Tichys Einblick
Kreatives Appeasement

Wie Weihnachten Opfer der Toleranz wurde. Buchstäblich

Schon seit einigen Jahren verschwindet in den USA „Christmas“ von amerikanischen Glückwunschkarten und macht Platz für „Season’s Greetings“ und „Happy Holidays“. Theodore Dalrymple fragt, warum sich sogar Konservative nicht mehr trauen, von Weihnachten zu sprechen.

DIETER NAGL/AFP/Getty Images

Ich bekomme in der Weihnachtszeit Grußkarten von konservativen Institutionen aus den Vereinigten Staaten. Seit einigen Jahren wünscht man mir nicht mehr Merry Christmas (frohe Weihnachten), wie es traditionell auf Englisch heißt, sondern Happy Holidays (glückliche Feiertage).

Tatsächlich, glückliche Feiertage! Welche Feiertage könnten gemeint sein? Man bekommt den Eindruck, dass ein wichtiges Wort vermieden werden soll, um niemanden zu verletzen. Aber wer könnte durch das Wort „Christmas“ verletzt werden? Wer wird wütend allein schon von der Erwähnung von „Christmas“? Diese Karten kommen wohlgemerkt nicht von Revolutionären, sondern von Institutionen, die angeblich versuchen, traditionelle Werte zu bewahren. Hier passiert etwas sehr Merkwürdiges, ja Finsteres.

In der kleinen englischen Stadt, in der ich lebe, gibt es ein indisches Restaurant, das von Muslimen betrieben wird. Sie dekorieren es festlich für Weihnachten, reichen den Gästen Karten, auf denen sie Merry Christmas wünschen und wiederholen die guten Wünsche auch in Worten. Im Gegensatz zu den konservativen Institutionen haben sie keine Hemmungen, es zu tun.

Verletzt durch einen Weihnachtsgruß?

Man könnte jetzt argumentieren, dass der muslimische Restaurantbesitzer ein kommerzielles Interesse daran habe, sich so zu verhalten, und sollten einmal die Muslime die Mehrheit im Lande stellen, so würden sie ihr Verhalten womöglich ändern oder der zukünftigen Minderheit sogar verbieten, Weihnachten zu feiern. Das kann schon sein, aber darum geht es hier nicht. Denn zur Zeit auf jeden Fall fühlen sich die meisten Muslime durch die Weihnachtsfeiern weder verletzt, noch vermeiden sie das Wort, als sei es ein unflätiger Ausdruck. (Nicht als wenn in der angelsächsischen Welt unflätige Ausdrücke sorgfältig vermieden werden würden, im Gegenteil, gerade Intellektuelle benutzen sie unentwegt, nur um zu zeigen, wie demokratisch aufgeklärt und volksnah sie sind.)

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Tatsächlich habe ich noch nie erlebt, dass jemand etwas gegen das Wort „Christmas“ vorgebracht hätte, als wäre es das Äquivalent zum „Allahu-Akbar“-Ruf eines muslimischen Terroristen, bevor er so viele Ungläubige niedermetzelt, wie er nur kann. Da jedoch niemand glaubt, dass irgendein Buddhist, Jude, Sikh, Jain, Konfuzianist oder Taoist etwas gegen den Gebrauch des Wortes „Christmas“ haben könnte, bleiben nur die Muslime als potenzielle Gegner übrig. Und die allermeisten unter ihnen sind in Wirklichkeit nicht dagegen.

