Tichys Einblick
Angela Merkel

Der schwere Abschied von der Macht

Nein, hier geht es nicht um Kritik an Merkels katastrophaler Politik. Warum Mächtige so schwer von der Macht lassen können und warum Demokratie eigentlich ein System der Entmachtung ist.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images
Nichts ist so schwer wie Abschied von der Macht. In der Nacht, in der er die Wahl verlor, trat Helmut Kohl auf die Bühne des Konrad-Adenauer-Hauses und gratulierte Gerhard Schröder zum Erfolg: „So ist Demokratie“. Es war ein großer Satz. Er hat ihm persönlich nichts genützt. Draußen demonstrierten Jusos bereits höhnisch und führten eine Art Triumphzug vor die CDU-Zentrale mit schräger Musik. Gerhard Schröder und Joschka Fischer ließen gegenüber die Sektgläser klingen im Licht der TV-Scheinwerfer, die bei der CDU gerade ausgingen, rank und schlank die beiden damals, ein Generationensprung. Machtübergang ist eine schwierige Angelegenheit; freiwillig geht keiner und wie wir gerade erleben: keine. Niederlagen sind bitter. Demokratie ist der geordnete Übergang der Macht; das wissen die Gewählten und wissen es doch nicht, wenn sie es erleben müssen.

Einige Jahre später: Die knappe Wahlniederlage – ein Schock für Schröder. Sein TV-Auftritt am Abend der verlorenen Wahl eine historische Ikone; Schröder sichtlich unter Drogen stehend mit dem Satz über Merkel: „Die kann es nicht“.

Es ist ein Schlüsselsatz, der erklärt, warum der Abschied von der Macht so schwer ist: Wer oben steht, für den sind alle unten Zwerge. Und ein Zwerg stößt den Giganten vom Gipfel? Unmöglich, und dann noch ein demütigender Vorgang für fallende Giganten. Deswegen verteidigen sie ihren Gipfel gegen alle Nachfolger und gegen den eigenen Körper, wie es Angela Merkel tut. Amtsaufgabe, Niederlage und Leere sind keine Option für die, die alles haben und deren Tag, Verstand und Bewusstsein jede Minute durchgetaktet ist von einem gnadenlosen Terminkalender, der keine Nachdenklichkeit zulässt. Noch. Bis die ganz große Nachdenklichkeit sich ausbreitet, Raum schafft, in dem der Betreffende sich verirrt.

Merkel hat gezögert, erneut zur Kanzlerin zu kandidieren vor der vorerst letzten Bundestagswahl. Sie hatte immer schon kokettiert mit der Überlegung, Macht aufzugeben. Hat erzählt, wie es ist, wenn sie mal nicht erkannt wird, hat sich lustig gemacht über sich selbst und die Gier nach Erkannt-Werden.

Aber dann wirken die Bücklinge des Hofstaats, der Jubel der Parteipresse, die Verachtung für den Machtkonkurrenten (was bei Martin Schulz leicht nachvollziehbar war), das Gefühl, die historische Aufgabe noch nicht erfüllt zu haben, der Größenwahn und der Rausch der Macht und die Blendung vom Strahlenglanz der eigenen Unersetzlichkeit.

„Ich schaffe das!“ ist zu ihrem persönlichen Mantra geworden. Autokratien verlängern das Leben der Herrscher und versuchen, Wirken vorzutäuschen. Papst Johannes Paul II. ließ die Welt an seinem körperlichen Verfall teilnehmen, erschütternd die Bilder seines Leidenswegs. Der Nachfolger Christi stirbt nicht hingerichtet am Kreuz, sondern trotz modernster Medizin an ihren Schläuchen hängend. Papst ist kein Wahlamt, sondern von Gott verliehen. Man kann weder wegnehmen, was Gott gegeben hat, noch es abgeben wie einen alten Mantel – das war die Botschaft.

Sein Nachfolger, Benedikt XVI., hat genau das getan – ist zurückgetreten, die Inflationierung der Päpste entwertet die unaufgebbare Heiligkeit des Amtes, die Johannes Paul demonstrierte – Kirche ist keine Demokratie. Und die katholische Kirche hat, wie der Diktator und Massenmörder Josef Stalin anmerkte, keine Divisionen. Deutschland hat auch keine mehr – aber es ist auch keine Kirche. Ein Staat kann die Papst-Show nicht lange durchstehen und braucht einen handlungsfähigen Kanzler – notfalls den stellvertretenden Kanzler. Das ist Olaf Scholz. Aber klar wäre auch: Dies kann nur eine vorübergehende Vertretung sein.

