Tichys Einblick
Der Marktausblick

Stärkstes Wochenplus seit 18 Monaten – doch Probleme bleiben

Nach wie vor herrscht an den Märkten Unsicherheit. Russlands Einmarsch in der Ukraine und Chinas Lockdowns im Zuge der Null-Covid-Strategie unterbrechen die Lieferketten, bremsen das Wirtschaftswachstum und treiben die Inflation auf Vierzigjahreshochs.

shutterstock/katjen

Die US-Börsen haben am Freitag ihre jüngste Erholung schwungvoll fortgesetzt. Nach dem Kursrutsch von Ende April bis Mitte Mai würden jetzt Schnäppchenjäger zugreifen, heißt es unter Börsianern. Zudem werteten Analysten das Protokoll der US-Notenbank zur jüngsten FOMC-Sitzung als Beleg für eine gegen die Befürchtungen weniger rigide Straffung der Geldpolitik zur Bekämpfung der hohen Inflation.

Mit diesem Rückenwind schaffte der Leitindex Dow Jones Industrial mit einem Plus von 6,2 Prozent den größten prozentualen Wochengewinn seit November 2020. Allein am Freitag ging der Dow mit einem Anstieg von 1,8 Prozent auf 33.213 Punkte in das verlängerte Wochenende. Am Montag bleibt der US-Aktienmarkt wegen des Feiertages „Memorial Day“ geschlossen. Der marktbreite S&P 500 gewann am Freitag 2,5 Prozent auf 4.158 Zähler. Der NASDAQ 100 stieg um 3,3 Prozent auf 12.681 Punkte.

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Jüngste US-Konjunkturdaten lieferten derweil kein einheitliches Bild. So stiegen einerseits die Ausgaben der Verbraucher auch im April deutlich. Anderseits jedoch habe sich die Stimmung der Konsumenten im Mai stärker als erwartet eingetrübt, hieß es von der Universität Michigan. Mit Blick auf die Einzelwerte hatten die Anleger zu Handelsbeginn noch verschreckt auf eine drastisch gesenkte Gewinnprognose des Bekleidungshändlers GAP reagiert. Die Aktien waren zunächst um mehr als 14 Prozent eingebrochen, erholten sich aber in dem freundlichen Umfeld rasch und lagen am Ende gut vier Prozent im Plus.

Unter den wenigen Verlierern im Nasdaq 100 sackten die Papiere des Software-Anbieters Workday am Index-Ende um 5,6 Prozent ab. Analysten begründeten dies mit von Kunden verschobenen Aufträgen angesichts der wirtschaftlich unsicheren Lage. Die Anteilscheine von Dell schnellten um fast 13 Prozent nach oben. Das Unternehmen konnte den Umsatz dank einer starken Nachfrage nach PCs im vergangenen Quartal um ein Sechstel steigern. Der Euro blieb im Aufwind und kostete zuletzt 1,073 US-Dollar. Erneut wurde die Gemeinschaftswährung durch die erwartete Zinswende in der Eurozone gestützt.

Zuvor hatte schon der DAX abermals deutlich zugelegt. Der deutsche Leitindex schloss 1,6 Prozent fester bei 14.462 Punkten. Das bedeutete den höchsten Stand seit fünf Wochen – unter dem Strich verbuchte er ein Wochenplus von fast dreieinhalb Prozent. Für den Mai, den Investoren als schwachen Börsenmonat fürchten, zeichnet sich aktuell ein Kurszuwachs von gut zweieinhalb Prozent ab. Der MDAX der mittelgroßen Unternehmen verabschiedete sich 1,1 Prozent höher bei 29.750 Punkten aus dem Handel. Marktteilnehmer sprachen von einer längst überfälligen Erholung. Tags zuvor hatte der Index nach zuletzt zähem Ringen den Abwärtstrend seit Januar geknackt und es zudem über die 50-Tage-Linie geschafft, die Hinweise auf den mittelfristigen Trend gibt. Pessimisten sehen allerdings noch keine Trendwende, sondern eher den Beginn einer Bärenmarkt-Rally.

