Tichys Einblick
Die Instrumentalisierung muss enden

Zwei Jahre Hanau – Zwei Jahre Verleugnung

Hanau war kein Einzelfall - auch hier wird die Tat eines Psychotikers für politische Grabenkämpfe instrumentalisiert. Sogar für die Hamas. Doch Tobias Rathjen war kein organisierter rechtsterroristischer Verschwörer, sondern Psychotiker. Das macht ihn nicht minder gefährlich.

IMAGO / Nicolaj Zownir

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, tötete der 43-jährige Tobias Rathjen in Hanau zehn Menschen erbarmungslos und richtete sich danach selbst. Neun der unschuldigen Opfer hatten einen Migrationshintergrund – das zehnte war die Mutter des Täters. Sofort drängte sich der Verdacht auf, dass Rathjen aus rechtsextremistischer Motivation gehandelt haben könnte – doch dann wurde schnell klar, dass der Mann schwer krank war. Tobias Rathjen litt an einer diagnostizierten paranoiden Schizophrenie und war in den abstrusen und gewalttätigen Wahnfantasien gefangen, die er kurz vor der Tat in einem wirren Manifest und Video im Internet veröffentlichte.

Er glaubte an unsichtbare Geheimverschwörungen, den Satan und unterirdische Anlagen, in denen Kinder gefoltert und ermordet werden, daran, dass Jürgen Klopp und Donald Trump ihm seine Ideen gestohlen hätten, er entwickelte Pläne zur Neuordnung der Welt und hielt sich selbst für den Auserwählten: einen Menschen mit tiefen Kenntnissen und ungewöhnlichen Fähigkeiten, mit denen er das Weltgeschehen auf nichtphysischem Wege – also telepathisch – lenken kann. Rathjen litt offensichtlich unter Verfolgungs- und Größenwahn sowie unter Halluzinationen – doch das passte nicht ins Narrativ. Bis heute spricht in Politik und Medien niemand von einem gewalttätigen Psychotiker, sondern nur von einem rechtsterroristischen Anschlag und einem strukturellen Rassismusproblem, auf Demonstrationen heißt es, die AfD habe mitgeschossen. Doch damit wird die schreckliche Tat instrumentalisiert, das eigentliche Problem völlig verkannt.

Das Problem, das keiner sehen will
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Auch dieses Jahr gab es bei der jährlichen Gedenkfeier in Hanau große Anteilnahme für die Angehörigen der Opfer – und große Worte. Bundesinnenministerin Nancy Faeser kam persönlich zu der Gedenkkundgebung auf dem Hanauer Friedhof. In ihrer Rede sagte sie: „Der Anschlag von Hanau hat erneut auf schreckliche Art und Weise gezeigt, nichts bedroht das friedliche Zusammenleben unserer Gesellschaft derzeit so sehr wie der Rechtsextremismus. Deshalb hat dessen Bekämpfung für mich oberste Priorität.“ – die üblichen Floskeln, kein Wort über die Krankheit des Täters. Dasselbe Bild zeigte sich auch in Berlin und anderen Städten, wo am Samstag große Demonstrationen und Solidaritätskundgebungen stattfanden.

In Berlin-Neukölln versammelten tausende Menschen, um gegen „jeden Rassismus“ zu demonstrieren – in Solidarität mit den Opfern von Hanau und der 17-jährigen Dilan, die vor einiger Zeit aus rassistischen Motiven an einem Berliner Bahnhof attackiert wurde. Auf dem Demozug nach Kreuzberg skandierten die Demonstranten angeführt von der „Migrantifa“ (Migrantische Antifa) dann Parolen wie „Yallah Intifada – von Hanau bis nach Gaza“ und lebten ihren Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antirassismus offen auf der Straße aus. Die Tat von Hanau für den Kampf gegen Israel zu instrumentalisieren, ist besonders deshalb so ungeheuerlich, weil Rathjen selbst in seinem Manifest die Auslöschung Israels forderte.

