Tichys Einblick
Deutschland wird ärmer, nicht arm!

Die Inflationswelle rollt – Lindner rechnet mit „Wohlstandsverlust“

Der Ukraine-Krieg und Preissteigerungen auf breiter Front zeigen Wirkung. Die Politik fängt an, die Bürger auf härtere Zeiten einzuschwören. Nach Bundesfinanzminister Lindner wird der Staat den Wohlstandsverlust nicht auffangen können.

IMAGO / photothek

Nun ist es also amtlich: Deutschland wird ärmer! Ukraine-Krieg und Preissteigerungen auf breiter Front zeigen Wirkung. Die Politik fängt an, die Bürger auf härtere Zeiten einzuschwören. Den Anfang machte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit eben dieser Botschaft vor wenigen Tagen bei der „Lanz-Talkshow“ im ZDF, die – völlig ungewohnt – den sonst so beredten Moderator selber ad hoc ebenso sprachlos machte, wie sie die deutsche Öffentlichkeit schockte.

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Bundesfinanzminister Christian Lindner zog jetzt in der „Bild am Sonntag“ (03.04.2022) nach. Lindner rechnet als Folge des Ukraine-Kriegs mit einem „Wohlstandsverlust“ für die Menschen in Deutschland. „Der Ukraine-Krieg macht uns alle ärmer, zum Beispiel, weil wir mehr für importierte Energie zahlen müssen… Diesen Wohlstandsverlust kann auch der Staat nicht auffangen.“ Zwar werde die Bundesregierung „die größten Schocks abfedern“ – die breite Mitte werde entlastet, Bedürftige würden unterstützt und die Existenz bedrohter Betriebe gesichert – „… aber da die Finanzmittel begrenzt sind, können diese Maßnahmen nur befristet sein“, so Lindner. – Ende der Durchsage!

Erst die Corona-Pandemie, jetzt der Krieg in der Ukraine – die Krisen treiben die Preise für Energie, Benzin und Lebensmittel in die Höhe. Und alles ging rasend schnell: Es liegen nur vier Monate zwischen der Aussage von Bundesbankerin Isabel Schnabel „die Inflation ist eher zu niedrig“ bis hin zu Bayerns Ministerpräsident Markus Söder „die Hyperinflation trifft vor allem die Mittelschicht“.

Welch ein Wandel! Fakt ist, dass der Ausbruch des Ukraine-Krieges und die Sanktionen gegen Russland den Anstieg der Verbraucherpreise – von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit inzwischen schluderig, aber dem populäreren Sprachgebrauch folgend wegen als „Inflationsrate“ bezeichnet – schubartig beschleunigt hat. Weltweit, nicht nur in Deutschland. Haupt-Preistreiber war ein extremer Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise. Erinnerungen an die Inflationswellen in den letzten 100 Jahre wurden in der Öffentlichkeit wach. Nahrungsmittel, vor allem Weizen zieht nach.

Preisanstiege weltweit

Nicht nur in Deutschland sind seit November 2021 die Verbraucherpreise rasant angestiegen, sondern weltweit und überall dort, wo die statistischen Ämter unabhängig von staatlichen Weisungen ihre monatlichen Messungen durchführen können. So lagen die Anstiegsraten der Verbraucherpreise (nachfolgend: Inflationsrate) im März 2022:

  • in Deutschland bei +7,3 Prozent (Jahresdurchschnitt 2021: +3,1 Prozent; 2020: +0,5 Prozent);
  • in der EU +7,5 Prozent (Jahresdurchschnitt 2021: +2,9 Prozent; 2020: +0,7 Prozent);
  • in den USA +7,9 Prozent (Februar) (Jahresdurchschnitt 2021: +4,7 Prozent; 2020: +1,2 Prozent).

Dazu im Einzelnen:

♦ Die Inflationsrate in den USA war im Februar mit +7,9 Prozent die höchste Steigerung seit 1982 – ein 40-Jahres-Hoch. Vor allem die hohen Energie- und Kraftstoffpreise befeuern die Inflation. Die Popularität des US-Präsidenten sinkt mit steigender Inflation im Land rapide.

