Tichys Einblick
Liberale, die sich von der Freiheit befreiten

Wo sind die Liberalen hin, wo sind sie geblieben?

Es lässt sich lange darüber streiten, ob die FDP jemals eine im klassischen Sinne liberale Partei war, doch kann man den aktuellen Führungskräften der FDP nicht vorwerfen, dass sie den Liberalismus verworfen oder verraten hätten, sie kennen ihn nicht einmal.

Bundesfinanzminister Christian Lindner, 28.3.2022.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Das einzige, was Christian Lindner mit dem Liberalismus gemein hat, ist der Anfangsbuchstabe seines Nachnamens. Es lässt sich lange darüber streiten, ob die FDP jemals eine im klassischen Sinne liberale Partei war, doch kann man den aktuellen Führungskräften der FDP nicht vorwerfen, dass sie den Liberalismus verworfen oder verraten hätten, sie kennen ihn nicht einmal.

Gerade eben erzwangen Studenten, die Ideologie mit Wissenschaft verwechseln, dass zur „Langen Nacht der Wissenschaft“ ein Vortrag zum Thema der sexuellen Binarität, zur simplen naturwissenschaftlichen Wahrheit, dass biologisch nur zwei Geschlechter existieren, abgesagt wurde, weil die Humboldt Universität nicht für die Sicherheit der Veranstaltung garantieren kann oder will. Für die Wissenschaft scheint in Deutschland wirklich eine lange, sehr tiefe Nacht angebrochen zu sein, nicht mehr wissenschaftliche Fakten zählen, sondern die richtige ideologische Haltung.

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Wenn inzwischen – aus welchen Gründen auch immer – Lobbygruppen einer sehr kleinen Community eine unvergleichliche Macht in Deutschland ausüben und ihre Vorstellungen zu einer Art Über-Grundgesetz erheben, fällt das Land in einen Irrationalismus, für den die Freiheit der Wissenschaft unverständlich ist, zurück. Ein Justizminister, der diese neue Wissenschaftsfeindlichkeit und diesen neuen Irrationalismus sogar in Gesetzform gießt, kann nicht als liberal gelten, weil er damit die Freiheit der Wissenschaft außer Kraft setzt. Er agiert sogar gegen das Grundgesetz, wenn er die Meinungsfreiheit beschränkt, indem er unsachgemäße Anreden im Gesetz mit 2.500 Euro Strafe ahnden will. Fragen Sie also künftig jeden Fremden, wie „Gendersternchen unten Binnen I Gendersternchen oben“ angesprochen werden möchte, wenn sie nicht riskieren wollen wegen einer falschen Anrede 2.500 Euro Strafe zahlen zu müssen.

Alles, was „normal“ ist, das Wort selbst, ist inzwischen verdächtig, ist rechts, ist sogar diskriminierend. Dabei bezieht sich das Adjektiv normal nur auf eine geltende Norm, die nicht nur gesellschaftlich vereinbart ist, sondern deren Vereinbarung sich auf naturwissenschaftliche Tatsachen stützt. Die Norm sagt nichts darüber aus, dass erstens nicht andere Normen existieren können und zweitens, dass alle an diese Norm gebunden sind. Das wird aber wahrheitswidrig unterstellt und vor allem wird eine neue Norm mithilfe des Gesetzes durchgesetzt, die zwar gesellschaftliche Vereinbarung werden kann, die aber im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Tatsachen und zu den für die Entwicklung der Gesellschaft notwendigen Voraussetzungen steht.

Das Gesetz des Ministers Buschmann sorgt nicht für Freiheit, sondern es kassiert Freiheit, erstens die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung, in dem es die Erziehungsfreiheit der Eltern außer Kraft setzt und durch ungerechtfertigte Durchgriffsrechte von Familiengerichte ersetzt, zweitens die Freiheit der Frauen sich sicher in geschützten Räumen zu bewegen, wenn nun ihre Umkleideräume für Männer geöffnet werden, die sich als Frauen empfinden.

amilienministerin Paus, die sich auf die Freiheit von Wissen und Kenntnissen berufen darf, wiegelte auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gesetzes auf die Nachfrage zu diesem Problem patzig ab: „Transfrauen sind Frauen. Und deswegen sehe ich da jetzt keinen weiteren Erörterungsbedarf“. Und weil die Erde eine Scheibe ist, müssen wir sehr darauf achten, dass niemand am Rand herunterfällt.

