Tichys Einblick
Soll man mit Neonazis reden?

Wie Medien Demokratie an ihrer eigenen Angst ersticken

Eine Podiumsdiskussion des Mitteldeutschen Rundfunks zu „Chemnitz – ein Jahr danach“ findet nicht statt. Auch ein Neonazi sollte teilnehmen. Nach Protesten dagegen sagt der Sender die ganze Veranstaltung ab. Schlimmer kann man der freiheitlichen Gesellschaft kaum schaden. Ein Essay on Alexander Fritsch.

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Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen.
Es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.

(Deutsches Volkslied)

Prolog

Wenn es um Verbote geht, sind die Vereinigten Staaten von Amerika ein ziemlich schrulliges Land.

Es gibt dort Gegenden, in denen man in einem ganz normalen Supermarkt zwar Handfeuerwaffen kaufen darf – aber keine Kondome. Sex wird für wesentlich gefährlicher gehalten als Gewalt.

Auf der anderen Seite ist dem Durchschnittsamerikaner neben dem Dollar nichts so heilig wie die Redefreiheit. Diese (aus der Perspektive des Kontinentaleuropäers tendenziell schizophrene) Haltung führt dazu, dass in den USA Frauen zwar keinesfalls öffentlich ihre Brüste zeigen dürfen – aber dafür darf jeder dort tatsächlich praktisch alles öffentlich sagen und schreiben, was er will.

Die Frage „Soll man mit Neonazis reden?“ würde ein US-Amerikaner deshalb vermutlich – wenn er sie überhaupt verstünde – mit einer Gegenfrage beantworten:

Warum nicht?

I. Das Private und das Mediale

Für Privatmenschen gibt es geradezu unendlich viele Argumente, nicht mit Neonazis zu reden. Einige sind gut, einige nicht so gut – aber unterm Strich spielt das keine Rolle: Denn als Privatmensch braucht man gar kein Argument, wenn man nicht mit jemand anderem reden will. Man tut es einfach nicht, wenn einem nicht danach ist. Und dafür muss man sich auch nicht rechtfertigen. So ist das in einem freien Land, zum Glück.

Für Medien ist das nicht so einfach.

Fast alle Argumente aus dem privaten Bereich („Neonazis kann man nicht überzeugen, mit Neonazis ist kein Dialog möglich, Neonazis sind doof, …“) – mögen sie auch noch so stimmen – sind im medialen Kontext irrelevant. Medien berichten nicht nur über Menschen, die man überzeugen kann, sonst gäbe es praktisch kein einziges Politikerinterview. Medien berichten nicht nur über Menschen, mit denen ein Dialog möglich ist, sonst wäre nie ein Gespräch mit einem Investmentbanker veröffentlicht worden. Medien berichten nicht nur über Menschen, die nicht doof sind, sonst gäbe es RTL 2 nicht.

Für Medien gibt es deshalb überhaupt nur ein relevantes Argument, nicht mit Neonazis zu reden: Man solle Neonazis „keine Plattform“ zur Verbreitung ihres menschenverachtenden Gedankenguts bieten.

Die Frage ist: Wie gut ist das Argument?

Um jedem (naiven oder böswilligen) Missverständnis vorzubeugen: Neonazi-Gedankengut ist menschenverachtend. Kein „Aber“, keine Relativierung – einfach nur: Punkt. Es geht ausdrücklich nicht um den Inhalt des Gedankenguts. Es geht um seine mediale Behandlung.

Und das heißt: Wer diesem Gedankengut „in den Medien“ keine Plattform bieten will, auf dass es sich nicht weiterverbreiten möge, muss die Frage beantworten, ob es die Aufgabe „der Medien“ ist, die Verbreitung irgendeines Gedankenguts zu verhindern (oder auch zu befördern).

Meine Antwort: Nein, ist es nicht.

Diese Antwort sollte erklärt werden. Dabei hilft es, sich zunächst über den Begriff zu einigen. Mit „den Medien“ sind hier nicht die Sozialen Netzwerke gemeint: nicht Facebook, nicht Twitter, nicht Instagram, nicht Snapchat, nicht YouTube. Hier geht es nicht um Kanäle, auf denen mehr oder weniger Privates verbreitet wird (auch wenn diese Kanäle Abermillionen Menschen erreichen können). Hier geht es um professionelle Anbieter von systematisch journalistisch aufbereiteten Inhalten: um TV-Sender, um Radiostationen, um Zeitungs- bzw. Zeitschriftenverlage und um gewerbsmäßig publizistische Online-Portale.