♦ Im Euro-Raum hat sich der Höhenflug der Verbraucherpreise fortgesetzt und die Inflation auf ein Rekordhoch getrieben. Stärkster Treiber der Teuerung bleiben hohe Kosten für Energie. Im März stiegen die Verbraucherpreise im Jahresvergleich um 7,5 Prozent, wie das Statistikamt Eurostat am Freitag in Luxemburg nach einer ersten Schätzung mitteilte. Angeführt wurde die Inflation von den Niederlanden (+11,9 Prozent) und den Baltischen Staaten mit Raten von in Estland +14,8 Prozent und Litauen +15,6 Prozent; Schlusslicht war Malta mit + 4,6 Prozent.

Am stärksten verteuerte sich in Europa wie überall Energie mit rund +45 Prozent, gefolgt von landwirtschaftlichen, unverarbeiteten Lebensmitteln mit +8 Prozent. Die Teuerungsraten bei sonstigen Nahrungsmitteln lagen bei +5 Prozent, bei Industriegütern und Dienstleistungen fielen sie demgegenüber mit +3,4 Prozent bzw. +2,7 Prozent noch sehr bescheiden aus – noch. Doch die Welle rollt…

Das mittelfristige Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent ist in weite Ferne gerückt. An den Märkten wird mittlerweile fest mit mindestens einer Leitzinserhöhung in diesem Jahr gerechnet. Denn EZB-Chefin Christine Lagarde sieht inzwischen eine dauerhaft veränderte Inflationsdynamik. Die Notenbankchefin hält es für unwahrscheinlich, dass sich die Preise bald wieder wie vor der Pandemie entwickeln. Bis vor wenigen Wochen hat die EZB noch das Gegenteil geglaubt.

♦ In Deutschland hat sich die Inflation ebenfalls erheblich beschleunigt. Im März ist das Verbraucherpreisniveau nach Meldung des Statistischen Bundesamtes gegenüber Februar 2022 mit +2,5 Prozent unerwartet stark auf +7,3 Prozent gestiegen. Überall ist die Teuerung inzwischen spürbar, an der Tankstelle, bei der Butter, bei Brötchen auch, und Speiseöl wird teilweise nur noch rationiert verkauft. Energie (Haushaltsenergie und Kraftstoffe) verteuerte sich um +39,5 Prozent, Waren um +12,3 Prozent und Nahrungsmittel insgesamt um +6,2 Prozent. Der Einzelhandel, angeführt von Aldi, meldet starke Preissteigerungen in den kommenden Monaten.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die Preise für Erdgas und Mineralölprodukte nochmals merklich angestiegen und beeinflussen die hohe Inflationsrate erheblich. Ähnlich hoch war die Inflationsrate in Deutschland zuletzt im Herbst 1981, als infolge der Auswirkungen des ersten Golfkrieges die Mineralölpreise ebenfalls stark anzogen. Hinzu kommen im aktuellen Berichtsmonat Lieferengpässe durch unterbrochene Lieferketten aufgrund der Corona-Pandemie und die deutlichen Preisanstiege bei Energieprodukten auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen.

Zentrale Fragen und Prognosen 

In deutschen Supermärkten kündigt sich Schlimmeres an. So haben die ersten Discounter und Einzelhandel-Marktführer angekündigt, die Preise in ihren Lebensmittel-Sortimenten um 20 bis 40 Prozent zu erhöhen. Die Wettbewerber werden folgen, sodass im Einzelhandel in den kommenden Wochen starke Preisanhebungen quer durch alle Sortimente vorprogrammiert sind. Die zentralen Fragen für Bürger, Wirtschaftswissenschaft und Politik sind:

  1. Ist die aktuelle Teuerungswelle nur temporär durch Sonderfaktoren bedingt und ebbt nach einer gewissen Zeit wieder ab – lange Zeit die Position der EZB? Oder müssen wir uns auf eine Hyperinflation mit anschließender tiefer Wirtschaftsrezession einrichten?
  2. Oder muss sich Deutschland dauerhaft auf ein höheres Preisniveau bei aller Güter und Dienstleistungen einrichten als in der Vergangenheit, mit der Folge einer strukturellen permanenten Absenkung des bisherigen Realeinkommens- und damit Wohlstandsniveaus?