Das lässt nur eine einzige Schlussfolgerung zu: Dass die konservativen Institutionen, die mir Happy Holidays statt Merry Christmas wünschen, eine duckmäuserische, vorweggenommene Angst davor zeigen, Leute zu verletzen, die sie für potentiell gewalttätig halten, und sie verklären ihre Unterwürfigkeit und Feigheit als multikulturelle Sensibilität. Ein holländischer Freund von mir bezeichnet dieses Verhalten als „kreatives Appeasement“ und meint damit die ständige Suche der Linksliberalen nach Leuten, denen sie sich unterwerfen könnten, noch bevor diese eine noch so absurde Forderung überhaupt erheben konnten. Das sei die Kurzfassung der holländischen Sozialpolitik, sagte er. Diese Haltung führe allerdings dazu, fuhr er fort, dass die Leute immer wildere Forderungen erheben im Bewusstsein, dass sie gegen eine Tür treten, die nicht nur keine Schlösser hat, sondern auch nicht geschlossen werden kann, egal ob es um Inzest oder die Scharia geht.

Coca-Colas Lust an der Unterwerfung

Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass diese vorweggenommene Angst keineswegs auf die konservativen Institutionen beschränkt ist, die mir diese merkwürdigen Weihnachtskarten schicken. Kurz vor Weihnachten startete Coca Cola eine Werbekampagne mit allem, was dazu gehört: Weihnachtsmann, Rentieren und Schnee, und behauptete, dass das abscheuliche Getränk Freude in jede Festivität bringe, benutzte aber das Wort Holiday statt Christmas. Die Feigheit hat unsere Gesellschaft tief durchdrungen.

Das erklärt, warum Institutionen, die in der Theorie die Tugenden der Gründerväter – Mut, Weisheit, Voraussicht – hochhalten, sich am Ende nicht mehr trauen, „Merry Christmas“ zu wünschen. Daraus schließe ich, dass bei aller Prahlerei über die Überlegenheit unserer Werte durchaus Zweifel an der Zukunft und an der Legitimität des Anspruchs auf die Überlegenheit der westlichen Politik bestehen.

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Man muss nicht gläubig sein, es reicht aus, ein minimales Gespür für Geschichte zu haben, um zu wissen, dass unsere Zivilisation auf christlichen Fundamenten errichtet wurde. Das ist so offenkundig, dass selbst ich, einer, der an die Auferstehung nicht glaubt, mich schämen würde, es zu erwähnen, würde es nicht so oft negiert oder übergangen, als wäre es eine Peinlichkeit, wie eine Erinnerung an einen vergangenen Fehltritt. Wer das Christentum bereut oder verachtet, der bereut und verachtet die westliche Zivilisation. Der auf vermeintlichen rationalen Überlegungen beruhende Unglaube kann die Verneinung der Wichtigkeit des Christentums nicht entschuldigen.

Doch keine Zivilisation, die eine so lange Geschichte hat wie die westliche, kann seine Fundamente verlassen, ohne dass davon etwas übrigbliebe, in diesem Falle eine ziemlich pervertierte Anwendung der christlichen Gebote von Vergebung und Erlösung. Ein recht frisches Beispiel mag erhellen, was ich meine.

Ein 29 Jahre alter Mann, Chérif Chekatt, geboren in Straßburg, marokkanischer Abstammung, erschoss vier Menschen und verletzte viele andere auf dem dortigen Weihnachtsmarkt (oder sollen wir lieber Wintermarkt sagen, wie inzwischen üblich?). Während er seine Verbrechen beging, brüllte er den bekannten Schlachtruf „Allahu Akbar“. Er konnte zunächst fliehen, wurde aber wenige Tage später selbst von der Polizei erschossen.

Es stellte sich heraus, dass er 27mal wegen – unter anderem auch gewalttätigen – Straftaten verurteilt wurde, die er in Frankreich, Deutschland und der Schweiz begangen hatte. Just an dem Morgen, an dem er seine Bluttat auf dem Markt beging, sollte er wegen versuchten Mordes verhaftet werden. Wie für viele andere war auch für ihn die Religion die Fortsetzung von Verbrechen mit anderen Mitteln, um Clausewitz etwas abzuwandeln.

