Tichys Einblick
Grundsatzprogramm der Grünen

Ein Dokument der grünen Träume – und die Kritik des BDI daran

Die Grünen wollen sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat es schon deutlich kritisiert, großteils zu recht.

imago images / BildFunkMV

Am 26. Juni haben die Grünen, knapp 20 Jahre nach ihrem dritten Grundsatzprogramm (2002), den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser soll bis zum Sommer diskutiert und im Herbst dann als neues Grundsatzprogramm verabschiedet werden.

Unter dem etwas schrägen Motto „Veränderung schafft Halt“ formulieren die Grünen in diesem Programmentwurf grundsätzliche Leitlinien ihrer Politik für die nächsten Jahrzehnte. Ob Klimakrise, Artensterben, Digitalisierung oder zunehmender Nationalismus etc, mit dem geplanten neuen Programm wollen sie schlaglichtartig alle Herausforderungen der Zukunft adressieren. „Ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen, heute wie übermorgen, überall auf diesem Planeten, den wir gemeinsam bewohnen, ist unser Ziel.“ Es besteht daher aus einzelnen Paragraphen, anstatt aus einem geschlossenen Programmtext. Aufgezeigt werden die Ziele, nicht die Roadmap, auf welchem Wege diese Ziele erreicht werden können.

In sieben Kapiteln (Lebensgrundlagen schützen; In die Zukunft Wirtschaften; Fortschritt gestalten; Zusammen leben; Demokratie stärken; Solidarität sichern; In Bildung investieren; International zusammenarbeiten) die sich an den großen Aufgaben der Zeit orientieren, formuliert die Partei ihre Standpunkte und beschreibt die Grundsätze ihres politischen Handelns.

Ohne die einzelnen Sachthemen an dieser Stelle tiefschürfend zu erläutern, sollen stellvertretend für den „Geist der Mirabelle“ (Siegfried Lenz) zwei Zitate der beiden Parteivorsitzenden stehen:

  • „Wenn wir wahren und schützen wollen, was uns lieb ist, dann brauchen wir Veränderung, denn Veränderung schafft Halt.“ (Annalena Baerbock).
  • „Wir müssen die Strukturen, die durch die Ökonomisierung und die Liberalisierung so anfällig geworden sind im ökologischen wie im sozialen Bereich so härten, dass wieder Vertrauen in politische Handlungsfähigkeit entsteht.“ (Robert Habeck)

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Laut Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner „… soll dieser Entwurf die Antwort (sein) auf das überholte Konzept der Volksparteien!“ Und signalisiert gleichzeitig – exponiert in der Präambel – ihre Bereitschaft, als Bündnispartei dieses Programm „gemeinsam in Vielfalt“ zu verwirklichen: „Unterschiedliche Wege in die Zukunft sind nicht nur möglich, sie sind bereits im Heute angelegt…Politik ist, sich zusammenzutun und für eine bessere Zukunft einzustehen. So vielfältig wir selbst sind, so offen sind unsere Arme mitzumachen, Bündnisse zu schmieden.“ Besonders wird betont: „ (Das Grundsatzprogramm) …definiert uns als moderne Bündnispartei mit dem Anspruch auf Mehrheitsfähigkeit für die gesamte Gesellschaft. …Unser Grundsatzprogramm ist damit als Einladung für neue Bündnisse zu verstehen, die wir für die vor uns stehenden Veränderungen brauchen.“

Deutlicher kann man eine Einladung zur Kooperation mit Parteien gleichen Wertegerüstes nicht aussprechen!

Erwartungsgemäß stießen nicht überall der grüne Programmentwurf und Werben auf Wohlwollen. Herbe Kritik kam vor allem aus der Wirtschaft, hier mit an der Spitze vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Laut FAZ werden in einem internen, 20-seitigen Positionspapier folgende Punkte angegriffen, die der Einfachheit halber aus der Sicht eines liberalen, marktwirtschaftlich fundierten Ökonomen im Geiste Ludwig Erhards gleich mit Anmerkungen (kursiv)versehen werden sollen:

Die BDI Kritik greift folgende Punkte auf:

  • Das Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland sei zwar zu begrüßen, unbeantwortet bliebe aber die Frage, wie die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und Europa angesichts zahlreicher Herausforderungen wie der coronabedingten Rezession, der steigenden Renationalisierung, von Protektionismus, Digitalisierung und Klimaschutz künftig gewährleitet werden soll. – Dieses alles könnte Großteils auch als Aufgabe der Wirtschaft selber und/oder ihrer Verbände, hier BDI, gesehen werden. Keine diskretionäre Industriepolitik!
  • Grüne Forderungen nach der „Null-Emissionen-Stadt“, der „Dekarbonisierung des Verkehrs“ und dem Ende „der Verschmutzung der Erde mit Plastik“ hält der Verband für schlicht realitätsfremd, nicht umsetz- oder finanzierbar. Es würden lauter Stichworte genannt aber keine konkreten Maßnahmen der Umsetzung. – Das ist im Prinzip auch nicht Sinn und Zweck eines Grundsatzpapiers.
  • „Der erhebliche Nutzen von Kunststoffen und chemischen Stoffen wird negiert. Eine solche Stigmatisierung ist aus BDI-Sicht abzulehnen“ – Stigmatisierung nein, Richtung angesichts der Vermüllung der Meere usw. aber absolut richtig.
  • Kritische Anmerkungen des BDI auch zum Verkehr: Auch im Jahre 2030 werde die Kfz-Flotte in Deutschland „überwiegend aus Fahrzeugen mit Verbrennermotoren bestehen“.  – Dem ist voll zuzustimmen, auch wenn niemand ernsthaft bestreitet, dass Verkehr und Mobilität defossilisiert werden müssen. Technische Lösungen dazu sind vorhanden. (Wasserstoff).
  • In der Steuerfrage bleibt der BDI seinen Positionen treu. „Das grundsätzliche Ziel, das steuerliche Belastungsniveau weiter zu erhöhen, verkennt die derzeit hohe Steuerbelastung von Unternehmen und natürlichen Personen.“    Hier muss im Grundsatz zwischen durchschnittlicher Belastung und einer ausgewogenen Belastungsstruktur im Sinne einer Belastungsnivellierung zwischen den natürlichen Personen differenziert werden. An solche heißen Eisen wagen sich aber weder Grüne noch BDI heran

Was sagt nun der liberal/konservative Ökonom zum Wirtschaftsteil des grünen Programmentwurfs und der BDI Kritik daran?

Unstrittig ist Papier geduldig ist und ein Schlagwortkatalog noch lange keine realisierbare Politik, in der bekanntlich dicke Bretter zu bohren sind. „It’s a long way to Tipperary“ wussten britische Soldaten schon im 1. Weltkrieg zu intonieren. Viele Absichtserklärungen im Grundsatzprogramm der Grünen werden in dieser Form kaum Politik werden. Aber immerhin die Richtung stimmt! Und allzu leicht wird vergessen, gegen welche Widerstände der Industrie der frühere BMW-Chef Eberhard von Kuenheim seinerzeit den Abgaskatalysator und Jürgen Trittin das Plastik-Recycling System durchgeboxt hat. Visionen nein, Zielprojektionen ja!

Andererseits muss man den konservativen Hardlinern nur die Lebensweisheiten zweier großer Männer entgegenhalten: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert.“ (Guiseppe Tomasi di Lampedusa)
„Wer zu spät kommt, den straft das Leben.“ (Michail Sergejewitsch Gorbatschow)

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