Seriöse Prognosen sind angesichts der völlig unsicheren und erratischen Rahmenbedingungen und der bisher in der Nachkriegszeit noch nicht erlebten Krisen-Gemengelage nicht möglich. Wohl aber lassen die bisherigen Erfahrungen aus zwei Weltwirtschaftskrisen und sechs Konjunktur- und Preiszyklen, gepaart mit dem Grundvertrauen auf funktionierende Märkte in einer geordneten Marktwirtschaft, doch gewisse Rückschlüsse zu auf das, was kommt.

So völlig im Prognose-Nebel, wie die Politik manchmal (zum Selbstschutz bei eigenen Fehlentscheidungen) glaubt, tappt die Ökonomen-Zunft nicht! Trotz des aktuellen Chaos in den Rahmenbedingungen sind Trends erkennbar und lassen sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit in Bandbreiten schemenhaft ableiten. Im Gegensatz zu empirischen Prognosen mit einer Scheingenauigkeit von Stellen hinter dem Komma.

Zu 1.: Inflationsschub nur vorübergehend oder Marsch in die Hyperinflation wie zu Beginn der Zwanzigerjahre?

Entscheidendes Kriterium zur Beantwortung dieser Frage ist die Prüfung, ob die sprunghafte Verteuerung von Rohstoffen, Industriegütern und landwirtschaftlichen Erzeugnissen knappheitsbedingt ist – aus welchen Gründen auch immer. Oder ob die Teuerung als Lohnkosteninflation auf inländischen, durch Gesellschaft und Tarifparteien selbst verursachten internen Kostensteigerungen beruht, welche von den Unternehmen in den Preisen weitergegeben werden müssen, wollen sie nicht pleite gehen.

Inflation bei FLEISCH, WURST, BUTTER
Aldi erhöht erneut Preise für Lebensmittel
Wobei klar sein muss: Es gibt Ausnahmen! Nicht zu diesen internen Inflationsquellen zählen allein durch hoheitliches Handeln begründete Kostensteigerungen für Wirtschaft und Gesellschaft, wie zum Beispiel Steuererhöhungen oder CO2-Abgaben aus Klimagründen; ebenso wie Zinserhöhungen durch die EZB zur Inflationsbekämpfung. Solche Kostensteigerungen, die auf staatlichen Lenkungsmaßnahmen beruhen, muss die Gesellschaft hinnehmen. Also konkret: Inflationsschub von außen oder hausgemachte Inflation von innen?

In der Vergangenheit, etwa bei allen bisherigen Ölkrisen, waren solche knappheitsbedingten Inflationsschübe in der Regel allerdings nur vorübergehend, nicht dauerhaft. Grund: Der Marktmechanismus funktionierte. Entweder die Verteuerung der verknappten Güter lockte mehr Angebot hervor (zum Beispiel nach 1973 Nordseeöl) oder die Konsumnachfrage reagierte sehr elastisch und schrumpfte. In der Regel trat beides ein, mit der Folge, dass sich der Preisauftrieb wieder abflachte und die Preise sich auf das alte Niveau zurückbildeten.

Zwar gab es immer wieder gewerkschaftliche Versuche für kompensierende Lohnrunden, mit der Folge aufkommender Inflationsmentalität und sich hochschaukelnder Preis-Lohn-Spiralen. So wie erstmals 1974, als die Gewerkschaften auf die Ölpreis-und Verbraucherpreisexplosion mit massiven Lohnerhöhungen von bis zu 14 Prozent reagierten („Kluncker-Runde“).

Mit einer verschärften Geldpolitik, Rekordzinsen und anschließenden schweren Rezessionen beendete die Bundesbank dann jedes Mal dieses Schwarze-Peter-Spiel und erstickte somit jeden Ansatz zu einer Hyperinflation im Keime. Nach der Rezession war wieder Ruhe an der Inflations- wie an der Tariffront.

Die Gefahr, dass sich in der aktuellen Situation Ähnliches wiederholt, ist latent gegeben, obwohl die Gewerkschaften bisher wirtschaftspolitische Vernunft an den Tag legten. Der erste Abschluss in der Chemie endete mit gar keinem Abschluss, sondern stattdessen mit einer kräftigen Einmalzahlung als Inflationsausgleich zur Überbrückung bis zur nächsten Tarifrunde in zwei Jahren.