Die erstaunliche Karriere des Chérif Chekatt

Der einfache Bürger könnte jetzt fragen, warum sich dieser Mann überhaupt auf freiem Fuße befand. Wenn wir von der vorherrschenden niedrigen Rate der entdeckten Verbrechen ausgehen, können wir annehmen, dass Chérif Chekatt mindestens fünfmal so viele Verbrechen begangen hatte, als die, für die er verurteilt wurde. Das wären mindestens 135 Straftaten. Man darf annehmen, dass er mindestens doppelt so viele Verbrechen begangen hat. Er demonstrierte mit allergrößter Klarheit, dass er kein gutes Mitglied der Gesellschaft ist.

Ich mache hier einige Annahmen: Nehmen wir an, dass er 15 Jahre alt war, als er zum ersten Mal verurteilt wurde, was bedeuten würde, dass seine kriminelle Karriere etwa 14 Jahre lang gedauert hat. Das wiederum würde heißen, dass er bis zu seinem Tode durchschnittlich zweimal im Jahr verurteilt wurde. Wir können deshalb annehmen, dass er etwa zwei Drittel dieser 14 Jahre, also fast zehn Jahre, im Gefängnis verbracht hat. Umgekehrt bedeutet das, dass er bei jeder Verurteilung (es geht hier wohlgemerkt nicht um seine Verbrechen, denn die waren definitiv zahlreicher als seine Verurteilungen), die er nicht gerade für Kleinigkeiten erhalten hatte, etwa vier Monate im Gefängnis verbracht hat.

Diese Geschichte weist auf eine Gesellschaft hin, die kein Vertrauen mehr zu sich selbst hat (ich denke hier an ganz Westeuropa – denn alle Länder verhalten sich so). Sie glaubt nicht mehr daran, dass sie das Recht hat, von ihren Bürgern Gesetzestreue zu verlangen, sie traut sich nicht, gegen wiederholte Rechtsverstöße vorzugehen, egal wie schwerwiegend diese auch sein mögen. Offensichtlich werden Verstöße gegen obskure Regulierungen viel ernster genommen als Verstöße gegen die grundlegendsten Gesetze.

Schuld an Verbrechen ist immer die Polizei?

Warum ist das so? Einen Hinweis findet man in einer Schilderung des Guardian von Chérif Chekatt, nachdem er von der Polizei erschossen wurde. (Der Guardian wird von der linksliberalen Elite Großbritanniens geradezu verehrt.)

Chekatt wurde in Straßburg im Februar 1989 in einer Familie mit marokkanischen Wurzeln geboren, und scheint zunächst ins kleinkriminelle Milieu und dann in Gangsterkreise geraten zu sein.

Man beachte das „geraten zu sein“. Er hat nicht beschlossen, Kleinkrimineller und Gangster zu werden. Mit anderen Worten, er scheint Opfer von irgendeiner sozialen Gravitation geworden zu sein, die ihn dazu drängte, zu stehlen, zu rauben, Überfälle zu verüben, und so weiter. Er war kein Mann, sondern viel weniger als das – denn wie man ein Chamäleon nicht verurteilen kann, weil es seine Farbe wechselt, oder ein Krokodil, weil es Fleisch frisst, so kann man offensichtlich auch ihn nicht verurteilen.

Im Weiteren heißt es:

Am Morgen des Straßburger Attentats hätte er verhaftet werden sollen wegen versuchten Mordes im Zusammenhang mit einem bewaffneten Raubüberfall, der schiefgegangen ist.

Welch eine Tragödie! Wäre bloß der bewaffnete Raubüberfall nicht schiefgegangen, das heißt, wenn Chekatt und seine Mittäter ihren bewaffneten Raubüberfall ohne Mordversuch hätten zu Ende führen können, hätten die Straßburger Ereignisse gar nicht stattgefunden. Schuld war eindeutig die Polizei.

Verantwortliche nehmen an, dass die Aussicht auf eine weitere Gefängnisstrafe den Angriff auf den Weihnachtsmarkt einige Stunden später ausgelöst haben könnte.