Drittens kassiert das Gesetz die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, indem es ein ideologisches, von keiner naturwissenschaftliche Erkenntnis berührten Dogma zur Grundlage bestimmt, juristisch einfach voraussetzt, dass mehr als zwei Geschlechter existierten und die biologische Geschlechtlichkeit nur Konvention und demzufolge frei wählbar sei.

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Viertens werden die Rechte der Eltern eingeschränkt. Fünftens versündigen sich Buschmann und Paus am Kindeswohl. Ob Kinder unter ihrem Gesetz künftig leiden, ob Erwachsene bitter bereuen, dass sie einen Schritt unternommen haben, vor dem man sie als Kinder hätte bewahren können, wenn der FDP-Politiker Buschmann mehr Geist, denn Zeitgeist bewiesen, mehr Liberalität als Dogmatismus bevorzugt, mehr Wissen, denn Ideologie genossen hätte, interessiert die beiden Minister herzlich wenig.

Das Gesetz fördert de facto eine Vorstellung von Geschlechtlichkeit, die wissenschaftliche Meinungen verdrängen, wenn nicht sogar kriminalisieren muss, wenn sie denn Bestand haben will. In der frühen Neuzeit benötigte man noch den Scheiterhaufen und den Inquisitionsprozess, um das Dogma zu halten, dass die Erde im Mittelpunkt des Sonnensystems steht.

Wäre es anders, hätten sich die Opponenten zum wissenschaftlichen Vortrag der Biologin eingefunden und sich auf eine wissenschaftliche Diskussion eingelassen, anstatt alles dafür zu tun, dass dieser Vortrag abgesetzt wird, weil die Humboldt-Universität nicht für die Sicherheit der Veranstaltung sorgen kann. Aus dem Geist des Verbots entsteht Buschmanns Gesetz.

Früher stand die FDP nicht nur für Freiheit, sondern auch für Wirtschaft. Von Wirtschaft, wie auch vom Rentensystem scheint der FDP-Fraktionsvorsitzende Dürr nicht allzu viel zu verstehen, wenn er im Interview mit der WELT zu erläutern sucht: „Aber wenn wir in Zukunft stabile Renten und stabile Beitrage garantieren wollen, dann ist die einzige Möglichkeit, dass wir unseren Arbeitsmarkt fit machen. Das heißt: Einwanderung in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Das ist eines der wichtigsten Ampelprojekte.“ Zuallererst sollte sich Christian Dürr Gedanken um die jährlich ca 250.000 gut- bis bestausgebildeten Deutsche machen, die jährlich Deutschland verlassen. 2019 waren es laut Statistischem Bundesamt: 270.294 Bürger, im Jahr 2020: 220.239, im Jahr 2021: 247.829, die Deutschland verließen. Er sollte sich ernsthaft die Frage stellen, warum sie das tun und wie Abhilfe geschaffen werden könnte.

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Warum sollen junge Leute, die sehr gut ausgebildet worden sind, wofür alle gern Steuern bezahlen, in einem Land bleiben wollen, in dem sich Leistung nicht mehr lohnt, stattdessen Utopieradikalismus und Staatsalimentierung hoch im Kurs stehen und die Substanz für ein utopistisches Wünschdirwas verfrühstückt wird. In einem Land von Natschalniks und Kommissaren wird der Tüchtige, der Produktive schnell diskriminiert. Die Realität, die Christian Dürr, den in Wahrheit das lästige Thema Rentensicherheit nicht zu interessieren scheint, nicht sieht oder nicht sehen will, lautet, dass massenhaft nicht in den deutschen Arbeitsmarkt, sondern in die deutschen Sozialsysteme eingewandert wird.

Merkels Masseneinwanderung, die unter der Ampel wieder Fahrt aufnimmt, entlasten eben nicht die Sozialsysteme, wozu auch das Rentensystem zählt, sondern sie belasten es – und zwar stark. Es wandern eben nicht Wissenschaftler, Ingenieure oder Facharbeiter ein. (Die Ukrainer sind hier aus besonderen Gründen ausgeklammert.) Irgendwie muss dass Christian Dürr auch zugeben, wenn er im Interview auf die Frage der WELT: „Um es klarzustellen: Sie wünschen sich also auch eine Einwanderung Geringqualifizierter?“ antwortet: „Es geht um dringend nötige Einwanderung auf allen Ebenen in den Arbeitsmarkt. Wer von eigener Hände Arbeit leben kann, der ist willkommen. Denn der zahlt schließlich Steuern und in die Rente ein.“