In Deutschland mit seinem dualen System aus öffentlich-rechtlichen Anstalten und privaten Medienhäusern steht am Anfang ein besonderer Aspekt: Wenn private Medienunternehmen sich dazu entschließen, nicht mit Neonazis zu reden, ist das aus den hier beschriebenen Gründen abzulehnen. Aber wem das missfällt, der muss die betreffenden Medienprodukte zumindest nicht kaufen. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die jeder Haushalt zwangsweise mitfinanziert, haben dagegen definitiv eine Informationspflicht gegenüber allen Bürgern.

Das schließt die Tabuisierung von Berichtsgegenständen aus.

Die Medien – in diesem publizistischen, journalistischen Sinn, öffentlich-rechtlich und privat – sind in unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft nicht Teil eines Volkserziehungsprojekts. Sie haben keinen pädagogischen Auftrag. Um es mit Berlins früherem Regierenden Bürgermeister Wowereit zu sagen: „Und das ist auch gut so.“ Denn wo Journalismus sich irgendeiner Mission verpflichtet fühlt, wird er zu Propaganda.

Das ist dann ziemlich genau das Gegenteil dessen, wozu freie Medien in einer Demokratie gebraucht werden: für eine möglichst nüchterne, möglichst unparteiische Tatsachenbeschreibung. Journalisten sollen nicht belehren. Das Publikum kann sich sein Urteil selbst bilden.

Auch über Neonazis.

In Journalistenkreisen – längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand – hört man dagegen gerne, dass das Publikum (wahlweise auch „das Volk“) im Schnitt einfach zu dumm sei, um die Dinge richtig sehen und sich selbst ein vernünftiges Urteil bilden zu können. Deshalb dürften die Medien ihrem Publikum eben nicht alle Tatsachen präsentieren, sondern müssten Leser, Hörer und Zuschauer vor den schlimmsten Auswüchsen schützen. Ansonsten sei die Gefahr zu groß, dass vor allem die sogenannten einfachen Leute auf dumpfe, aber wohlklingende Parolen hereinfielen und z. B. Neonazi-Rattenfängern hinterher liefen.

Ja, geht’s noch?

Das ist übler Bildungsdünkel, abstoßender Hochmut, undemokratische Arroganz. Unser Gemeinwesen fußt auf der Idee der politischen Gleichwertigkeit aller Bürger. Deshalb sind Wahlen bei uns nicht nur frei und geheim, sondern auch allgemein und gleich. Bürger wählen selbst, denken selbst und urteilen selbst. Die Medien sind keine geistigen Fürsorgeämter für Bürger. Niemand hat Journalisten den Auftrag erteilt, für die Bürger festzulegen, was gefährliches Gedankengut ist und was nicht. Niemand hat Journalisten darum gebeten, die Bürger vor gefährlichem Gedankengut zu schützen.

Das wirft freilich eine andere Frage auf: Wenn nicht die Medien die Bürger, die Gesellschaft (also uns) vor gefährlichem Gedankengut (z. B. von Neonazis) schützen – wer soll es dann tun?

II. Das Denken und das Tun

Die Antwort ist: niemand.

Schutz gibt es immer nur vor Taten, nie vor Ideen. Wir unterscheiden nicht mehr genug zwischen Handlungen einerseits und Gedanken andererseits (oder Worten – denn das sind auch nur gesprochene oder geschriebene Gedanken).

Das ist eine fatale Neigung.

Zum einen ist es ein – wie die Philosophen sagen – „Kategorienfehler“. Gedanken und Handlungen sind nicht zwangsweise verknüpft. Aus einer Idee wird nicht automatisch eine Tat. Das weiß jeder, der in der Silvesternacht mit guten Vorsätzen fürs neue Jahr ins Bett geht und sich dann spätestens im Februar darüber wundert, dass irgendwie schon wieder nichts draus geworden ist.

„Pogrome beginnen im Kopf“, hat der frühere liberale Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Burkhard Hirsch, einmal gesagt. Das ist zwar richtig. Aber sie werden dort nicht real. Deshalb sollten sie dort auch nicht bestraft werden. (Mal ganz abgesehen von der Frage, wie totalitär und faschistoid ein System sein müsste, um „gefährliche“ Gedanken auszumerzen bzw. gar nicht erst zuzulassen?)