So wäre es besser gewesen, Chekatt zu Hause in Ruhe zu lassen und sich nicht in den bewaffneten Raubüberfall einzumischen; und hätte man so gehandelt, könnten die Opfer des Angriffs auf den Weihnachtsmarkt heute noch unter den Lebenden sein.

Der Artikel beginnt mit einer überraschenden Erklärung:

Sie (gemeint sind Leute wie Chekatt) leben unter dem Radar der Geheimdienste oder befinden sich auf Beobachtungslisten wegen ihren radikalen religiösen Ansichten und werden in verschiedenem Maße beobachtet – aber man nimmt nicht an, dass sie gewalttätig werden würden.

Das heißt, die früheren Aktivitäten von Chekatt – Körperverletzung, bewaffneter Raub, Mordversuch, und so weiter – sind nicht wirklich gleichbedeutend mit Gewalt. Sie sind nur Symptome von Armut, Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen; denn das sind die beliebtesten Erklärungen der Leser des Guardian und ihrer Entsprechungen in den anderen westlichen Ländern.

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Der Artikel zeigt die typische soziologische Denkart, die Intellektuellen erlaubt, den christlichen Geboten zu gehorchen und sich entsprechend zu verhalten: „richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, und „liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen“, und „wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ – alles natürlich ohne den religiösen Zusammenhang, der durch und durch verachtet und zurückgewiesen wird. Diese Intellektuellen würden der Idee wütend widersprechen, dass sie von der christlichen Ethik – in welch pervertierten Art auch immer – inspiriert worden seien. Doch eine religiöse Doktrin, die über so viele Jahrhunderte hindurch galt, kann nicht spurlos verschwinden. Diese Intellektuellen wollen in den Augen von Kollegen und von Anhängern des soziologischen Glaubens als die Guten erscheinen und sich von jenen Ungläubigen unterscheiden, die Leute wie Chekatt einfach nur verurteilen, statt sie zu verstehen und mit ihnen zu sympathisieren.

Hilft Strafe statt soziologischer Sentimentalität?

Es war fast unvermeidlich, dass Chekatt von der Polizei erschossen wurde. Wäre man ihm in früheren Stadien seiner Karriere mit Festigkeit begegnet, wie es sowohl der gesunde Menschenverstand als auch das Recht nahelegen, statt mit der soziologischen Sentimentalität, die unser Strafrecht zu Grunde richtet, könnten er und die Menschen, die er umgebracht hat, heute noch leben. Und es wäre uns auch der Anblick erspart geblieben, wie schwarz gekleidete Polizisten mit schwarzen Gesichtsmasken einer Armee von Eroberern gleich durch die Straßen von Straßburg ziehen.

Die Sicherheitsdienste werden bestimmt kritisiert werden, weil sie nicht verhindern konnten, dass Chekatt dieses letzte seiner Verbrechen begeht. Er war schließlich auf dem „Fichier des Signalements pour la prévention et la radicalisation à caractèreterroriste“, das heißt, es war bekannt, dass er zu Terrorismus neigte. Doch er hätte niemals bekannt sein und beobachtet werden müssen, wenn man ihn wegen seiner früheren Taten lange genug ins Gefängnis gesperrt hätte. Nur in einer Gesellschaft, in der selbst Traditionalisten Angst davor haben, ihren Mitmenschen Merry Christmas zu wünschen oder gar davor, überhaupt noch von Weihnachten zu sprechen, konnte er in Freiheit verbleiben. Die christliche Ethik ist degeneriert – von ihr ist auf dem Weg durch Soziologie, Psychologie und Kriminologie nur noch Feigheit übriggeblieben.


Der Brite Theodore Dalrymple arbeitete als Gefängnisarzt und Psychiater, er ist inzwischen im Ruhestand. Der Essayist ist Autor vieler erfolgreicher Bücher und Redakteur des City Journal of New York. Sein wichtigstes Thema ist die Selbstzerstörung des Westens und sein Abschied von seiner Kultur.