Ja, Hanau ist kein Einzelfall 

Gegenüber den Opfern ist diese Instrumentalisierung ein Schlag ins Gesicht – meines Empfindes nach eine Schande. Die neun jungen Menschen und Rathjens Mutter starben nicht wegen organisiertem rechtsextremen Terrorismus mit politischen Netzwerken im Hintergrund, sondern wegen einer Krankheit, mit der sich niemand beschäftigen will. Und wegen der Handlungsunfähigkeit oder besser gesagt, dem Handlungsunwillen unseres Staates. Die Demonstranten haben in einem Punkt recht: Hanau ist kein Einzelfall. Gewalttätige Ausbrüche schizophrener Menschen sind leider keine Seltenheit, sondern an der Tagesordnung – Hanau, Würzburg und Kongsberg sind nur besonders schreckliche Beispiele, die durch die hohe Opferzahl in das öffentliche Interesse gerückt sind. Gewalttätige Psychotiker haben ein immenses Bedrohungspotential, eines das dem politisch motivierten kaum nachsteht und trotzdem in den meisten Fällen einfach ignoriert wird. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, für jeden der zur falschen Zeit am falschen Ort ist, und für sich selbst. Bei meiner Arbeit in einem Berliner Betreuungsbüro habe ich über die Jahre viele solcher traurigen Schicksale und gewalttätigen Ausbrüche miterlebt.

Von der wahren Instrumentalisierung
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Dabei muss man zunächst realisieren, dass Schizophrenie keine seltene psychische Störung ist – etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung erkrankt im Laufe ihres Lebens. Die meisten Menschen, die an dieser Krankheit leiden, sind weitestgehend harmlos und können unter medikamentöser Behandlung ein den Umständen entsprechend normales Leben führen. Es gibt aber einen kleinen und trotzdem sehr bedeutenden Teil der Erkrankten, die ein hohes Risiko zu gewalttätigem, selbstverleztendem und aggressivem Verhalten haben – und das sind in allererster Linie paranoid Schizophrene wie Rathjen, die an Verfolgungswahn, Bedrohungserleben, Halluzinationen und Behandlungsuneinsichtigkeit leiden. Sie bleiben aufgrund der gesetzlichen Regelungen, die es fast unmöglich machen, jemanden gegen seinen Willen zu behandeln, über Jahre ohne medizinische und psychiatrische Versorgung und rutschen so immer tiefer in die Verwahrlosung und ihren Wahn, sodass sie mit der Zeit auch immer behandlungsresistenter werden. Ich arbeite in einem Betreuungsbüro – von 119 Klienten sind hier insgesamt 52 genau solche chronifizierten Psychotiker. Das sind Menschen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben.

Die Wahninhalte und Wahnformen der Betroffenen sind dabei sehr divers, zeigen aber trotzdem immer wieder dieselben Muster. Der Verfolgungswahn richtet sich immer auf ein Objekt mit akuten Bedrohungsgefühl – die Wahnfantasien reichen von Aliens, über die CIA und die Stasi, bis hin zu religiösen und politischen Ideologien, so wie im Fall Hanaus. Einer unserer Betreuten dachte, dass er und seine Familie von der türkischen Mafia verfolgt werden und reiste auf der Flucht vor ihnen und getrieben durch die Stimmen in seinem Kopf von Stadt zu Stadt. Eine andere Klientin glaubte, sie würde von der italienischen Mafia verfolgt werden und wähnte sich gleichzeitig im Griff der katholischen Kirche, die an ihr eine Therapie des Teufels durchführen wollte, woraufhin sie ihre lebensnotwendigen und -erhaltenden Medikamente absetze. Ein Mann verwandelte sich nachts in Batman und jagte Nazis, wieder ein anderer hielt sich erst für George Clooney und dann für Hitler, bis er seine eigene Mutter mit zahllosen Messerstichen brutal umbrachte. Enge Bezugspersonen und Verwandte sind die häufigsten Tatopfer schizophren Erkrankter und es ist interessanter-, wie traurigerweise, in besonderer Häufigkeit der Mord an der eigenen Mutter zu beobachten. Sie wird häufig als feindlicher Agent in das Wahnkonstrukt eingebaut und/oder versucht das kranke Kind zu begrenzen, worauf es mit unkontrollierter Aggression reagiert.

