Tichys Einblick
Rechtsstaat in Frage

Frankfurt: Mord ohne Mörder löst Unverständnis aus

Wenn die tägliche Erfahrung der Bürger nicht mehr zur geschönten Wirklichkeit passt, verändert sich nicht die grausame Wirklichkeit, sondern das Bewusstsein der Bürger.

imago images / Patrick Scheiber

Es ist eine Meldung, die den Zweifel am Rechtsstaat wachsen lässt. Die Staatsanwaltschaft stuft den gewaltsamen Tod eines achtjährigen Jungen am Frankfurter Hauptbahnhof im Juli 2019 als Totschlag ein – nicht als Mord. Das geht aus der Antragsschrift für das Landgericht hervor, wo demnächst der Prozess beginnt. Der Rechtsanwalt, der die Eltern des getöteten Kindes vertritt, ist entsetzt: „Es war ein heimtückischer Mord!“

Die Gewalttat vom 29. Juli 2019 schockierte ganz Deutschland: Ein offenbar psychisch gestörter Mann aus Eritrea stieß am Frankfurter Hauptbahnhof einen acht Jahre alten Jungen und dessen Mutter vor einen einfahrenden ICE. Der kleine Leo starb im Gleisbett, seine Mutter konnte sich in letzter Sekunde retten.

Nach einer Meldung von Focus sieht es die Staatsanwaltschaft so, als habe der Täter einen Menschen getötet, „ohne Mörder zu sein“.

Diese Formulierung irritiert den Anwalt der Familie, Ulrich Warncke. Er und die Familie des Achtjährigen seien immer von Mord ausgegangen. Als Begründung nennt Warncke den Tathergang. „Wenn jemand sein Opfer von hinten mit Anlauf vor einen einfahrenden Zug stößt, dann ist das ein klassischer heimtückischer Mord. Klassischer geht es gar nicht.“

Die Rechtslage ist recht klar

Da hat der Anwalt recht. Zu Mord gehört nach deutschem Recht mehr als ein Toter. Mord wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Ob ein Mord vorliegt, muss streng geprüft werden, denn der entsprechende Paragraph des Strafgesetzbuches ist restriktiv: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“

Unter Strafrechtlern gilt als Hausregel: Heimtücke geht immer. Denn heimtückisch handelt, wenn die Arglosigkeit und die Wehrlosigkeit des Opfers vom Täter ausgenutzt werden. Das liegt auf den ersten Blick beim Frankfurter Bahnsteigmord vor: Das Opfer, ein achtjähriger Junge in Begleitung seiner Mutter, wird einfach von hinten angegriffen – damit ist nicht zu rechnen; und die Wehrlosigkeit ergibt sich schon aus der Überlegenheit des Täters, der ja auch noch die Mutter mit auf die Gleise gestoßen hat. Eigentlich ein klarer Fall.

Und doch – hier dreht sich das Rad der juristischen Feinsinnigkeiten: Weil nach der gängigen Definition heimtückisch handelt, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tat ausnutzt, ermöglicht dies eine sehr weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Heimtücke. Jede überraschende Tötung wird zum Heimtückemord, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe folgt. Es besteht praktisch kein Raum für die Berücksichtigung entlastender Motive – und jetzt geht es um die Ausfüllung des Begriffs Heimtücke. So verschiebt das gängige Recht seine Prüfung schrittweise zur Entlastung des Täters und prüft und prüft, ob denn die Heimtücke eine solche ist oder nicht doch Entlastungsgründe vorliegen, die dann zum Totschlag führen – dann drohen nur mindestens 5 Jahre Gefängnis und die im allerschlimmsten Fall verhängtes Lebenslänglich endet schon noch spätestens 15 Jahren.

Werden Gewalttaten systematisch wegpsychologisiert?

So weit die kühle, eher oberflächliche Prüfung. Dabei kann der Staatsanwalt strenger argumentieren als das Gericht. Dass die Staatsanwaltschaft den Mordvorwurf offensichtlich schon aufgegeben hat, ehe das Gericht darüber entscheiden kann, erscheint unverständlich. Die Sorge um den Täter, der ohnehin wegen psychischer Störung kaum mit Strafe zu rechnen hat, erstaunt – offensichtlich wird ihm so viel geistige Unzulänglichkeit unterstellt, dass er zu Heimtücke gar nicht mehr fähig sein soll.

Es gibt kaum eine grausame Tat in den vergangenen beiden Jahren, die nicht auf eine psychische Belastung des Täters zurückgeführt wurde. Kann eine solche Tat von einem „gesunden” Menschen begangen werden? Wohl kaum. Hier beginnt der Graubereich, in dem der Verdacht wächst, dass Krankheit zum Synonym für jederzeitige Strafunmüdigkeit wird, indem die individuelle Verantwortlichkeit praktisch aufgehoben wird.

So bleibt die Öffentlichkeit fassungslos vor der juristisch möglichen, aber deswegen nicht weniger unverständlichen Feststellung, dass der Bahnsteigmord der Fall eines „Mordes ohne Mörder“ sein soll: Die Tat zweifelsfrei ein Mord, der Täter aber sei nicht als Mörder zu betrachten.

Offizielles Bild und Bürgerwahrnehmung klaffen auseinander

Nun erschüttert eine Gewaltwelle seit 2016 dieses Land: Morde, Vergewaltigungen, Übergriffe, Messerstechereien, Angriffe auf Sanitäter, Pflastersteine auf Polizisten wie beim G20-Gipfel in Hamburg, und fast jeder Weihnachtsmarkt macht befestigt mit tonnenschweren Merkel-Pollern deutlich: Die Gefahr ist weiterhin gegenwärtig. Jetzt zeigt sich die Hilflosigkeit einer Politik, die das Geschehen verharmlost und verkleinert hat, die die Statistik – wenn nicht schon geschummelt – bewusst falsch interpretiert: Weil die Zahl der noch angezeigten Fahrraddiebstähle zurück gegangen ist, hat der Bundesinnenminister immer wieder stolz die gestiegene Sicherheit bejubelt. Wenn aber die tägliche Erfahrung der Bürger nicht mehr zur geschönten Wirklichkeit passt, verändert sich nicht die grausame Wirklichkeit, sondern das Bewusstsein der Bürger.

Es ist ja geradezu absurd, wenn die Stadt München künftig Frauen nachts einen 5-Euro-Gutschein aushändigen will, damit sie ein Taxi statt der U-oder S-Bahn benutzen können – es ist wie die Wahrheit, die durch die Hintertür hereinkommt: Deutschland ist nicht mehr sicher, schon gar nicht für Frauen. Offiziell erklären aber mag dies keiner. Es käme ja einer Art Selbstkritik gleich. Makaber, dass in diesen Tagen die FAZ davon schrieb, es sei eine „Binse“, also jedermann bekannt, dass die Kriminalität der Zuwanderer weit oberhalb des Üblichen läge. Ja, ist das eine Binse, wegen der als rechtsradikal diffamiert wurde, wer darauf hingewiesen hat? Jetzt holt die Binse die Schönschreiber ein.

In dieses Szenario einer verdrängten Wirklichkeit, die mit der täglich erfahrbaren Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat, fällt die mildernde Tatbeurteilung der Frankfurter Staatsanwälte im Fall des Bahnsteig-Mordes. Wer die Sorgen der Bürger jahrelang nicht ernst nimmt, sie verspottet oder beschimpft, darf sich nicht wundern, wenn sich irgendwann die Bereitschaft erschöpft, feinsinnige juristische Sophistereien über die Interpretation von Heimtücke nachzuempfinden.

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