Tichys Einblick
Nehmen wir das Leben in die Hand

Pest und Corona: Sind wir wirklich klüger geworden?

Das Leben stockt, die Städte sind leer, die Wirtschaft zerbricht. In der langsamer laufenden Zeit lohnt es sich zurück zu schauen.

Noch nie hat die Wissenschaft unser Leben so stark beeinflusst wie derzeit; noch nie war die Zeitspanne kürzer, innerhalb derer sich unser Wissensstand verdoppelte. Das sind die typischen Sonntagsreden, die man so hört. Manchmal wäre etwas Bescheidenheit angebracht. Gerade lesen wir von der WHO, dass weltweit die Zahl der Corona-Infizierten deutlich zurückgeht. Und zwar ziemlich unabhängig von den Maßnahmen, die ergriffen wurden. Einfach so. Warum? Wir wissen es nicht.

Politiker spekulieren über Mutanten, solche aus Brasilien, Südafrika, und besonders beliebt: die britische Mutante. Ach ja, es soll ja hunderttausende dieser Mutanten geben; wissenschaftliche Belege für ihre Gefährlichkeit fehlen. Mutationen können Viren für Menschen gefährlicher, aber auch ungefährlicher werden lassen. Wir wissen es noch nicht. Bescheidenheit ist eine Zier, doch damit kommt man nicht in die Talkshow oder die Bundesregierung. Und so handelt unsere Elite: Unwissend, aber entschieden. Besserwisserisch, aber unklug.

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Auch die Behandlungsmethoden sind nicht wirklich originell. Wir sperren die Kranken weg und die Gesunden ein. Das soll zur Zeit der großen Pest auch schon so gewesen sein. Bekanntlich kommt das Wort Quarantäne aus dem Italienischen und beschreibt jene 40 Tage, während denen in Venedig fremde Schiffsbesatzungen eingesperrt wurden, um die Stadt vor der Pest zu schützen.

Hilft uns das viele Wissen – oder schadet es sogar?

„Noch im 19. Jahrhundert wäre Covid-19 niemandem aufgefallen“, schreibt Peter Heller. „Würde man auf SARS-CoV-2 nicht testen, gäbe es kein Krisengefühl. Aus manch einer Arztpraxis kämen vielleicht Berichte über eine neuartige, grassierende Erkältungskrankheit und manch ein Krankenhaus würde eine Zunahme von Intensivpatienten registrieren. Nichts, was in einer normalen Grippesaison nicht ebenfalls geschieht. Nichts, was hinsichtlich seiner Letalität auch nur annähernd mit Pocken oder Pest, Typhus oder Cholera vergleichbar wäre.“

Ein Zyniker könnte sagen: Wir haben einfach Glück, und ein gutes Gesundheitssystem, das jene Fälle behandelt, die es zuvor als solche erst entdeckt hat.

Wir sind also sehr fortschrittlich. Unsere Wissenschaftler haben sogar in Rekordzeit einen Impfstoff entwickelt. Allerdings: Wir kriegen ihn nicht da hin, wo er gebraucht wird. Wir sind ja so fortschrittlich, dass wir den Nationalstaat als funktionierende Einheit abgelöst und durch einen weltfremden Hofstaat und seine leerlaufende Bürokratie ersetzt haben. Und wir sind so global, dass unsere Regierung genüsslich ohne Verstand von der Briten-Mutation spricht, weil sie den Brexit nicht verzeihen kann: Große, globale Geste und kleinlichstes Denken gehören zusammen.

Die historische Pest verbreitete sich entlang der Seidenstraße. Die Handelsstädte Italiens entdeckten die Globalisierung als Profitmaschine, wollten mit dem sagenhaften Cathay Handel treiben, errichteten ab Mitte des 13. Jahrhunderts Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres und zogen von dort in der Nachfolge Marco Polos nach China – und handelten sich den Schwarzen Tod ein, den wahren Gewinner der ersten Globalisierung. Nach Schätzungen starb rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung zwischen 1347 und 1353 an der Pest.

Erst mit dem Tod verschwinden alle Risiken
Corona: Leben statt Lähmung
Die Nerven liegen blank, Existenzen werden vernichtet, Menschen sterben auch heute. Auch weil unsere Regierenden nicht klüger geworden sind; und doch sollten wir auch im Jammern bescheiden sein. Es geht uns noch vergleichsweise gut und das nennt man Fortschritt. Er gründet auf dem Leiden unserer Vorfahren. In einem schmalen, lesenswerten Bändchen, das es nur noch im Antiquariat gibt, hat der US-Historiker David Herlihy herausgearbeitet, dass nach dem Schwarzen Tod die eigentliche Verwandlung Europas begann: „Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas“ ist es betitelt. Das Mittelalter zerfiel unter den langen Schwingen seiner Sense und auf den Ruinen und Wüsteneien konnte eine neue, modernere, nach Wissen und Technologie dürstende Gesellschaft aufgebaut werden, deren Früchte wir heute noch ernten.

Neue Universitäten entstanden, wie die in Prag, damit die Studenten nicht so weit reisen mussten, denn Reisen war gefährlich. Die Wundärzte gewannen an Prestige und verdrängten die Theoretiker, die Gesundheit nur aus dem Bücherwissen der Vergangenheit lehrten. Menschen waren knapp, deshalb wurden erstmals Frauen als Zeugen zugelassen; war es gar der Beginn der Emanzipation? Getreidemühlen wurden zur Bearbeitung von Eisen, Leder und anderen Materialien umgewidmet, eine frühe Industrialisierung begann. Das Leben wurde teurer. Die Inflation fraß viele gewonnene Vorteile wieder auf. Die Dienstboten wurden frech.

Wir sind nicht klüger, und dennoch in einer besseren Lage. Wir sollten bescheidener sein und dankbar in die Vergangenheit blicken: Wir sind Zwerge auf den Schultern eines Riesen. Auch wenn wir uns so klug, so schlau und so allmächtig vorkommen.

Nehmen wir unser Leben wieder in die Hand. Der größte Fehler ist, dass wir es uns haben aus der Hand nehmen lassen. Machen wir auf statt zu.

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