Gedanken zu den Morden in Hanau
Ein junger Mann, den wir betreuten, griff nach genau so einer Situation, der ein heftiger Streit folgte, seine Mutter an und attackierte sie mit Schlägen und Tritten. Dann stahl er ihre Autoschlüssel, setzte sich ohne Führerschein ans Steuer ihres Wagens und fuhr mit dem Auto quer durch Deutschland. Auf dem Weg beschädigte er diverse Autos, verursachte Unfälle, tangierte andere Fahrer auf der Autobahn und fiel so schließlich der Polizei auf. Trotz mehrfacher Aufforderung ignorierte er jedes Anhaltezeichen der Beamten und lieferte sich eine wilde Verfolgungsjagd, bei der die Polizisten am Ende so lange auf die Reifen und das Fahrzeug schossen, bis es zum Stehen kam. Noch bei der Festnahme aus dem völlig zerlöcherten Auto verletzte der junge Mann zwei Polizisten. Er glaubte, dass das LKA ihm Computerchips in sein Gehirn implantiert hatte und so seinen Geist kontrollierte. Es grenzte an ein Wunder, dass durch seine Wahnfahrt niemand außer ihm selbst verletzt wurde. Das hätte ganz anders ausgehen können.
Wie allumfassend der Realitätsverlust solcher Menschen seien kann, kann man sich ohne die direkte Konfrontation wahrscheinlich kaum vorstellen

Die Bedrohung durch vermeintlichen Verfolger bzw. Verschwörer, wie hier dem LKA oder bei Rathjen der Geheimbund und die „minderwertigen Nicht-Weißen“ (laut Manifest war außer ihm aber im Prinzip jeder minderwertig), ist für Schizophrene so real wie für uns alle Dinge des täglichen Geschehens. Wir sehen ein Wahlplakat mit irgendeiner politischen Floskel an der Straße und denken uns nichts dabei – ein Schizophrener sieht dabei unter Umständen eine persönliche Botschaft, Hinweise auf eine Verschwörung gegen ihn. Er bezieht alles auf sich und baut fremde Menschen oder Dinge in sein Wahnkonstrukt ein. Genauso war es auch, als eine ehemalige Betreute von uns auf der Straße einer Frau mit einem Baby begegnete: Sie sah vor sich eine Agentin der Nationalsozialisten, die eine Latexpuppe im Kinderwagen vor sich herschob, mit der unsere Betreute überwacht wurde. Also stürzte sie sich auf den Säugling und würgte ihn beinahe zu Tode. Für die schizophrene Frau war das eine Art Selbstverteidigung. Sie erzählte mir im Gefängniskrankenhaus später unter Tränen und wütenden Schreien, ihre ganze Familie sei von den Nazis ermordet worden und sie würde noch immer von ihnen verfolgt werden. Was sie der jungen Mutter, ihrem Baby und einem zu Hilfe eilenden Passanten angetan hatte, war ihr überhaupt nicht bewusst. Sie hielt die Anschuldigungen, die man ihr vorbrachte, nur für weitere Lügen und Intrigen.

Wie allumfassend der Realitätsverlust solcher Menschen sein kann, kann man sich ohne die direkte Konfrontation wahrscheinlich kaum vorstellen. Er kann alle normalen menschlichen Reaktionen, Gefühle, Impulse und Handlungen völlig aushebeln. So lag eine unserer Betreuten drei Wochen lang neben ihrer toten Tante im Ehebett. Sie hatte bei der dementen Frau gewohnt und nicht gemerkt, dass sie eines Tages verstorben war. In ihrer Realität lebte die Tante weiter. Erst als die Nachbarn sich wegen massiver Geruchsbelästigung beschwert und die Polizei gerufen hatten, wurde unsere Betreute aus der Wohnung geholt. Sie lag in ihrem eigenen Kot und Urin, völlig abgemagert neben der Toten im Bett, umgeben von zahllosen Maden und Fliegen, die sich an der verwesenden Leiche zu schaffen machten. Die Frau war selbst in einem lebensbedrohlichen Gesundheitszustand – nur ein Beispiel dafür, dass die Nichtbehandlung akuter Psychotiker nicht nur zu einer Bedrohung für andere, sondern auch zu einer Bedrohung für das eigene Leben werden kann.