Bisher wird aber aus der Rentenkasse hauptsächlich genommen. Wird denn angesichts des deutschen Sozialsystems der von seiner Hände Arbeit auch leben wollen, wenn er besser ohne seiner Hände Arbeit lebt? Dürr wirft Nebelkerzen, es geht um die von der SPD und den Grünen geförderte massenhaften Einwanderung. Dürr stellt im Interview die rhetorische Frage: „Stellen Sie sich eine Sekunde vor, wie Deutschland jetzt Anfang Juli aussehen würde, wäre die FDP nicht in der Bundesregierung!“ Die Antwort lautet: auch nicht anders als jetzt. Die FDP treibt mit den Grünen das Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung – siehe oben – voran. Ihr einziger nicht von den Grünen adaptierter, origineller Beitrag zum massiven Ausbau der sogenannten erneuerbaren Energien besteht darin, sie Freiheitsenergien zu nennen, und stellt zudem noch eine semantische Fehlleistung dar.

Bericht einer Studentin
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Ansonsten herrscht auch bei der FDP Utopismus vor, wenn Dürr formuliert: „Genau wie bei den Gaskraftwerken, die in Zukunft auf klimaneutralen Wasserstoff umgestellt werden sollen, wäre es sinnvoll, LNG-Terminals so zu bauen, dass sie eines Tages für Wasserstoff-Importe genutzt werden könnten. Auch der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere Offshore-Windenergie, wird die nötigen Voraussetzungen für die Wasserstoff-Produktion in Deutschland schaffen.“ Noch kein LNG-Terminal ist gebaut, nicht einer, im Gegenteil: zu kleine Leitungen, zu wenig Zeit zur Lösung der Probleme lautet die Antwort der Wirklichkeit auf Habecks wolkige Ankündigungen.

Selbst in der Tagesschau heißt es: „Die beiden LNG-Terminals, die in Schleswig-Holstein und Niedersachsen bis zum Jahreswechsel in Betrieb gehen und Deutschland mit Flüssiggas versorgen sollen, können nach Einschätzung des Verbandes Zukunft Gas möglicherweise nicht rechtzeitig den Betrieb aufnehmen. Die von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck geplante Inbetriebnahme von mindestens zwei LNG-Terminals bis Jahresende könnte sich verzögern.“

Ab wann und wie viel Gas in die Terminals, die noch nicht existieren, strömen wird, darüber besteht zur Stunde zwar noch keine Gewissheit, aber FDP-Fraktionschef Dürr weiß bereits, dass die LNG Terminals eines Tages auch für Wasserstoff-Importe genutzt werden soll. A propos, wo die Grünen vom Windrad träumen, träumt die FDP von der Wasserstofftechnologie, die sich nicht weniger als die Windenenergie eines Tages als Irrweg herausstellen könnte. Dafür vernichten wir die Wälder, versiegeln die Böden, schreddern Vögel wie den Artenschutz und zerstören die Meeresflora und Meeresfauna. So viel Umweltzerstörung wie unter den Grünen und ihren neuen gelben Freunden war noch nie.

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Und Christian Lindner? Der stimmt allem zu, was die Grünen wollen. Er ist so frei. Er preist Tankrabatt und 9 Euro Ticket, er fährt ja nicht Bahn – und tanken muss er auch nicht. Und im seligen Traum vom grünen Wasserstoff, von den e fuels stimmt er dem Aus für die Verbrenner zu. Und so marschiert Deutschland nach dem Willen der Grünen und der FDP in die nächste große Abhängigkeit, um die Energiewende weiter künstlich am Leben zu erhalten, nur diesmal nicht von Russland, sondern von den Ländern der arabischen Halbinsel.

Was Merkels Erdgas war, wird Lindners grüner Wasserstoff werden. Dabei hätte Christian Lindner nur einmal auf Wikipedia schauen müssen, denn dort heißt es: „Da die potenzielle Stromerzeugungskapazität in Europa dafür absehbar nicht ausreicht, soll später auch Wasserstoff aus dem Ausland importiert werden. Die Herstellung ist an allen entweder sonnenreichen oder windreichen Standorten besonders vorteilhaft, also überall dort, wo die Stromgestehungskosten niedrig sind, wie etwa in der schottischen See, der arabischen Halbinsel, Südamerika oder Australien. Der so gewonnene Wasserstoff kann dann beispielsweise mit Tankschiffen oder über Pipelines weitertransportiert werden.“

Übrigens, wird die Ampel, Christian Habeck oder Robert Lindner oder Robert Habeck oder Christian Lindner sicher Segeltanker für den Transport des Wasserstoffs besorgen – wegen des C0-2-Bilanz. Befreit von der lästigen Realität, lebt es sich angenehm.