In den Wochen nach der Abwahl bis zur endgültigen Amtsübergabe irrte Kohl wie verstört durch das Land; wie ein König, dessen Land untergegangen war. Angela Merkel sorgte für seine komplette Entmachtung, die seiner Getreuen in der Partei auch, ließ Kohl kein Fitzelchen Ansehen, keinen Ehrenvorsitz, nichts, was den Schmerz hätte lindern können. Kohl-Vorgänger Helmut Schmidt wurde von seiner Partei wie später dann auch Schröder geradezu ausradiert aus den Geschichtsbüchern der sozialdemokratischen Helden. Er versank jahrelang in Schweigen, ehe er als Herausgeber der ZEIT begann, auf deren Redaktionsveranstaltungen stundenlang zu monologisieren, als säße er noch am Kabinettstisch und um spät zum ganz großen Welterklärer aufzusteigen, der sogar das Versagen seiner Regierung vergessen machen konnte.

Gefallenen Fürsten errichtete man Reiterdenkmäler oder gewaltige Mausoleen. Abgewählten Demokraten nimmt man alles, oder jedenfalls fast. Ex-SPD-Chef Rudolf Scharping repräsentiert die Fahrradfahrer, Ex-Präsident Wulff die deutschen Sänger. Kein Amt ist zu klein, als dass sie es nicht verteidigen würden, wenn das große Amt erst weg ist. Und meist nimmt man ihnen auch das kleine. Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Diktatoren werden nicht abgesetzt, sondern umgebracht; zuletzt Ceaucescu, Ghadaffi. Abgewählte überleben, sie leiden genug an sich selbst und gehen am Verlust zugrunde. Dass die Abwahl das Kernmodell der Demokratie ist – Theorie. Das eigene, das verletzte Ego kann es nicht akzeptieren.

Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zogen sich verbittert zurück. Willy Brandt, der große Kommunikator, fast gelähmt und wie versteinert nach dem Amtsverlust, von einer späten Liebe von Partei und Macht abgeschirmt und einsam beerdigt: „Wer viele Frauen hat, hat keine Witwe“, schrieb ihm Franz-Josef Wagner damals die Grabrede, die kein Regierungs- oder Parteivertreter halten durfte.

Den besten Abschied aller Verlierer hat Gerhard Schröder bewältigt: Viel Geld und schöne Frauen – diese einfache Formel tröstet. Mit einer neuen, schönen Frau flog Joschka Fischer in den Hochzeitsurlaub nach der Abwahl; allerdings mit Billigflieger, was ihn mächtig ärgerte. Er wusste es schnell zu ändern: Geld ersetzte politische Macht und ein protziger Neubau im Grunewald war der Beweis dafür; fotogen mit damals futuristischer E-Auto-Ladesäule des Energiekonzerns, den er repräsentierte. Vermutlich hat niemand dort jemals sein E-Auto geladen – ein Abzocktrick. Der rotzfreche wie geldlustgierige Abschied des Duos Schröder/Fischer zeigt: Manchmal ist Politik ganz einfach bloß der Zugang zum guten Leben; und gut ist es, wenn es so weitergeht.

Aber was bleibt für Merkel?

Die Unersetzlichen

Was bleibt für einen Menschen, für den der 20-Stundentag, die ständige persönliche Nähe zu Präsidenten, Diktatoren und Konzernchefs ebenso selbstverständlich ist wie das Gefühl, ganz oben zu stehen und oben stehen zu müssen? Wer das Spiel mit der Macht auf globaler Ebene beherrscht, die Akteure von Putin bis Trump so nah erlebt, deren Weißes in den Augen sieht, die Finten eines Erdogan vorausahnt, die Fallen der Opposition kennt und sie ihnen daher selber stellt und Menschen wie Medien lenkt und manipuliert – so jemand hält sich für unersetzlich, es geht gar nicht anders. Er oder sie muss sich für unersetzlich halten.

Das ist nicht nur Selbstüberschätzung: Es gibt keinen Nachfolger, der diese intimen Einsichten und Kenntnisse hat – und am Ende geht es immer um die Zukunft des so verletzlichen blauen Planeten, der durch Krieg oder Katastrophen gefährdet ist. Helmut Schmidt hielt seinen Nachfolger Kohl für einen unfähigen Trottel, und tatsächlich musste der erst üben, wo am Ende des roten Teppichs „rechts kehrt“ gemacht und gegrüßt wird und dass es sich nicht gehört, einen Finanzminister per Wangenkuss zu begrüßen. Der ist Staatsoberhäuptern vorbehalten. Aber am Ende seiner Amtszeit wusste er es wie alles andere auch und hat es Schäuble nicht zugetraut ihm nachzufolgen und diesem Schröder-Lümmel schon gar nicht. Was ja auch stimmte, denn Schröders erste Legislaturperiode war eine üble Lernzeit für Deutschland, nicht nur was rote Teppiche betrifft.