Das war keine Schießerei
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Eine erhebliche Zahl solcher Menschen nimmt sich früher oder später sogar aktiv das Leben – wie eine ältere Frau, die ihrem Pfleger sagte „ich hol mir ein Stück Kuchen“ und dann unvermittelt aus dem Fenster im vierten Stock sprang. Andere sterben an Verwahrlosung, durch mangelnde medizinische Versorgung, offene nekrotisierende Wunden oder sie werden selbst Opfer von Gewalt. Eine junge, extrem kindliche Frau, die wir betreuten, lief aufgrund ihres Wahns immer gänzlich nackt durch die Gegend und wurde so mehrfach Opfer von sexuellem Missbrauch. Daneben hatte sie eine wahnhafte Angst vor Verunreinigung, was dazu führte, dass sie irgendwann begann, chemische Reinigungsmittel zu trinken. Sie war ein Stammgast in der Psychiatrie, verweigerte dort die Medikation, ging ein und wieder aus – ob erlaubt oder nicht. Auf den geschlossenen psychiatrischen Stationen der Berliner Krankenhäuser (richtige Psychiatrien gibt es bei uns dank der Enthospitalisierungs- und Antipsychiatriebewegung nicht mehr) haben Patienten das Recht auf Ausgang, wenn es keinen großen Hof gibt – egal, warum sie da sind und wie akut ihr Zustand ist. Von den Ausgängen kommen sie dann häufig nicht wieder. Und selbst wenn ihnen die Tür nicht gleich geöffnet wird: sie finden einen Weg aus dem Krankenhaus. Schizophrene sind krank, aber nicht dumm, innerhalb ihres Wahns sind sie sogar oft sehr clever. Einer unserer Klienten etwa legte einen Brand, um zu fliehen. Ein anderer verkleidete sich als Reinigungskraft.
Um frühzeitig eingreifen zu können, bedarf es einer Gesetzesanpassung

Davon abgesehen gilt generell leider: Bis es überhaupt soweit kommt, dass ein Mensch gegen seinen Willen in die Psychiatrie gebracht und zwangsmedikamentiert wird, ist es meist schon zu spät. Dann ist oft schon jemand zu Schaden gekommen. Die allermeisten Psychotiker kommen mit Feuerwehr und Polizei ins Krankenhaus, nachdem sie jemanden massiv bedroht, angegriffen oder ihr eigenes Leben gefährdet haben. Sie werden dann nach PsychKG (dem Gesetzt für psychisch Kranke) untergebracht, nachdem eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegen muss. Eine präventive Behandlung wird in der Regel nicht vom Gericht genehmigt, das ist gesetzlich sehr streng geregelt – im Zweifel entscheidet man immer für die vermeintliche Freiheit des Kranken, auch wenn man ihn damit in seiner Psychose gefangen hält und ihm sowie auch anderen schadet. Manfred Lütz, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Köln, sagte einmal: „Die Vorenthaltung einer psychiatrischen Behandlung ist im Grunde unterlassene Hilfeleistung“ – dem würde ich hundert Prozent zustimmen, nur mit der Ergänzung, dass sie auch eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit ist.

Das Thema Zwangsbehandlung oder -einweisung ist nie schön. Im Gegenteil – es ist unangenehm und weckt schnell Assoziationen zu dunklen Zeiten der deutschen Geschichte. Aber es ist dennoch notwendig und hochaktuell. Erst wenn Ärzte und Betreuer bei Gefahrenpotential auch gegen den Willen des Patienten dafür sorgen können, dass er untergebracht und medizinisch wie psychiatrisch behandelt wird, kann man Betroffene vor sich selbst und andere vor ihnen schützen. Um frühzeitig eingreifen zu können, bedarf es einer Gesetzesanpassung, die ihnen einen größeren Handlungsspielraum zuspricht. Genau wie Gesundheits- und Sicherheits-Behörden zusammenarbeiten, anstatt wegen Datenschutzgründen die Kooperation zu verweigern. Genau so war es nämlich bei Tobias Rathjen in Hanau. Das Manifest, das dem Generalbundesanwalt vorlag, durfte nicht an den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergeleitet werden (TE berichtete). Diese Abteilung des Gesundheitsamtes hätte theoretisch ein Betreuungsverfahren anregen, eine Unterbringung veranlassen oder dem Mann schlicht die Waffenlizenz entziehen können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die zehn unschuldigen Opfer des psychisch schwerkranken Tobias Rathjen dann heute noch leben.

Solange sich an der Politik und Gesetzeslage nichts ändert, wird es immer wieder zu gewalttätigen Ausbrüchen von Psychotikern kommen, die man hätte verhindern können. Solange trägt der Staat bzw. die Regierung an jedem Opfer, sei es der Erkrankte selbst oder ein unschuldiger Passant, eine Mitschuld.

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