleiert oder kompensiert werden. Hohe Vorleistungsausgaben ohne sicheren Kapitalrückfluss für „weiter, höher, schneller“, nicht zukunftsfähige Antriebstechnologien, autonom fahrende Autos oder bloße Selbstdarstellung und Imagepflege, die alle nicht rechenbar zu finanziellem Mehrwert führen und/oder Kundenbedürfnissen dienen, kommen auf den Prüfstand.
  • Steigender Wettbewerbsdruck zieht Auslese und Konzentration auf der Angebotsseite nach sich. Das trifft alle Glieder der Wertschöpfungskette. Potente Kapitalinvestoren stehen als Aufkäufer bereit. Von Nichteigentümern geführte Leuchtturmunternehmen – ihrer Branche und der gesamten Volkswirtschaft – sind hochgradig gefährdet. Da ebenso systemrelevant wie die Versorgung mit Atemschutzmasken oder Dienstleistungen im Handel und der Medizin muss der Staat eine Abwanderung oder Zerschlagung verhindern.
  1. Die Coronapandemie hat der Globalisierung und der globalen Ausdifferenzierung der automobilen Wertschöpfungsketten Grenzen aufgezeigt. 

Der Prozess einer international fortlaufenden Arbeitsteilung hat den Höhepunkt überschritten, Wertschöpfungsketten lassen sich überregional nicht weiter ausdehnen und -dünnen, ohne ernsthafte lokale Versorgungsrisiken einzugehen. Produktion ohne Risikopuffer ist vorbei, grenzüberschreitendes Just-in-time oder single-sourcing war gestern, Versorgungssicherheit vor der Haustüre ist heute. Folge: Beschaffungs- und Logistikabläufe müssen neu strukturiert werden, Logistik wird teurer, Vorleistungskosten steigen. Re-Allokation von Vorleistungen verteuern Fertigungsprozesse.

  1. Die Deckung individueller wie gesellschaftlicher Existenz- und Sicherheitsbedürfnisse, wie Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherheit, soziale Kontakte und Unterhaltung etc. erhält in Zukunft einen höheren Stellenwert in der menschlichen Bedürfnispyramide vor ichbezogenen, individualistischen „Luxus“-Bedürfnissen.

Auf die seit 70 Jahren gewohnte Wachstums-Wanderung auf der Bedürfnispyramide nach oben folgt eine Rückwärtsbewegung nach unten zu den Existenz- und Grundbedürfnissen. Back tot he roots! Das erfordert höhere strukturelle Aufwendungen, die für die Deckung der gewohnten, nicht unmittelbar lebensnotwenigen Wachstumsbedürfnisse, wie Geltung, gesellschaftliche Anerkennung, Selbstverwirklichung nicht mehr zur Verfügung stehen können. Staatliche wie private Budgets werden in Zukunft in Richtung der Grundbedürfnisse rückstrukturiert werden (müssen). Bei den Privaten wird das Geld bei der Deckung der hedonistischen Luxus-Bedürfnisse fehlen. Beim Staat wird die Erkenntnis in den Vordergrund rücken, dass die Abwehr einer tödlichen Pandemie eine höhere gesellschaftliche Priorität hat als Absenkung der Auto-Abgase, z.B. am Stuttgarter Neckartor. Verkehr ohne Pandemie ist die bessere gesellschaftliche Lösung als Pandemie ohne Verkehr!

Aber Corona zeitigt auch positive Effekte für die Automobilindustrie: Das eigene Automobil als individuelles Verkehrsmittel erhält neuen gesellschaftlichen Stellenwert.

Durch die auch in Zukunft notwendige soziale Distanz zum Mitmenschen erhält das Automobil als geschützter privater Raum seinen alten Stellenwert zurück. Nämlich geschützt und individuell mobil zu sein: Fahren wann man will, wohin man will und mit wem man will! Und wie lange man will – Ausnahme mit dem Elektroauto!


Dr. Helmut Becker ist Leiter des Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK). Er war Chefvolkswirt der BMW AG, Mitarbeiter im Sachverständigenrat und in vielen Funktionen der Automobilindustrie verbunden.
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