Im Dax belegten der Pharma- und Laborausrüster Sartorius, der Halbleiterkonzern Infineon und der Medizintechnikkonzern SiemensHealthineers mit Kursaufschlägen von 4,5 bis sechs Prozent die vorderen Plätze. Der Anlagenbauer Aixtron, der Medizintechnikkonzern Carl Zeiss Meditech und der Autovermieter Sixt waren mit Gewinnen von bis zu über vier Prozent die besten Werte im MDax. Der Internet- und Außenwerbespezialist Ströer wurde von der US-Bank JPMorgan auf „Neutral“ abgestuft. Im aktuell unsicheren Konjunkturumfeld würden Werbebudgets schnell gekappt, begründete Analyst Marcus Diebel das neue Anlagevotum. Die am Ende unveränderten Aktien waren eines der schwächsten MDax-Mitglieder.

Nach wie vor herrscht an den Märkten allerdings große Unsicherheit. Russlands Einmarsch in der Ukraine und Chinas Lockdowns im Zuge der Null-Covid-Strategie unterbrechen die Lieferketten, bremsen das Wirtschaftswachstum und treiben die Inflation auf Vierzigjahreshochs. Ökonomen überall auf der Welt reduzieren derzeit ihre Prognosen für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr. Doch was, wenn das erst der Anfang ist? Krieg und Seuchen werden zwar nicht ewig andauern. Das zugrundeliegende Problem jedoch – eine gespaltene Welt und die Instrumentalisierung des Handels für geopolitische Auseinandersetzungen- wird sich wohl verschärfen. Weitere Wohlstandsverluste in aller Welt wären unvermeidlich.

Die Wirtschaftswoche resümiert vor diesem Hintergrund Robert Habecks Auftritt auf dem am Freitag zu Ende gegangenen Weltwirtschaftsforum in Davos:

„Da lässt sich in den Bergen so manches fordern, was vor lauter Habeck-ist-der-bessere-Kanzler-Euphorie von niemandem hinterfragt wird. Doch der Popstar der Grünen ist und bleibt kein Freund freier Marktkräfte, sondern ein charmanter Dirigist. Er verpackt seine gefühlt subversive Haltung nur unternehmerfreundlicher. Früher wollte er Gemüsepreise regulieren und Berliner Vermieter enteignen, heute fordert er mehr Freihandel als Mittel gegen die globale Rezession – um im Kleingedruckten nachzuschieben, der müsse aber ‚besser, fairer und nachhaltiger‘ sein. Auch wenn in der Vergangenheit mangels Mindeststandards zu viel aus dem Ruder gelaufen ist, Habecks Vorstellungen haben vielleicht etwas mit Handel zu tun, aber sicher nichts mit frei. Sie sind höchstens frei von Realpolitik.“

Nicht passen dürfte dem Grünen auch, dass zu den großen Börsengewinnern dieses Jahres bislang die Rohstoffe zählen. Sie profitieren von Engpässen, die die Preise nach oben treiben. Angesichts des Krieges in der Ukraine waren auch Rüstungsaktien gesucht. „Die Fragmentierung wird bleiben“, zitiert die Neue Zürcher Zeitung Robert Koopmann, den Chefökonomen der Welthandelsorganisation. Eine „reorganisierte Globalisierung“ werde ihren Preis haben: „Billige Produktion zu Grenzkosten werden wir nicht mehr so umfassend nutzen können wie bisher.“

Diese Reorganisation birgt die Gefahr, dass die Bevölkerungen der entwickelten Länder mit einem Problem konfrontiert werden, das sie zuletzt in der Nachkriegszeit kannten: Knappheit. Letztlich werden sie sich mit höheren Preisen herumschlagen müssen – nicht nur bei Energie. Keine schönen Aussichten.

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