Tichys Einblick
Berufsstand gefährdet 

Immer mehr Friseure rechnen ihren Umsatz künstlich klein 

Friseurbetriebe, die im Jahr eine bestimmte Grenze nicht überschreiten, sind von der Umsatzsteuer befreit. Diese Regelung sollte als Starthilfe dienen. Doch sie ist zur Dauereinrichtung geworden, die im Wettbewerb benachteiligt und den Berufsstand gefährdet.

IMAGO / Sven Simon

Die Zahl der Friseurbetriebe, die nur einen geringfügigen Umsatz erwirtschaften, hat sich in den letzten Jahren fast verdreifacht. Viele Betriebe rechneten ihren Umsatz künstlich runter, um sich so Vorteile zu verschaffen, sagen Branchenkenner. Das verzerre den Wettbewerb, setze seriös arbeitende Unternehmen unter Druck und gefährde letztlich den Berufsstand. Der Staat trägt zu dieser Lage bei.

Wer als Unternehmer einen Umsatz unterhalb einer Grenze von 22.000 Euro im Jahr erwirtschaftet, ist von der Umsatzsteuer befreit. Die Regelung soll neu gegründeten Betrieben in den Anfangsjahren helfen. Doch aus dieser Starthilfe ist im Friseurhandwerk eine Dauereinrichtung geworden. Zwischen 2002 und 2019 ist laut Berufsgenossenschaft die Zahl der Unternehmen, die von der Umsatzsteuer befreit sind, von zehn auf 27 Prozent gestiegen. Rund 20.000 Betriebe erwirtschaften also im Jahr weniger als 22.000 Euro. Angeblich.

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Noah Wild ist Vorstandsmitglied der Wild Beauty GmbH, welche die Marke Paul Mitchell® in Deutschland und Österreich vertreibt. Er bezweifelt, dass diese Rechnung aufgehen kann: 22.000 Euro im Jahr bedeuten weniger als 2.000 Euro Umsatz im Monat. Von diesen 2.000 Euro müssen die Miete und der Strom bezahlt werden; Versicherungen und Bürobedarf; Scheren, Rassierapparate und Handtücher; auch Pflegeprodukte. Ein Cent Lohn ist da noch nicht mitgerechnet. Nicht mal für den Betreiber.

„Realistisch ist der Beruf bei diesem Umsatz nur als Hobby möglich“, sagt Wild. Diesen Kostenrahmen könne nur eine Frau oder ein Mann einhalten, der sich abends etwas dazu verdient – oder ein zweites Einkommen erwirtschaftet, während der Partner den eigentlichen Lebensunterhalt bestreitet. Dass dies aber auf über 20.000 Betriebe in Deutschland zutrifft, bezweifelt Wild.

Das bezweifeln auch andere. Schon vor über zehn Jahren wurde in Nordrhein-Westfalen „Der faire Salon“ gegründet mit dem Ziel, die Regelung zu ändern. Die Initiative um den Düsseldorfer Rene Krombholz hat auch schon einen offenen Brief an Olaf Scholz geschrieben – in dessen Funktion als Bundesfinanzminister –, doch sei der bisher unbeantwortet geblieben, berichtet das Handwerksblatt.

Scholz‘ Vorgänger im Amt hatte die Situation verschlimmert: Als Bundesfinanzminister hat Wolfgang Schäuble erklärt, Unternehmen würden nicht geprüft, solange sie unter der Umsatzsteuergrenze blieben. Unregelmäßigkeiten können so aber nur auffallen, wenn die Einkommensteuer des Kleinunternehmers mit seinem Jahresumsatz abgeglichen wird. Doch wie oft prüft das Finanzamt bei Brutto-Einkommen unter 100.000 Euro?

Die Kleinunternehmer haben gegenüber der Konkurrenz, die Umsatzsteuer zahlt, grundsätzlich einen Preisvorteil von 19 Prozent. Den können sie nutzen und Kampfpreise wie „10 Euro für jeden Schnitt“ anbieten. Der Unterschied fällt umso größer aus, desto komplexer die Rechnung wird: Setzt ein Friseur Shampoo oder Pflegeprodukte ein, muss er auch auf diese Umsatzsteuer berechnen. Selbst wenn er den Kunden einen Corona-Test durchführen lässt, muss er auf diesen Umsatzsteuer erheben, falls er den Test als Dienstleistung in den Preis einrechnet. Tut er das nicht, muss er die Kosten für die Tests tragen. „Der Kunde sieht nicht den Grundpreis der einzelnen Komponenten und die jeweiligen Anteile durch die Umsatzsteuer – der Kunde sieht nur den Endpreis“, sagt Wild. Und in dem Gewerbe seien die Gewinnmargen so gering, dass ein seriös wirtschaftender Friseur diesen Nachteil nicht ausgleichen könne.

Doch die Regelung führe zu mehr als nur einem ungleichen Wettbewerb: „Die Regelung schafft Anreize, sich nicht an die Regeln zu halten“, vermutet Wild. Der Anreiz steige für die Kleinstunternehmer, nicht jeden Umsatz, nicht alle Arbeitsstunden oder Materialien über die offizielle Kasse laufen zu lassen.

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Die Situation gefährdet die Zukunft des Berufsstandes. Denn Friseure haben es ohnehin schwer, Nachwuchs zu finden. Das hat viele Gründe, etwa die grundsätzliche Akademisierung der Gesellschaft. Doch der Zuwachs an Kleinunternehmen verschärft dieses Problem. Selbst in Ostdeutschland verdienen Lehrlinge im Schnitt 450 Euro im Monat. Mit einem Lehrling wären dann 5.400 von den 22.000 Euro Umsatz schon weg. Davon abgesehen, dass Kleinunternehmen laut Handwerkskammer grundsätzlich als wenig attraktiv gelten, wenn junge Leute sich einen Ausbildungsplatz suchen. Das Ergebnis: 40.000 auszubildende Friseure gab es 2008 noch, wie das Statistische Bundesamt mitteilt – im vergangenen Jahr waren es nur noch 18.000.

Was ist zu tun? Abschaffen lässt sich die Regelung nicht ohne Weiteres. Sie ist Teil des EU-Rechts. Wild würde die Abschaffung auch nicht für sinnvoll halten. Eine neue Regelung sollte weder den bürokratischen Aufwand erhöhen noch tatsächliche Gründer im frühen Stadium mit Umsatzsteuer belasten. Wild schlägt daher vor, für die anderen Unternehmen die 22.000 Euro als Freibetrag einzuführen. Dann wäre der Wettbewerb wieder fair und das Überleben seriöser Betriebe ein Stück weit sicherer. Dies könnte auf einen Jahresumsatz von einer Million Euro begrenzt werden. Dann käme der Freibetrag vor allem Mittelständlern zugute – also den meisten unter den seriös wirtschaftenden Unternehmen.

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