Merkel weiß das alles längst. Sie ist nicht so leicht mit Ersatzdrogen zu befriedigen wie Schröder. Sie hat selbst dazu beigetragen, Helmut Kohl nach dem Sturz als Kanzler auch noch aus dem CDU-Vorsitz zu verjagen und in die bedrückende Enge des Eigenheims zu Oggersheim, wo eine viel jüngere Verehrerin ihn als großen Helden pflegte und das Leben nach dem Amt unterstützte. Wen hätte Merkel? Wer tröstete sie?

Deswegen ging Merkel in die Verlängerung, in der sie jetzt so sichtbar die Kraft verliert. Oder sind frühere Fehlentscheidungen auch schon so zu erklären?

Kann man ein Land auch im Sitzen regieren? Einige Zeit schon. Von der SPD droht keine Gefahr, die klammert sich an die Regierung und Ämter, weil sie weiß: Nach der nächsten Wahl geht der Stimmenschnitter durch ihre Reihen und mäht sie hin. Also wird die Kanzlerin gestützt, machtvolle Opposition fällt aus.

Deswegen wird Merkel Kanzlerin bleiben. Wenigstens noch etwas länger. Das war ja immer ihr Trick: Stoisch erst mal in die Verlängerung gehen. Vielleicht stolpert dann einer und sie bleibt doch wieder als Siegerin über. Glaubt noch jemand an Annegret Kramp-Karrenbauer?

Das Gefährliche an der Macht ist nicht die Macht, sondern die Ja-Sagerei der Umgebung. Untertanengeist wächst mit jedem Tag. Bald sind die Machthaber blind und leben in einem Schattenreich, das ihre Ja-Sager für sie herbeizaubern. Ihre Residenzen sind abgeschottete Reiche, in denen die Welt funktioniert. Außerhalb wächst das Versagen, aber die Nachrichten darüber sind zunehmend gefärbt und geschönt und der Rest gefiltert. Auf Erich Honeckers Urlaubs-Strecke an die Ostsee waren die Häuser bis zu jener Höhe gut anzusehen, zu der er aus seinem weichen Citroën schauen konnte. Darüber der Verfall. Er war vermutlich fest davon überzeugt, dass die Zahlen der staatlichen Plankommission richtig sind, wonach die DDR auf Platz 16 der größten Industriestaaten rangiert; dabei war es rauchender Plunder, finanziell bankrott. Stasi-Chef Erich Mielke dirigierte die größte Truppe mit den Unterabteilungen Guck, Lausch & Greif. „Ich liebe euch doch alle“ rief er zu einem Zeitpunkt, an dem die Bürger alles andere wollten, als von ihm geliebt zu werden. Das hatten ihm seine Späher in den Schlafzimmern wohl nicht vermittelt. Je größer die Macht, um so blinder die Machthaber, weil sie kritische Meldungen ausblenden können, nicht an sich heranlassen müssen.

Das gilt auch, wenn Demokraten zu lange an der Macht bleiben, denn die Mechanismen der schleichenden Erblindung, die von den Höflingen und Ja-Sagern bedient werden, sind in allen Systemen, in Demokratie wie Diktatur, in Wirtschaft wie Politik identisch, überall werkeln die Erbauer Potemkinscher Dörfer an schönen Fassaden, an denen Schlitten der Zarin Katharina mit klingelnden Glöckchen vorbeigleiten, und bestätigen so das Gefühl der Unersetzlichkeit – wahlweise der selbstempfundenen Pflicht, „ich schaffe das“.

Auch wenn sie es längst nicht mehr schaffen.

Auch weil das so ist, wurde die Demokratie erfunden – die Machthaber werden einfach periodisch ausgesondert, dann muss man nicht ihren Tod sehnlich erwarten oder dafür sorgen, dass er eintritt. Demokratie ist ein gewaltiger Fortschritt, man muss sie nur wirken lassen, auch wenn es den Mächtigen nicht gefällt. Die kritischen Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bauten eine weitere Sicherheit ein: Die Beschränkung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden. Das ist ungeheuer klug – es schützt die Gesellschaft vor der unvermeidlichen Zementierung der Macht durch einen langjährigen Amtsinhaber und den Auswucherungen und Überwucherungen durch dessen Günstlinge. Es schützt aber auch den Mächtigen vor sich selbst: Er oder sie wird nicht zum „Verlierer“ – sondern automatisch zum Elder Statesman, gern auch Stateswoman. Er oder sie kann in Würde sein Haus übergeben.

Je länger aber ein Machthaber seine eigene Vergänglichkeit hinauszögert, umso schmerzhafter wird der Abschied, umso tiefer der Sturz, um so quälender der Pensionsschock, um so kürzer die Lebensphase, die man jedem gönnt, der sich im Amt verzehrt hat, umso geringer auch die Unversöhnlichkeit zwischen jenen, die den Noch-Machthaber verehren, und jenen, die ihn um jeden Preis loshaben wollen.

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