Zum anderen baut unsere Kultur auf dem Konzept des spekulativen Denkens auf: Spätestens seit der Aufklärung lehnen wir intellektuelle Tabus ab. Alles, im Wortsinn, ist denk-bar. Es gibt keine ewigen Gewissheiten. Wahrheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess: Die neue Erkenntnis ersetzt die alte.

Das klappt nur, wenn tatsächlich auch alle Gedanken barrierefrei zirkulieren können. Am gesamtgesellschaftlichen Austausch von Ideen und Meinungen müssen alle teilnehmen können – unabhängig davon, wie abwegig oder absurd oder widerlich manche auch sein mögen. “Alle guten Ideen sehen auf den ersten Blick wirklich dämlich aus. Das Problem ist, dass auch alle wirklich dämlichen Ideen so aussehen.“ (Cantlin Ashrowan

Natürlich ist es nicht nur richtig, sondern für ein zivilisiertes Zusammenleben absolut nötig, Handlungen zu reglementieren: Wenn jeder tut, was er will – ohne jede Rücksicht auf den jeweils Anderen – bricht die Gesellschaft auseinander. Ebenso natürlich ist es für eine aufgeklärte Gesellschaft nötig, Gedanken ausdrücklich nicht zu reglementieren. Wenn nicht jeder denken darf, was er will, können wir das mit der Zivilisation zügig vergessen.

Wer fordert, dass mit Neonazis nicht geredet werden dürfe, tut aber genau das: Er will nicht nur Taten verbieten, sondern Ideen. Unabhängig von konkreten Handlungen will er bestimmte Gedanken nicht zulassen, für unerwünscht und unzulässig erklären.

Woher kommt diese Neigung?

III. Das Verbieten und die Faulheit

Gedanken verbieten zu wollen, ist immer ein Zeichen von Faulheit.

Denkfaulheit. Argumentationsfaulheit. Verteidigungsfaulheit. Letztlich: Aufklärungsfaulheit. Mit einer verbotenen Idee muss man sich nicht auseinandersetzen. Zu einer verbotenen Idee muss man keine Gegenargumente suchen, um sie zu widerlegen. Über eine verbotene Idee muss man nicht nachdenken.

Das ist am Anfang angenehm und am Ende tödlich.

Denn je konsequenter und länger eine Idee sozusagen in Quarantäne genommen wird, desto mehr verlernen wir, uns gegen sie zu behaupten. Wir werden bequem und gewöhnen uns daran, dass die Idee keine Gefahr darstellt – sie ist ja verboten. Wir verlieren jede Widerstandsfähigkeit gegen die Idee, weil wir uns gegen sie gar nicht wehren und uns vor ihr gar nicht schützen müssen – sie ist ja verboten.

Aber das ist ein Irrtum. Gedanken verschwinden nicht, nur weil sie verboten sind. Neonazi-Ideen verschwinden nicht, nur weil man nicht mit Neonazis redet. Irgendwann tauchen sie immer wieder auf. Und zwischenzeitlich haben wir dann schlicht verlernt, uns gegen sie zu wehren.

Wer will, dass die Medien nicht mit Neonazis reden, der hilft dabei, dass die Gesellschaft aus purer Denkfaulheit vergisst, weshalb Neonazi-Ideen inakzeptabel sind.

Epilog

Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man frei von Meinung ist.

Unsere Gesellschaft lebt vom Widerstreit der Meinungen – und mögen sie noch so abstrus und abwegig und extrem sein. Das Verbieten einer Meinung führt nicht dazu, dass sie verschwindet. Wenn man verhindern will, dass aus einer extremen Meinung eine inakzeptable Handlung wird, dann tut man das am besten dadurch, dass man die Gegenmeinung mehrheitsfähig macht.

Wir schützen die offene, freiheitliche Gesellschaft nicht dadurch, dass wir den pluralistischen Diskurs weniger offen und unfreier machen. Wer das tut, misstraut dem Denken.

Wir retten die Aufklärung nicht dadurch, dass wir sie verraten.


Alexander Fritsch, 52, lebt als freier Publizist in Berlin.

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