Tichys Einblick
So sehr Glosse, dass es keine mehr ist

Wladimir Putin ist kein ungezogenes, trotziges Kind

Folgt man deutschen Medien und vielen Politikern, ist Wladimir Putin infantil und reagiert wie ein ungezogenes Kind: Er wurde beleidigt und muss jetzt besänftigt werden. Aber Putin ist kein Dreijähriger. Er ist hochrational, sein Vorgehen raffiniert und klug, sein Denken langfristig, seine Strategien global ausgelegt.

IMAGO / ITAR-TASS

Für seine Feinde ist er spätestens seit der Drohung mit dem Atomschlag und im Zuge des brutalen Überfalls auf die Ukraine das Böse schlechthin.

Seine Fans, und davon hat er viele in Deutschland, haben in Wirklichkeit auch kein besonders vorteilhaftes Bild von ihm: Für sie ist er ein beleidigte Drei-Jähriger, trotzig, zornig, unbeherrscht, dem man seinen Willen geben muss.

Man hört geradezu die Durchsage aus dem Lautsprecher eines Supermarkts: „Der kleine Wladimir möchte von seiner Mami an der Kasse abgeholt werden.“ Irgendwie ist Wladimir Putin seinen Eltern gerade abhanden gekommen. Er ist entlaufen. Er macht Terror. Wir müssen ihn finden und wieder lieb zu ihm sein, sonst schreit er wieder.

Folgt man der gängigen Argumentation, ist der kleine Wladimir furchtbar beleidigt worden. Er fühlte sich nicht auf Augenhöhe mit dem US-Präsidenten Barack Obama gewürdigt, und zwischen den Zeilen schwingt immer mit: Donald Trump hätte er ja respektiert. Aber so einen wie Obama kann er nicht. Der Westen habe Putin nie richtig zugehört, seine Ängste nicht ernst genommen, sein Sicherheitsbedürfnis nicht respektiert. Er hat Angst vor der Nato. Das muss man verstehen! Man habe ihm sein Spielzeug weggenommen, wie gemein. Gebt es ihm wieder, und er wird wieder ruhig. Und alle haben wieder Ruhe.

So blieb er der kleine Unverstandene der Weltpolitik: Das riesige russische Reich braucht unbedingt diese Restposten der Geographie wie Donezk und Luhansk sowie die Krim, sonst ist sie nur ein Zwerg. Wer kann das nicht verstehen, wenn der kleine Wladi mit dem Fuß aufstampft?

Es ist eine schreckliche Psychologisiererei auf Kinderbettchen-Niveau. Weil er also so unverstanden ist, wirft der kleine Wladimir mit Bausteinen um sich. Er stampft auf und alle sind entsetzt. Aus dem Lehnsessel sagt Papa: „Nun gebt ihm schon dieses Luhansk oder wie das Ding heißt, damit er endlich still ist!“ Wie kleine Kinder die Besteckschublade und den Topfschrank immer und immer wieder ausräumen dürfen, soll der Wladimir eben die Krim in sein Kinderzimmer verschleppen dürfen; Mutti hat doch noch einen zweiten Rührbesen. Gebt ihm doch auch Kiew, dieses Geschrei kann ja keiner mehr aushalten. Was ist schon ein Rührbesen gegen ein bisschen Frieden! Wenn nur Wladi still ist!

So irgendwie wurde Putin auf das Niveau eines plärrenden Dreijährigen reduziert. Dumm bloß, dass seine Wurfobjekte Atombomben sein und Panzerarmeen alles niederwalzen können, was sich vor dem Geschirrschrank aufbaut. Wladimir soll Recht bekommen, weil er sonst wieder losheult und die Küchentür mit Fußtritten malträtiert. Dumm für die Ukrainer, dass sie die Tür sind, aber Opfer muss man bringen, damit Wladi nicht weiter rumheult.

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Aber Putin ist kein Dreijähriger. Er ist hochrational, sein Vorgehen raffiniert und klug, sein Denken langfristig, seine Strategien global ausgelegt. Er hat ein klares Ziel, und das ist die Wiederherstellung der Sowjetunion als Zarenreich. Das muss nicht im Wege der sofortigen Bedürfnisbefriedigung geschehen, sondern kann schon noch ein paar Jahrzehnte dauern, ihn als Person sogar überdauern. Putin ist auch kein egozentrisches Kleinkind, sondern denkt in Machtkategorien und in Machtsystemen; er bedient sich des alten Geheimdienstes und der Armee sowie der neureichen Oligarchen, die von ihm abhängig sind. Er ist ein Anführer, kein kreischender Bengel. Er ist auch nicht mehr der Gossenjunge aus Sankt Petersburg, der um jede geklaute Zigarette kämpft. Um Glimmstängel geht es ihm längst nicht mehr; er scheint bereit, die Welt atomar in Brand zu stecken. Sagt er. Ob er es tut? Keiner weiß es. Und dass es keiner weiß, weiß er und pokert damit.

Putin ist kaltblütig, ausgebufft und undurchschaubar. Er reagiert nicht auf gutgemeinte pädagogische Ratschläge. Er ist kaltblütig. Das macht seinen Erfolg aus. Auch seine Misserfolge, von denen gibt es genug. Ob er vom Westen beleidigt wurde, kann ihm gerade egal sein. Er verfügt über ein Privatvermögen von bis zu 200 Milliarden Dollar; ob das stimmt, ist nicht nachprüfbar. Es dürfte jedenfalls mehr sein, als er jemals am Genfer See oder in einer Villa auf der Krim ausgeben kann; seine Yacht soll vor den Seychellen ankern, auch kein schlechter Platz. Ein paar Nettigkeiten und verständnisvolles über das Haar streichen, das wird ihn nicht beeindrucken.

Er hat sich Gerhard Schröder gekauft und Manuela Schwesig manipuliert bis zur Selbstaufgabe; mit Merkel Tee getrunken und seinen großen Hund vor ihr sabbern lassen, sich an ihrer Angst geweidet, bis sie gefügig wurde. Er hat mit Trump gedealt und Obama in Syrien abgezockt. Ob er da noch das Verständnis von Sahra Wagenknecht und Alice Weidel für seine Eroberungen in der Ukraine braucht, ist eher zweifelhaft. Er verfolgt seine diversen Ziele, und die beiden Damen schiebt er auf seinem imaginären Schachbrett herum, bis sie dort stehen, wo er sie haben will: als Influencerinnen. Das macht er mit vielen Personen, die sich alle auf die Nummer eingelassen haben. „Der kleine Wladimir will an der Kasse abgeholt werden.“

Es stimmt sogar. Allerdings nimmt er dann Kasse und Kassiererin auch gleich mit.

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