Tichys Einblick
Die Doppelmoral der Linken

„Wenn Zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht das Gleiche“

Könnte es vielleicht doch so sein, dass vor der Beurteilung von Geschehnissen immer erst die Leninsche Frage „Wem nutzt es?“ beantwortet werden muss. Zum besseren Verständnis hatte der Guru aller Linken noch hinzugefügt: Alles, was der Durchsetzung des Sozialismus dient, ist moralisch.

Sehnsuchtsfigur der Linken: Der sowjetische Diktator Lenin (Archivbild 2011)

imago images / IPON

Die Moral westlicher Protestbewegungen linker Provenienz war immer schon eine geteilte. So zog man in den späten 60er und folgenden 70er Jahren lautstark gegen den US-Imperialismus und den Vietnam-Krieg durch die Straßen, ohne auch nur einen Gedanken an die ach so nahen Morde an der innerdeutschen Grenze oder den Terror gegen Andersdenkende im gesamten kommunistischen Machtbereich zu verschwenden.

Ebensowenig erregten die Massenmorde der Roten Khmer, denen über zwei Millionen Menschen in Kambodscha zum Opfer fielen, oder rief die gewaltsame Ausschaltung der Mittelschichten im endlich kommunistisch gewordenen Süd-Vietnam auch nur einen Moment der Rührung hervor. Nichts hat sich bis heute an dieser moralischen Ambivalenz geändert. Der gewaltsame Tod eines Farbigen in den USA ruft Hunderttausende weltweit zu Protesten.

Der Tod eines jungen Demonstranten in Minsk vor wenigen Tagen ist im gleichen Moment so unbedeutend, wie ein leichter Regenschauer am Nachmittag. Wo sind eigentlich die Mahnwachen und Menschenketten vor den Botschaften Weißrusslands und seines Beschützers Russland? Man wird sie auch weiter vergeblich suchen.

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Wo bleibt der Aufschrei des Gewissens, wenn in Hongkong das geistige Leben einer Stadt mit eiserner Faust zerquetscht wird? Warum sind nun wirklich totalitäre Staatsführer wie Chinas KP- Chef Xi oder Vladimir Putin nicht mindestens ebenso Zielscheibe der Empörung wie der amerikanische Präsident Donald Trump? Man mag sein Frauenbild nicht mögen, auch nicht seine Begeisterung für Schusswaffen und oftmals grobschlächtiges Auftreten. Aber eine freie Presse mit fast ausschließlich kritischer Haltung zum Präsidenten sowie ein funktionierender Rechtsstaat kennzeichnen die USA immer noch. Auch bedroht Trump im Gegensatz zu Moskau und Peking seine Nachbarn weder militärisch, noch hat Trump das Territorium anderer Staaten annektiert.

Man stelle sich nur vor, ein in Bedrängnis geratener Militärdiktator würde die Hilfe Trumps zur Niederschlagung der Opposition herbeireden, und dieser würde auch Bereitschaft signalisieren. Innerhalb weniger Stunden wären die Straßen voller Ankläger des Mannes im Weißen Haus. Doch jetzt, wo das gleiche Szenario von Lukaschenko und Putin mit Blick auf Weißrussland durchgespielt wird, herrscht auf der sonst so „empfindsamen“ Linken Grabesruhe.

Könnte es vielleicht doch so sein, dass vor der Beurteilung von Geschehnissen immer erst die Leninsche Frage „Wem nutzt es?“ beantwortet werden muss. Zum besseren Verständnis hatte der Guru aller Linken noch hinzugefügt: Alles, was der Durchsetzung des Sozialismus dient, ist moralisch. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es längst noch nicht das Gleiche. So einfach ist das! Die Betroffenheit auf der Linken ist heuchlerisch, scheinheilig und zynisch. Aber auch die Reaktion des Westens, insbesondere der Europäer auf die Tragödie von Minsk spricht Bände. Ist Trumps Politik „abenteuerlich und friedensgefährdend“ , ruft man Moskau und Peking stets zur Mäßigung und zum Dialog auf. Im Bezug auf Deutschland lässt sich schon längst nicht der Verdacht von der Hand weisen, dass Handelsinteressen oder im Falle Russlands sich abzeichnende Abhängigkeiten – siehe Nordström 2 – das Verhalten begründen. Moral, Menschenrechte und Völkerrecht hin oder her. Ganz anders die Reaktion der baltischen Staaten und Polens. Diese Länder wissen genau warum sie Russland fürchten und wie wertvoll die Freiheit ist.

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Fast lustig mutet in diesem Zusammenhang die Vorstellung des Linkspartei-Spitzenfunktionärs Dietmar Bartsch an, der am Sonntag im Deutschlandfunk anstelle der sonst immer geforderten Auflösung der Nato deren Weiterentwicklung zu einem Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands vorschlug. Schließlich, so Bartsch, sei die Nato ein Relikt des Kalten Krieges, der ja überwunden sei. Wie treuherzig der einst in Moskau geschulte alte SED-Fuchs doch daher redet. Er will vergessen machen, dass die Nato das Produkt eines fundamentalen Wertegegensatzes zwischen Freiheit und Unfreiheit ist – und das gilt bis heute.

Wer eine Mitgliedschaft Russlands in der Nato bei gleichzeitiger Mitgliedschaft der USA, welches ihr jeden Sinn nehmen würde, vorschlägt, führt nichts weniger im Schilde als deren Zerschlagung. Zugute kommt Leuten wie Bartsch die Geschichtsamnesie, die weite Teile unserer Gesellschaft mittlerweile kennzeichnet.

Bei all dem fällt nur der alte Schlager ein: „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo – und keiner weiß wohin …“

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