Allerdings die Nagelprobe hoher Inflationsraten in den kommenden Monaten steht noch bevor, und damit auch der Test, ob die Lernkurve der Sozialpartner aus der Vergangenheit auch in der jetzigen Lage noch wirkt. Auch ist die Politik der EZB bislang noch nicht ernsthaft auf ihre Inflation-Standfestigkeit geprüft worden. Manche zweifeln daran.

Zu 2.: Dauerhaft höheres Preisniveau und sinkendes Wohlstandsniveau unvermeidlich

Auch wenn in Deutschland aktuell ein intern sinnloser Verteilungskampf über die Zuweisung extern bedingter Kosten- und Preissteigerungen zur Sicherung des eigenen Realeinkommenniveaus unterbleiben dürfte, wird sich eine Absenkung des nationalen Wohlstands nicht vermeiden lassen. Deutschland und die Deutschen werden ärmer, das ist unvermeidlich!

Dafür sind drei Gründe maßgeblich: Zum einen die generelle strukturelle Verknappung wichtiger Energie-Rohstoffe, Edelmetalle und landwirtschaftlichen Erzeugnisse aufgrund einer dauerhaft höheren Weltnachfrage. Die Folgen des Ukraine-Krieges haben die Marktdisproportionalitäten lediglich verschärft. Die Verknappung trifft alle Industrieländer gleichermaßen, allerdings je nach Selbstversorgungsgrad unterschiedlich hart.

Zum Zweiten das besondere deutsche Spezifikum einer fast gänzlichen Abhängigkeit von gesicherten Energie-und Rohstoff-Einfuhren. Atomstrom und Kohle sind aus Umweltgründen verpönt und reichen ohnehin nicht aus. Die deutsche Wirtschaft ist im Kern eine Erfinder- und Veredlungswirtschaft, die aus importierten Materialien und Rohstoffen hochwertige Industrie- und Ernährungsgüter für sich selber, aber auch mit hohem Anteil für den Export produziert. Nur als Beispiel: Die Exportquote an der automobilen Wertschöpfung, Motor der deutschen Wirtschaft, beträgt 70 Prozent – noch!

Sendung am 31.03.2022
Tichys Ausblick Talk: Krieg und Inflation – was wird aus unserem Geld?
Die drohenden Sanktionen gegen den Rohstofflieferanten Russland verschärfen die Versorgungssituation und erhöhen in jedem Fall die Kosten für die Suche nach alternativen Lieferanten und die Erschließung neuer Bezüge (zu höheren Preisen) auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig dürfte sich für die deutschen Unternehmen der Wettbewerb mit anderen Industrieländern, zum Beispiel China, die in den Genuss billiger russischer Exportlieferungen kämen, deutlich verschärfen.

Der dritte Grund für ein in Zukunft strukturell höheres Preisniveau und einen abnehmenden Wohlstand ist in der von der Ampel-Regierung geplante Umbau der deutschen Wirtschaft zu sehen. Geplant ist eine Dekarbonisierung aller Industrieprozesse, zum Beispiel bei Stahl und der Chemie, und aller Lebensbereiche, so Verkehr (Elektromobilität), Landwirtschaft und Wärmemarkt.

Das bedeutet im Klartext, dass der bestehende CO2-trächtige Kapitalstock der deutschen Volkswirtschaft beschleunigt abgeschrieben und in großen Teilen durch einen neuen, umweltfreundlichen Kapitalstock ersetzt werden muss. Das setzt in jedem Fall hohe Investitionen voraus und zieht gleichzeitig hohe Abschreibungen nach sich. Will die Industrie etc. nicht pleite gehen, führt beides zwangsläufig zu einer nachhaltigen, strukturellen Verteuerung aller Produkte über die gesamte volkswirtschaftliche Wertschöpfungskette hinweg.

Eine dauerhafte Absenkung des privaten materiellen Wohlstands und der am Markt erzielbaren privaten Realeinkommen ist unvermeidlich. Steigende Preise querbeet durch alle Prozesse sind die Kosten für die Transformation und den Umbau der Volkswirtschaft.

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